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Debatte: Eine Kritik orientalistischer Denkfehler (1)

Ausgabe 309

Foto: Gandalf’s Gallery, via flickr | Lizenz: CC BY-NC-Sa 2.0

Muslimmehrheitsstaaten wie die Türkei, Indonesien und Bangladesch sind staatsrechtlich gesehen säkulare Demokratien, die von westlichen Kommentatoren oft als Beispiele für „tolerante” Islaminterpre­tationen gelobt werden. Dabei basieren ­solche Faux-Komplimente auf dem alten rassistischen Vorurteil, Islam und Moderne seien unvereinbar.

(iz). Seit Jahren sind in den oben genannten drei Staaten Entwicklungen zu beobachten, die im Westen unter dem Label „Islamisierung“ zusammengefasst werden: Die ungebrochene Macht der islamisch geprägten AKP-Regierung in der Türkei, die den strikten Laizismus des Staatsgründers Mustafa Kemal auf den Prüfstand gestellt und in Teilen revidiert hat. Verschärfte kommunale Gesetzgebung ­bezüglich „unislamischem“ Verhalten im öffentlichen Raum, die sich in der Zunahme lokaler Alkoholverbote und exekutiver Kontrolle des weiblichen Körpers in Form von Kleidervorschriften für Frauen äußert, sowie zunehmende Gewalt gegen nichtsunnitische Muslime im südostasiatischen Indonesien. Zunehmende religiöse Orthopraxie in der ­öffentlichen Sphäre und ansteigender gewaltbereite Extremismus gegen religiöse Minderheiten wie Schi’a und Hindus sowie gegen selbsternannte „Atheisten“ im südasiatischen Bangladesch.

Dabei ist die Konnotation dieses homogenisierenden Islamisierungsslogans, der Gewalt und Frömmigkeit im selben Atemzug nennt, stets eine negative, da einerseits Religiösität – besonders in Bezug auf die islamische Welt – als antimodern empfunden wird und ­andererseits es den fahrlässig konstruierten kausalen Zusammenhang zwischen Islamisierung und gewaltbereitem Extremismus, wie es der hegemoniale westzentrische Diskurs zu erkennen glaubt, in einer solch absoluten Form nicht gibt.

Diesem westzentrischen Islam(isierungs)diskurs liegen fundamentale systemische Fehler und Irrtümer zu Grunde: – Die Kontinuität eines Eurozentrismus, der diesen hegemonialen Diskurs ausmacht, welcher auf Ideologie statt auf Erkenntnisgewinn basiert. – Die Fehlannahme, es handele sich bei der „Islamisierung“ in Muslimmehrheitsstaaten um ein Erwachen neuer Religiösität statt um ­­­Re-Islamisierungsentwicklungen und Entsäkularisierungsprozesse, die dem Schrumpfen der religiösen Sphäre geschuldet sind, wie es der französische Islamwissenschaftler Olivier Roy genannt hat. – Die Überschätzung der Wirkmächtigkeit des globalisierten Islams saudisch-wahabbitischer Prägung auf diese Re-Islamisierungsentwicklungen, da der Einfluss bereits bestehender lokaler Islamformen in den ­jeweiligen säkularen Staaten ausgeblendet wird. – Der kolonialrassistische Denkfehler, Säkularismus sei qua natura modern und Entsäkularisierung und Islamisierung qua ­natura antimodern.

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Im Folgenden möchte ich näher auf diese Punkte eingehen.

Während der palästinensisch-amerikanische Intellektuelle Edward Said primär für sein Hauptwerk „Orientalism“ bekannt ist, das den Kolonialrassismus westlichen Akademikertums bloßstellt, widmet sich sein im Zuge der islamischen Revolution im Iran 1981 ­erschienenes „Covering Islam: How the Media and the Experts Determine How We See the Rest of the World“ explizit der islamophoben Berichterstattung in den Medien.

