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Das Kosmische und das Gebet

Ausgabe 308

Foto: puijslab, Shutterstock

(iz). In seinem Buch 21 Lektionen für das 21. Jahrhundert schreibt der israelische Historiker Yuval Harari: „Selbst das gemäßigte Judentum behauptet steif und fest, der gesamte Kosmos existiere nur, damit jüdische Rabbiner ihre heiligen Schriften studieren können, und sobald die Juden diese Praxis aufgäben, werde das Universum an ein Ende kommen. China, Indien, Australien und sogar die fernen Galaxien werden alle vernichtet, wenn die Rabbiner in Jerusalem und Brooklyn nicht mehr über den Talmud diskutieren. Das ist ein zentraler Glaubensartikel orthodoxer Juden, und jeder, der ihn in Zweifel zu ziehen wagt, gilt als unwissender Narr.“

Selbstredend sieht der Atheist Harari diese Haltung skeptisch, ja mit Belustigung; wenige Zeilen später nennt er sie ein „wichtigtuerisches Narrativ“. Doch überlegen wir einmal, was für sie spricht: nicht für den jüdischen Exzeptiona­lismus, aber für die Exzeptionalität des Gebets.

Wir leben im Zeitalter der Naturwissenschaft. Seit dem 18. Jahrhundert hat der Mensch die erfassbare Struktur der gegenständlichen Welt in einer Breite und Tiefe durchdrungen wie nie zuvor. Die sichtbare Welt wurde in immer mehr Einzelheiten definiert und kategorisiert. So weiß man etwa heute, dass der menschliche Körper aus 100 Billionen Zellen besteht, jede Zelle wiederum aus 10 Billionen Atomen. Ein einzelner Mensch allein besteht also aus 1028, in Worten: zehn Quadrilliarden Atomen. Und es gibt bald acht Milliarden Menschen auf dem Planeten Erde. Und der Mensch ist nur eine Art von Lebewesen unter zahllosen, zwischen dem einen winzigen Bakterium hier und einem ­gigantischen Blauwal dort.

Die Sonne wiederum, die von unserer Erde umkreist wird, ist nur einer unter Hunderten Milliarden Sternen unserer Galaxie, der Milchstraße. Und die Milchstraße wiederum nur eine unter Hunderten Milliarden Galaxien im Universum. Im „sichtbaren Universum“, wohlgemerkt.

Diese Größenordnungen lehren vor ­allem eines: die ungeheure Hilflosigkeit des Menschen gegenüber seiner physischen Dimensionalität. Dass es seit dem 20. Jahrhundert – vor allem, aber nicht ausschließlich in der westlichen Welt – zu einem Rückgang der Religiosität kam, hängt weniger mit dem Fortschritt in der Wissenschaft zusammen, als mit dem Fortschritt der Wirtschaft und der ­Hebung der Lebensbedingungen in aller Welt. „Die ungestüme Presserin, die Not“, von der Schiller sprach und die kulturgeschichtlich als Hauptmotor von Religiosität gilt, ist heute seltener fühlbar als in Zeiten, da Hungersnöte und Kriege zum Normalzustand gehörten, und zwar überall auf der Erde. Die Gründe, aus unmittelbar erfahrener Not zu beten, werden zwar niemals weniger, aber sie sind seltener geworden.

Die Gründe, um des Kosmos willen zu beten, werden dagegen vielleicht häufiger, und zwar mit jedem Stück Wissen über den Kosmos, was wir hinzuer­werben. Das Baumhaus im Urwald, die eiszeitliche Höhle mögen behagliche Heimstätten gewesen sein – das „Raumschiff“ Erde ist es, kann es nicht mehr sein. Wir wissen zu viel, um uns auf der Erde noch heimisch zu fühlen.

Eine tiefe Melancholie umgibt daher insbesondere neuere Science-Fiction-Filme. Düstere wie „The Midnight Sky“ von George Clooney, aber auch heitere wie Passengers von Morten Tyldum. „Geworfenheit“ als anthropologisch-existenzielle Grundbestimmung hat durch die kosmologische Selbstverortung des Menschen im 20. Jahrhundert eine neue Bedeutung erhalten. Die onto-mathematische Definition des Menschen als „Nullpunkt zwischen zwei Unend­lichkeiten“, die den französischen Philosophen Blaise Pascal im 17. Jahrhundert einst schockierte, wird durch die Erkenntnisse der Astronomie, der Geologie, der Mikrobiologie von heute tagtäglich beglaubigt. Der Mensch, ein Gesicht von Sand, un peu de poudre – mehr nicht.

Diese Dimension vor Augen, erscheint es schon weit weniger wichtigtuerisch, im Talmudstudium jüdischer Gelehrter – und das heißt: im Beten zu einer ­höheren, überweltlichen Macht – einen Faktor zu erkennen, der für den Erhalt des Weltganzen wesentlich sei. Denn was ist wesentlich? Das Tun des Menschen als Teil der physikalischen Welt, als res extensa in den Begriffen Descartes, ganz sicher nicht. Jeder Gammablitz, abgestrahlt von einer fernen Supernova, jeder Asteroid könnte uns „Erdlingen“ den Garaus machen, und wenn sie es nicht können, dann eine winzige Veränderung des Sonnenorbits, die die Erdatmosphäre und damit unsere ökologischen Lebensgrundlagen schlagartig und fatal verändern würde.

Lächerlich gering nehmen sich demgegenüber eigentlich die Risiken aus, die sich aus dem menschengemachten Klimawandel ergeben. Und lächerlich unzulänglich die techno­logischen, der Natur entlehnten Fähigkeiten, die wir einer wirklichen kosmischen Katastrophe entgegenzusetzen hätten. Aus ihrer Unzulänglichkeit wächst dem naiven, weltfremden Gebet eine Kraft zu, die vielleicht weit weltstützender ist als alle Technologie.

Ein Gebet ist immer eine Beschwörung. Man beschwört den Schöpfer dieser Welt, einen nicht in ihr untergehen zu lassen. Wer so betet, bittet nicht so sehr um Zeitaufschub, um die Postposition des Jüngsten Gerichts, als um eine Heimstatt, um die wärmende und beschränkte Hut eines Baumhauses, einer Eiszeithöhle. In te, Domine, speravi, non confundar in aeternum: Auf Dich, Herr, habe ich gehofft, dass ich nicht zerstreut werde in alle Ewigkeit.

Das aeternum, das Ewige ist im fotografisch reproduzierten, szientifisch ausgemessenen Weltall greifbar geworden. Das Ewige ist kein rein zeitlicher Begriff mehr, es wurde räumlich und anschaulich und dadurch bedrohlich. Das Gebet aber ist der uralte, ultimative Abwehrzauber gegen die Bedrohlichkeit des ewigen Raumes. Es schafft eine Ausnahme, einen exzeptionalen Raum, in dem das Gesetz des alles verschlingenden Kosmos nicht gilt. An seine Stelle setzt das Gebet die behagliche Allmacht des Schöpfers, unter dessen schützender Hand der unendliche Raum mit seinen unzuverlässigen Gesetzen auf ein Maß zusammenschrumpft, das für uns kleine ­Menschen wieder erträglich ist.