, ,

„Der islamische Kontext besteht schon lange“

Ausgabe 258

Foto: EMU Foundation

(iz). Ferid Muhic ist Autor und Professor der Philosophie an der St. Kyrill und Method Universität in Skopje. International lehrte er in Malaysia, den USA und Frankreich zeitgenössische Philosophie, Kulturanthropologie, Ästhetik und politische Philosophie. Sein Buch „Islamische Identität Europas“ erscheint nun in deutscher Erstausgabe. Wir sprachen mit ihm über die Lage, das Schicksal und die Identität der europäischen Muslime.
Islamische Zeitung: Gibt es – auch außerhalb des heutigen Kontextes, beispielsweise im Hinblick auf die Blütezeit des Balkans – eine Antwort auf die Frage der Identität und welche Bedeutung hat sie für uns Muslime?
Prof. Ferid Muhic: Die Frage der Identität, das persönliche Gefühl einer solchen, ist immer direkt mit der gesellschaftlichen Umgebung und der historischen Situation verbunden. Die Zeit, in der die Balkanregion als stabilster, friedlichster, administrativ geordnetster und ökonomisch fortschrittlichster Teil Europas galt, hielt über 300 Jahre an und wurde „Pax Ottomanica“ genannt. Dies war eine Periode sehr geregelter Beziehungen, das Imperium war mächtig. Es gab kaum Aufstände wie in anderen Teilen Europas, etwa die Bauernaufstände in Deutschland, Belgien oder auch Kroatien. In dieser Zeit war das Gefühl einer muslimischen Identität eingebettet in eine Umgebung, die eben dieses Gefühl ermöglicht hat und ihre Eigenschaften definiert hat. Interethnische und interkulturelle Beziehungen wurden durch das Millet-Konzept reguliert. So hatte jedes Volk seine eigenen ethnischen und religiösen Rechte. Dies verdeutlicht die Tatsache, dass während der 500-jährigen Herrschaft der Osmanen alle Völker auf dem Balkan ihre Gebetsstätten – von katholischen und orthodoxen Kirchen bis hin zu Synagogen – sowie ihre eigenen Sprachen erhalten haben. Montenegriner, Bulgaren, Griechen wie auch Roma.
Bezüglich der Roma sei zu erwähnen, dass nur jene, die im Territorium des Osmanischen Reiches lebten, ihre Sprache aufrechterhalten durften. Roma außerhalb des damaligen islamischen Herrschaftsgebietes kennen ihre Sprache nicht. Sie stehen jetzt vor dem Problem, diese wieder zurückzuerlangen und ihr sprachliches Erbe wieder ins Gedächtnis zu rufen. Die Toleranz im Osmanischen Reich war demnach außerordentlich. Dies hatte unter den Muslimen große Achtung und Respekt gegenüber anderen Religionen hervorgebracht, denn so hat man zusammengelebt. Nach den Balkankriegen und insbesondere nach dem Ersten Weltkrieg hat sich dies geändert.
Das ideologische Konzept der Nichtzugehörigkeit des Islam in Europa – der damals schon 600 Jahre lang auf dem Kontinent gelebt wurde – gewann immer größeren Einfluss und gab somit das Alibi für das Auslöschen jeglicher islamischen Spuren auf dem Territorium Europas und die Vertreibung der Muslime, die ebenso als nichteuropäisch, sondern als asiatisch und barbarisch betrachtet wurden. Natürlich war das Ziel – der Briten, Franzosen und Russen –, das Territorium zu besetzen. Der Zerfall Österreich-Ungarns und des Osmanischen Reiches gaben die Möglichkeit, das Gebiet als ein ursprünglich christliches zu rekonstruieren.
Somit änderte sich der Blick auf die Muslime und die muslimische Identität war nun mehr als unvorteilhaft, sie war ein Stempel, vergleichbar mit dem gelben Judenstern während des Holocausts. Alles Muslimische wurde vertrieben, ermordet, zwangs-christianisiert, schon in der ersten Phase der Herrschaft des serbischen Königs. Im deutschen Parlament protestierte man damals gegen die fürchterlichen Verbrechen, die an den Muslimen in Belgrad gerichtet verübt wurden.