In dem Buch stellte Said bereits zwei Jahrzehnte vor den Anschlägen des 11. Septembers 2001, die das ohnehin schon rassistische ­Islambild des Westens nachhaltig verschlimmerten, fest, dass US-amerikanische Medien dazu neigten, in ihrer Beschreibung und ­Bewertung des Nahen Ostens sich bewusst „hochgradig übertriebener Stereotypisierungen und aggressiver Feindseligkeit“ zu bedienen, sowie des „liberalen Gebrauchs von Verallgemeinerungen, die unmöglich zu ­verifizieren“ seien.

Als Hauptgrund für diese tendenziöse ­Hermeneutik US-amerikanischer im Besonderen und westlicher Forschung und Medien im Allgemeinen führte Said das Primat von Ideologie auf, das Fakten obsolet mache, und verwies auf das enge Verhältnis von Wissen und Macht sowie auf die eurozentrische Kontinuität der „Komplizenschaft zwischen ­Imperialismus und Ethnologie“, die sich in der westlichen Auseinandersetzung mit dem Islam und der arabischen/muslimischen Welt bemerkbar mache. Dies komme einer unvoreingenommenen Beschäftigung, die frei von politischer Subjektivität sei, mit diesem für den Westen „fremden“ Kulturraum nicht gerade entgegen.

Das Endresultat dieser kolonialrassistischen Komplizenschaft nach Said ist eine unseriöse Wissensproduktion und -distribution, die sich auch heute noch in den aktuellen Islam(ismus)diskursen wiederfindet: In ihnen geht es nicht primär um Wissenserweiterung und Erkenntnisdrang, sondern um das hegemoniale Kundtun der eigenen imperialen Meinung und der Konsolidierung der Vormachtstellung westzentrischer Diskurse. Diese fußen nicht auf kühlen Analysen, sondern ­lediglich auf analytisch anmutende, tollkühne und faktenfremde Meinungsmache.

Islam(ist)isch markierte Anschläge in west­lichen Staaten sind ein gutes Beispiel für die Entstehung und das Amplifizieren von inadäquaten bis falschen Interpretationen durch westzentrische Medien: Nach jedem terroristischen Vorfall durch einen sich als Muslim identifizierenden Täter ist die „Experten“­meinung einhellig: „Angriff auf unsere Werte und unseren freiheitlich-demokratischen ­Lebensstil“ ist stets der essenzialisierende ­Tenor dieser populistischen, als akademisch ver­packten McDrive-Analysen der westlichen Intelligentsia.

Dabei stellt sich niemand dieser meist weißen, nichtmuslimischen Kommentatoren die Frage, wie aus zeit ihres erwachsenen jungen Lebens säkular eingestellten Staatsbürgern plötzlich radikal-religiöse Staatsfeinde werden können: Stattdessen werden Verbrechen wie die der beiden Kouachi-Brüder Said und ­Chérif (die 2015 den Anschlag auf die Redaktionsräume von Charlie Hebdo verübten) oder — auf Deutschland bezogen — des ­gebürtigen Berliner Ex-Rappers und Ex-Gangmitglieds Deso Dogg (bürgerlich Denis Mamadou Cuspert), der sich im Syrienkrieg dem IS anschloss, ohne mit der Wimper zu zucken als ausschließlich kulturalistisch abgestempelt.

Auf diesem homogenisierenden Erklärungskonsens baut dann der gesamte Diskurs auf, der die heterogenen Beweggründe „radikalisierter“ Menschen muslimischen Glaubens einfach ausradiert und staatliche und gesellschaftliche Verantwortlichkeit komplett unter den Orientteppich kehrt.

Diese imperiale Basishaltung westlicher Medien zeichnet auch das Islamisierungsnarrativ bezüglich säkularer Muslimmehrheitsstaaten aus: Es ist auch hier einfacher und schneller, kulturalistisch zu argumentieren, anstatt die Gesamtheit der zusammenwirkenden Dynamiken herauszuarbeiten, zu kontextualisieren und zu unvoreingenommenen und fairen ­Bewertungen zu gelangen.