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Deutschlands populärster Verschwörungsmythos

Ausgabe 303

Foto: Archiv

(iz). Vielleicht liegt es an den hohen Temperaturen. Vielleicht auch einfach daran, dass Corona für Viele neben der räumlichen auch die geistige Isolation brachte. Aber Deutschland scheint im Verschwörungsfieber zu sein: Steckt hinter Covid-19 eine chinesische Biowaffe, um die freie Welt in die Knie zu zwingen? Wird das Virus in Warhheit über die neuen 5G-Handy-Masten übertragen? Oder liegt der Pandemie doch ein Geheimplan von Software-Milliardär Bill Gates zu Grunde, mittels Mikrochip-Zwangsimpfung die Weltbevölkerung zu kontrollieren? Keine Corona-Theorie scheint derzeit zu absurd, als dass sie im Netz nicht wenigstens ein paar Tausend Anhänger hinter sich versammeln könnte. Und doch ist es ein Mythos, der nichts mit Covid-19 zu tun hat, der es in den letzten Monaten zur größten Anhängerschaft gebracht hat: der vom „politischen Islam“.

Kaum ein Tag vergeht, ohne dass Politikerinnen, Journalisten oder Buchautorinnen vor der bevorstehenden islamischen Machtübernahme warnen. Anders als im Fall der Covid-Truther treffen sich die Anhänger der Verschwörungstheorie vom „Politischen Islam“ längst nicht mehr nur in Telegram-Gruppen und Internet-Foren. Ihre Jünger sitzen im Bundestag, Sicherheitsbehörden und den Redaktionen großer Zeitungen. Ihre wirren Ansichten verbreiten sie in Gesetzestexten, Leitartikeln und auf Bestsellerlisten. Ihre Manifeste heißen „Politischer Islam: Stresstest für Deutschland“, „Der politische Islam gehört nicht zu Deutschland“ oder „Alles für Allah – wie der politische Islam unsere Gesellschaft verändert“.

Anders als viele Corona-Mythen hat es Deutschlands populärste Verschwörungstheorie bisher kaum zu gesellschaftlicher Ächtung geschafft. Dabei sind seine Thesen nicht weniger absurd, als die Vorstellung, Merkel und Gates nutzten die Corona-Krise um einen Völkermord an der Weltbevölkerung vorzubereiten.

Im Zentrum der angeblichen Islam-Verschwörung: Eine kleine Clique größtenteils ehrenamtlicher Verbandsfunktionäre. Die sind in der echten Welt zwar meist schon damit überfordert, zu den regelmäßigen Shitstorms, rechtzeitig ein Statement zu verfassen. Doch in der Wahnwelt der „Kritiker des Politischen Islams“ stehen sie kurz vor der Machtübernahme. Was dem Osmanen-Heer vor Wien und dem Terrorbrigaden des IS noch verwehrt blieb, drohen einige ­islamische Vereinsvorstände nun mit, Konferenzteilnahmen, Pressemitteilungen und interreligiösen Arbeitskreisen zu erreichen. Partner in Crime wie bei jeder Verschwörung: Die Naivität der Mehrheitsgesellschaft, die „die größte Herausforderung unserer Zeit“ (CSU) einfach nicht erkennen will und nur von einer Handvoll Truther vor dem Untergang bewahrt wird.

Mit einer subversiven Akribie, die man sonst nur in Atilla Hildmanns Telegram-Gruppe findet, durchforsten die „Poli­tischer Islam“-Truther jede Veranstaltungseinladung, Stellenbesetzung und Twitter-Mention nach Spuren der Islami­sierung: Zu viel Kopftuch auf der Rechtsreferendarin? Zu wenig Kritik an Erdogan bei der Freitagspredigt? Steht da ein ­DITIB-Freund auf der Einladung? Und da ein Zentralrat-Redner auf der Demo-Bühne? War da ein Like unter dem Palästina-Tweet? Und dort ein Klagen über „Islamophobie“? Im Zweifel irgendwas mit Muslimbrüdern.

Dabei lassen sich die Jünger des ­”Politischen Islam“-Mythos auch nicht davon beirren, dass die Verschwörung zur islamischen Machtübernahme bisher wohl die erfolgloseste seitdem Geheimplan der Nazis sein dürfte, von der Rückseite des Mondes aus, doch noch den Krieg zu gewinnen. Denn trotz mächtiger Verbindungen und einer unterwanderten Gesellschaft scheint die Islamisierung des Abendlandes kaum voranzukommen. Im Gegenteil: Ob Anerkennung als Reli­gionsgemeinschaft, der Bau von Gotteshäusern, eigener bekenntnisorientierter Unterricht oder schlicht das Recht, auf der Straße nicht bespuckt zu werden: Muslimen bleibt nach wie vor vieles ­verwehrt, was für die meisten anderen Menschen hierzulande selbstverständlich ist. Die gescholtenen Islamischen Akteure verweisen deshalb darauf, ihnen ginge es bei ihrem politischen Wirken auch ­weniger um Machtübernahme als um Gleichberechtigung.

Aber von solchen Taqiyya-Versuchen lassen sich die Schröters, Ates’, Heinischs und Linnemanns nicht beirren.

Auch den Umstand, dass sich viele der Beschuldigten nie etwas zu Schulden kommen haben lassen, schaffen sie, in ihr Wahnbild zu integrieren: Gerade ihre Gesetzestreue mache diese „legalistischen Islamisten“ so gefährlich, lautet die Antwort, auf die Frage, warum sich viele der beschuldigten islamischen Akteure auf demokratischen Wegen engagieren. Damit haben sich die Anhänger des „Politischen Islam“-Mythos jenes selbstbestätigende System geschaffen, das typisch ist für Verschwörungsideologien. Muslime haben die Wahl: Entweder geben sie zu Islamist zu sein oder sie streiten es ab und bestätigen es damit erst recht.

Vom Weltbild offen rassistischer Islamhasser, die jeden Muslim qua Existenz zum Problem erklären, ist es von dort aus nicht mehr weit. Ohnehin unterscheidet sich die in bürgerliche „Kritik am Politischen Islam“ kaum vom „Kampf gegen die Islamisierung“, den Rechtspopu­listInnen und Neonazis vorgeben zu ­bestreiten. Und auch in der Welt der ­Verschwörungsmythen muss man nicht lange nach Vorbildern suchen. Im ­Gegenteil. Von den Jesuiten als vermeintliche Initiatoren der Gegenreformation, über die „jüdischen Bolschewisten“ bis hin zu Atilla Hildmanns Vorstellung, die Rothschilds steckten hinter der Corona-Pandemie: Religiöse Minderheiten zu Akteuren finsterer politischer Machenschaften zu erklären ist geradezu die ­Essenz von Verschwörungsideologen. Es wird Zeit, die Anhänger des Mythos vom „Politischen Islam“ auch als solche zu ­bezeichnen.