Die muslimische Identität, auf die man stolz war, wurde innerhalb kurzer Zeit zu einer großen Gefahr. Aus Serbien wurden innerhalb von fünf Jahren 97% der Muslime vertrieben. Belgrad war 1809 zu 86 % muslimisch, wovon nur ein kleiner Teil türkisch war. Die meisten Bewohner waren muslimische Bosniaken. Diejenigen, die nicht fliehen konnten und sich weigerten, die christliche Religion anzunehmen, sind in Serbien auch heute noch bekannt als „Weiße Zigeuner“. Dies sind ursprünglich muslimische Bosniaken, die sich gegen den Zwang und die Vertreibung gestellt hatten und somit zu Nomaden wurden, die sich den Roma anschlossen.
Wir sehen also, dass die Identität, welche dem Individuum das Gefühl der Sicherheit, Zugehörigkeit, des gegenseitigen Respektes und der Harmonie mit seiner Umgebung verschaffte, innerhalb eines großen und mächtigen Imperiums, welches sich über drei Kontinente streckte, in nur kurzer Zeit zu einem Alarmsignal wurde. Es gab nur die Möglichkeit der zwangsweisen Änderung der Identität, der Emigration oder der Anpassung an das Leben der sogenannten „Weißen Zigeuner“.
Diese Politik wurde leider weitergeführt und die Muslime konnten sich nur in Österreich-Ungarn selbst erhalten. Jedoch war ihre nationale Identität ausgelöscht worden. Die bosnische Sprache war nicht mehr existent. Das Bosniakentum wurde völlig außer Acht gelassen, während Kroaten und Serben die „serbokroatische“ Sprache zugestanden wurde. Die Muslime wurden nur noch als religiöse Gruppe betrachtet.
Nach dem Zweiten Weltkrieg galten die Muslime in Bosnien als „nicht festgelegt“, denn es gab nur zwei offizielle Nationen – Kroaten und Serben. Die Muslime konnten nur entscheiden, zu welcher der beiden sie gehören wollten. Diese Situation dauerte bis 1972 an. Es wurde starke Propaganda betrieben, die Bosniaken als ehemalige Serben zu verstehen, die den Islam angenommen hatten, als hätte es das bosniakische Volk nie gegeben. Und selbstverständlich hätten diese Serben nur unter Druck den Islam angenommen. Doch diesen Druck hat es nie gegeben. Ich habe es schon oft gesagt: Es gibt nicht ein Dokument, welches besagt, dass während der osmanischen Herrschaft wie auch anderer islamischer Herrschaften in Europa, jemand unter Zwang zum Islam konvertiert ist.
Muslim zu sein bedeutete also in der jüngeren Geschichte des Balkans, ein Problem zu haben, denn man konnte sich gesellschaftlich weder national noch religiös definieren. Es gab den Versuch, „Muslime“ als Nation zu deklarieren, jedoch kann man religiöse Überzeugungen nicht einfach auf eine ethnische Zugehörigkeit übertragen. Dies würde keiner soziologischen Untersuchung und Kritik standhalten, da es schlichtweg keinen Sinn ergibt. Dennoch wurde die Situation der Muslime ein wenig erleichtert, als sie sich national als „Muslimani“ bezeichnen durften. Immerhin konnten sie sich nun bezüglich ihrer Religion identifizieren. Nach dem Bosnienkrieg, 1995, einigte man sich endlich auf den ursprünglichen nationalen Begriff – Bosniaken. Die religiöse Klassifizierung blieb bestehen, jedoch erlangten die Muslime ihre nationale Identität zurück.
Der Begriff „Bosniaken“ ist nicht, wie irrtümlich behauptet wird, eine neue Erfindung, sondern eine Rückkehr zum Ursprung. Das bosniakische Volk ist älter als das serbische und kroatische. Ihre Ansiedlung auf dem Balkan ist weit früher dokumentiert als die der Südslawen (Kroaten und Serben), noch vor dem siebten Jahrhundert.
Ein weiteres Volk kämpft noch mit einer Stigmatisierung, die Pomaken. Das Wort trägt die Bedeutung, abgekommen zu sein, nämlich – der schlimmsten, alt-serbischen Ideologie zufolge – vom „echten“, „urgroßväterlichen“ Glauben abgekommen zu sein. Der Terminus sollte vermieden werden, obgleich er soziologisch etabliert ist, da er in westeuropäischen Sprachen keinerlei Bedeutung hat, also „low-contextual“ ist, während er in den slawischen Sprachen „high-contextual“ und disqualifizierend ist. Der „Pomak“ – der Abgekommene – ist nicht dort, wo er sein sollte, ist also ein Verräter, ist beeinflussbar.
Die autochthone europäisch-muslimische Identität hat sich in den letzten 600 Jahren einem steten Wandel unterzogen. Das Muslimische wurde immer stärker betont, sodass beispielsweise viele dem Irrtum unterliegen, das Bosniakische sei gleich dem Muslimischen. Bosniaken können, ähnlich wie Albaner, orthodox, katholisch, muslimisch oder atheistisch sein. Da die Religion Privatsache ist, sollte sie nicht in Verbindung mit der nationalen Zugehörigkeit stehen. Dies wäre also der historische Kontext, in welchem wir die Identität, im Hinblick auf den Balkan, verstehen sollten.
Islamische Zeitung: Welche Bedeutung haben die Erfahrungen der autochthonen Muslime des Balkans für das heutige Europa?
Prof. Ferid Muhic: Sie sind durchaus bedeutend. Sie sind ebenso wertvoll und bedeutend wie auch die Erfahrungen der autochthonen Christen, Juden und anderen Religionsgemeinschaften Europas. Denn keine der drei monotheistischen Religionen ist in ihrem Ursprung europäisch. Keine Gemeinschaft hat das Recht, sich als Gastgeber zu sehen und die anderen als Gäste. So kann auch keine von ihnen den anderen ihre Rechte und Pflichten diktieren. Sie alle sind gleichberechtigt.
Islamische Zeitung: Schalten sich die Muslime Bosniens, Albaniens oder Bulgariens genug in die Debatten um den Islam ein, als Beweis für den Islam in Europa? Werden ihre Stimmen ausreichend gehört?
Prof. Ferid Muhic: Ihre Stimmen werden durchaus gehört, jedoch bei Weitem nicht genug. Ich denke, erst, wenn es nicht mehr notwendig ist, ihre Stimmen zu hören, werden sie ausreichend gehört worden sein. Mein Verständnis eines wahrhaft demokratischen Europas – wenn es denn multiethnisch und multireligiös sein soll – ist ein solches, dass es erst dann seine Probleme gelöst hat, wenn die Fragen der religiösen und ethnischen Zugehörigkeit überhaupt nicht mehr gestellt werden. Erst wenn dies völlig irrelevant wird, und weder vorteilhaft noch negativ behaftet ist, hat sich das Problem erledigt. Solange also die muslimischen Stimmen gehört werden müssen, so lange haben wir die Sache nicht gelöst.
Beispielsweise gibt es keinerlei Grund, die christlichen Stimmen zu Wort kommen zu lassen. Der Status der Christen ist geklärt. Es wäre absolut absurd, den Christen die Frage zu stellen, was sie in Europa suchten. Das wäre katastrophal, niemand würde auf die Idee kommen. Doch fragt man ungehemmt, was denn die Muslime in Europa verloren haben. Dabei ist ihr Status doch derselbe. Sie haben gleichermaßen ein Recht darauf, europäische Identität zu kreieren. Wenn also diese Message angekommen ist und sich niemand mehr diese Fragen stellt, wird die muslimische Stimme in Europa angenommen worden sein und das muslimische Leben hier zu einer Selbstverständlichkeit. Die Stimmen müssen also gehört werden, aber nur zu dem Zweck, wieder in Ruhe verstummen zu können.
Islamische Zeitung: Können Sie uns konkrete Beiträge der erwähnten muslimischen Völker nennen?
Prof. Ferid Muhic: Es sind unzählige. Man schaue allein auf den Wert der Toleranz als staatliche Verpflichtung, den der Islam nach Europa brachte. Die Charta von Medina wird unzureichend gewürdigt. Als erstes Dokument, über 1100 Jahre vor der Französischen Revolution, verpflichtet es eine Religionsgemeinschaft, die jeweils anderen zu respektieren und in ihrer Freiheit nicht zu beschneiden. Diese Verpflichtung brachten die osmanischen Muslime auch nach Europa. Albanische und bosniakische Muslime haben während der „Osmanli Devlet“ die höchsten Positionen als Paschas (Minister) und Wazire (Premiers) übernommen.
Aus dieser Zeit sind uns Brücken, Bibliotheken und ganze Städte als Erbe geblieben. Der Eroberer Skopjes und Sarajevos, Isa Beg, hat durch das islamische Stiftungswesen (Waqf) urbane Zentren geschaffen. Wir finden europäische Muslime in der Literatur, Kunst, Wissenschaft, Politik, die mit ihrem Schaffen unglaubliche Resultate erzielten. Ihr Beitrag lässt sich kaum bemessen.
Durch die ideellen Richtlinien und das Ethos des Respekts, der Pluralität und der Nachbarschaft hat sich der Balkan lange als außerordentlich tolerante Region hervorgehoben. Dennoch wird sie meist negativ rezipiert, wird mit Hass und Blutvergießen verbunden. Wie kann man von absolutem Hass sprechen, wenn dort die größte Völkervielfalt herrscht? Exklusivität und Hass dürfte wohl eher dort herrschen, wo nur ein einziges Volk lebt. Nehmen wir Italien oder Spanien: Ein Volk, eine Religion. Für andere gibt es keinen Platz. Auf dem Balkan haben wir eine Vielzahl verschiedener Menschen. Demnach gab es eine Zeit, in der jeder dort leben konnte, auch wenn dies eine Lebenssituation ist, in der es ebenso leicht ist, Unruhe zu stiften. Der Islam brachte Stabilität, friedliches Zusammenleben und Toleranz nach Europa und diese islamische Tradition ist der wichtigste Beitrag der Muslime dieses Kontinents.
Islamische Zeitung: Heute herrschen zwei Paradigmen. Auf der einen Seite finden wir die Neo-Identitären, die den Islam und Muslime als fremd, gefährlich und feindlich ansehen. Zu ihnen gehören VertreterInnen wie Le Pen und Orban. Auf der anderen Seite stehen die Globalisierungsbefürworter, welche die Multikulturalität anpreisen. Wie bewerten Sie dies? Kann es noch etwas Drittes geben? Was könnten Muslime anbieten?
Prof. Ferid Muhic: Mitte des 19. Jahrhunderts fand sich Europa in einer ähnlichen Situation, wobei man natürlich den Kontext beachten muss. Man stand zwischen Nationalismus und Kosmopolitismus. Friedrich List, ein deutscher Ökonom, erkannte, dass Europas Perspektive so aussieht, dass sich einige der mächtigsten Staaten in kompetitiver Freundschaft, nicht Animosität, zusammentun würden, die Technologie weit vorantreiben, sich somit von den anderen Staaten abheben und eine eigene, wirtschaftlich starke, Gemeinschaft bilden würden. Diese wäre auf partikularen Nationalismen gegründet und könnte damit die gesamte Welt regieren.
Somit ist nach ihm der Nationalismus eine Grundvoraussetzung für die Stärkung der Interessen bestimmter Staaten – Großbritannien, Frankreich und Deutschland – und weitaus erfolgversprechender als der Kosmopolitismus und die Gleichberechtigung aller Staaten und Gemeinschaften, denn dies würde zum Zerfall führen.
Wenn wir auf die heutige Situation schauen, müssen wir feststellen, dass er einiges vorausgesehen hat. Die stärksten Staaten haben ihre Feindschaft hinter sich gelassen, eine Union gebildet und haben eine Vormachtstellung in Europa und der Welt. Die Stimulierung des Nationalismus mündete in eine „sanfte“ Form des selbigen, und in eine Art Internationalisierung Europas, die nicht gleichzusetzen ist mit einer Kosmopolitiserung.
Der heutige Nationalismus und die Xenophobie berufen sich aber vor allem auf die Islamophobie, bei Le Pen wie auch bei Orban. Man ignoriert dabei vollkommen die historische Situation. Orban spricht in Ungarn von einer tausendjährigen christlichen Zivilisation, übersieht aber, dass von 1526 bis 1686, also 160 Jahre lang, Ungarn islamisch war.
Ein slowakischer Chronist hielt 1687 fest, er sei in Buda und Pest, damals noch zwei Städte, gewesen und habe 223 Moscheen gezählt sowie Hamame und weitere islamische Bauten. 1689, nachdem die Türken ein Jahr zuvor Ungarn verlassen hatten, war keine Moschee mehr übrig geblieben, kein islamisches Gebäude. Das heutige Ungarn, ein EU-Mitglied, hat in seiner Verfassung ein Verbot für die Erbauung islamischer Stätten.
Im 11. Jahrhundert haben die Ungarn die christliche Religion angenommen, während es schon 300 Jahre lang – in Al Andalus – Islam in Europa gab und dort die mächtigsten Herrscher waren. Als Muslime sich in Ungarn ansiedelten, haben sie keine Kirchen zerstört, sie stehen auch heute noch. Wenn wir also irgendwo am selben Ort Moscheen, Kirchen und Synagogen finden, können Sie sicher sein, dass sie erbaut worden sind, als dort Muslime herrschten. Sicherlich nicht zu Zeiten christlicher Herrschaft. Dies gab es schlichtweg nicht.
Die islamische Tradition der Toleranz beruhte auf dem Qur’an und der Charta von Medina. Es gab keine, wie man es gern darstellt, Sultane, die aus Willkür handelten, die heute barmherzig und morgen grausam waren. Sie mussten sich an die Gesetze des Islam halten und hatten deswegen Gelehrte als Berater, ohne welche sie keine Entscheidungen treffen konnten.
Demnach können wir feststellen, dass PolitikerInnen wie Le Pen und Orban nicht nur den Islam falsch darstellen, sondern auch die europäische Geschichte und sie konstruieren damit eine Anspannung, die faktisch keine Begründung hat.
Die europäischen Muslime können durchaus eine Zukunftsperspektive bieten, indem sie auf diese Vergangenheit hinweisen und über eben diese historischen Ereignisse sprechen. Es ist schockierend, wie viele Europäer den Islam als intolerant einschätzen, während das Gegenteil der Fall ist. Als Cordoba von Christen zurückerobert wurde, hat man Moscheen wie auch Synagogen zerstört. Während der islamischen Herrschaft konnten sie in Frieden bestehen und parallel existieren. Diese Fakten müssen wir uns vor Augen führen. Toleranz kam durch Islam.
Dies kann durch friedliche, gut organisierte, effektive und wohlwollende Medienarbeit der europäischen Öffentlichkeit zugänglich gemacht sowie die negative Rezeption des Islam widerlegt werden, wodurch bewiesen werden kann, dass ein Zusammenleben nicht bloß prinzipiell möglich ist, sondern über Jahrhunderte hinweg konkret stattgefunden hat.
Islamische Zeitung: Viele sehen Muslime als Wurmfortsatz der Globalisierung an, als eine „Global Elite“, mit hybriden Identitäten. Ist das authentisch muslimisch? Könnte es anders aussehen?
Prof. Ferid Muhic: Der Schlüsselbegriff der hybriden Identität deutet an, dass Menschen unterschiedlicher ethnischer Zugehörigkeiten gleichermaßen den Islam annehmen können. So ist es auch im Christentum. Es gibt verschiedenste Christen. So auch Muslime. Islam ist universell und der Versuch, Muslime als Resultat der Globalisierung zu bezeichnen, beabsichtigt eine grundlose Disqualifikation des Islam, während er doch in seiner Konzeption eine universellere, umfassendere Religion als das Christentum ist.
Islamische Zeitung: Wie Sie bereits erwähnten, leben Muslime schon lange in Europa, angefangen in Spanien, über Italien bis hin zum Balkan und der Krim. Man kann demnach den Islam nicht ohne den Kontext von Ort und Zeit verstehen. Findet sich dieses Verständnis in der islamischen Lehre wieder und sollten Muslime diesen Kontext verstärkt wahrnehmen, um die eigene Identität zu verstehen?
Prof. Ferid Muhic: Grundlegend muss verstanden werden, dass Islam in vielen Teilen vor anderen Religionen Fuß gefasst hat. Europa ist kein christlicher Kontinent, der von „muslimischen Horden“ überwältigt wird. Der islamische Kontext von Ort und Zeit besteht schon lange in Europa. Im Qur’an wird auf die Bedeutung des Lebensortes und der Zeit, in der man lebt, hingewiesen und darauf, beides zu respektieren und zu verstehen. Ebenso wird die Pflicht deutlich, die herrschende Regierung zu achten und keine Unruhe zu stiften. Doch ist dies eine Pflicht aller Bürger. Muslime müssen sich an ihre Umgebung und Lebenssituation anpassen und das ist eine religiöse Verpflichtung, die aus dem Heiligen Buch stammt.
Islamische Zeitung: Kann Identität auch etwas Gefährliches sein? Könnte es klug sein, sie als etwas Offenes, Wandelbares zu betrachten, im Gegensatz zum Statischen, Verfestigten?
Prof. Ferid Muhic: Auf philosophischer Ebene würde ich die Frage so beantworten: Über Identität lässt sich nicht streiten; nicht diskutieren, ob es sie gibt oder nicht. Alles, was ist, hat Identität. Ein Sandkorn hat seine Identität. Egal, welchen Wandel ein Mensch durchläuft, woran er glaubt oder aufhört, zu glauben, er hat immer dieselbe Identität, er bleibt immer noch derselbe Mensch. Sein Verhalten ändert sich bloß. Ein Volk bleibt dasselbe, auch wenn es seinen Glauben oder seine Lebensweise ändert.
Oft kann es gefährlich sein, seine Identität zu offen zu zeigen, wie es derzeit für Muslime wieder vielerorts der Fall sein kann. Dies ändert aber nichts an dem, was sie sind. Du bist immer das, was Du bist, die Identität bleibt. Ich denke also nicht, dass die Identität als solche störend ist, sondern ihre Perzeption.
Der Hinweis, seine Identität offen zu halten, kann als Ausgangspunkt genommen werden, um ideologischen Einfluss auf die Person zu nehmen, sie für seine Ziele „passend“ zu machen. So kann man einen Menschen nach Lust und Laune verändern, denn ein Mensch kann ohne Identität nicht autoreflexiv urteilen, kann sich selbst nicht beurteilen. Selbstbestimmung ist etwas, das nicht von außen gesteuert werden darf und das Recht jedes Einzelnen.
Islamische Zeitung: Gibt es für die heutigen Probleme Europas Lösungen aus der islamischen Lehre, beispielsweise durch die Awqaf (Stiftungen)?
Prof. Ferid Muhic: Es gibt eine Vielzahl an Elementen, jedoch müssen sie in diese Zeit adaptiert und nicht „mot a mot“ dogmatisch übernommen werden. Es gibt natürlich philosophische Ansätze, aber auch eine konkrete Analyse der verschiedenen Regionen wie auf dem Balkan aber auch in Afrika oder China könnten zu Lösungen für die hiesigen Herausforderungen führen und als positive Inspiration dienen.
Islamische Zeitung: Welchen Beitrag können Muslime für das europäische Projekt leisten?
Prof. Ferid Muhic: Sie haben schon einiges geleistet. Die Menschen müssen aber zusammenarbeiten. Man soll nicht sagen „Was können die Muslime leisten?“, sondern „Was können wir gemeinsam leisten?“ Das kulturelle, demographische Bild Europas lässt keine Majorisierung einer Gruppe zu.
Islamische Zeitung: Ist es nicht ironisch bis zynisch, dass man Muslime, die aus dem Nahen Osten und Afrika nach Europa kommen, nun als Europäer bezeichnet und einen „europäischen Islam“ fordert, während man die autochthonen europäischen Muslime übersieht?
Prof. Ferid Muhic: Wie bereits erwähnt: Solange die Fragen der Zugehörigkeit gestellt werden, wird es Diskriminierung geben. Wieso sollte man von Muslimen, die seit Jahrhunderten solche sind, wenn sie nach hier kommen, verlangen, einen „europäischen Islam“ zu übernehmen? Die Unterteilung in gute und schlechte Muslime ist gefährlich. Sich als „guter Muslim“ beweisen zu müssen, sich von anderen Muslimen distanzieren zu müssen gegenüber jenen, die eine Antipathie gegen Muslime hegen, ist durchaus zynisch und birgt eine Gefahr in sich. Es erinnert an die Aussage „Nur ein toter Indianer ist ein guter Indianer“.
Nach Charlie Hebdo öffneten sich alle Pforten und Muslime mussten sich kollektiv für andere verantworten, während sich kein Christ für Breivik oder Hitler verantworten musste. Warum auch?
Die Menschen, die nach hier kommen, haben jedes Recht darauf, in Frieden zu leben ohne sich erklären zu müssen. Dass der Islam hier nicht fremd, sondern historisch verwurzelt ist, erkennt man daran, dass es zur selben Zeit den Athan wie auch Kirchenglocken zu hören gab und immer noch gibt und die Menschen ohne äußeren Druck miteinander leben konnten. Durch eine Rückbesinnung darauf ließe sich Europas politische wie auch spirituelle Kraft um ein Vielfaches entfalten.