,

Die Grenzen des Machbaren

Foto: Hadrian, Shutterstock

BERLIN (GFP.com). Die Bundeswehr bereitet im Windschatten der Coronakrise einen womöglich länger andauernden Inlandseinsatz vor. Ab Freitag dieser Woche, den 3. April sollen 15.000 Militärs voll einsatzbereit sein, um im Kampf gegen das Covid-19-Virus unter anderem logistische Aufgaben zu übernehmen. Im Gespräch sind auch polizeiliche Tätigkeiten.

Der „Einsatz spezifisch militärischer Waffen“ ist laut Berichten nicht grundsätzlich ausgeschlossen. Darüber hinaus führt die Bundeswehr für den Einsatz eine neue Befehlsstruktur ein: Sie konstituiert vier regionale Führungsstäbe bei zwei Panzerdivisionen, im Luftwaffen- sowie im Marinekommando, die jeweils für mehrere Bundesländer zuständig sind. Die Ausweitung des Einsatzes und die Bündelung der Befehlsstruktur geht mit Forderungen einher, die Grundgesetzbestimmungen für Interventionen im Inland zu lockern.

Zugleich wird scharfe Kritik am neuen Infektionsschutzgesetz laut, das massive Grundrechtseinschränkungen ermöglicht. Rechtswissenschaftler weisen darauf hin, es stelle „die Gesetzesbindung von Regierung und Verwaltung weitgehend zur Disposition“.

Militärische Amtshilfe
Die Bundeswehr steht vor einem möglicherweise länger andauernden Großeinsatz im Inland. Ab 3. April sollen 15.000 Soldaten voll einsatzbereit sein, um unterschiedliche Tätigkeiten im Kampf gegen das Covid-19-Virus zu übernehmen. Formal handelt es sich dabei um sogenannte Amtshilfe nach Artikel 35 des Grundgesetzes; demnach können die Streitkräfte angefordert werden, sofern dies zur Bewältigung einer Naturkatastrophe oder eines besonders schweren Unglücksfalls als nötig gilt.

Bereits Mitte März haben Militärs in Einzelfällen Amtshilfe zu leisten begonnen, so etwa bei der Bereitstellung und der Einlagerung von Material, darunter Atemschutzmasken und Schutzanzüge, bei der Durchführung von Tests und bei der Versorgung von Lkw-Fahrern, die in Dutzende Kilometer langen Staus vor der Grenze zu Polen festsaßen. Bis Ende vergangener Woche waren gut 200 Anträge auf Amtshilfe bei der Bundeswehr eingegangen; davon waren 44 genehmigt worden, neun waren abgeschlossen, 25 werden zur Zeit durchgeführt.

Soldaten als Polizisten
Zum Wochenende sind nähere Angaben über die Einheiten bekannt geworden, die jetzt in volle Einsatzbereitschaft versetzt werden. Demnach werden künftig rund 2.500 Logistiker mit etwa 500 Lkw für „Lagerung, Transport, Umschlag“ bereitstehen.[2] Für Desinfektionstätigkeiten sind 18 Dekontaminationsgruppen mit insgesamt rund 250 Soldaten vorgesehen. 6.000 Militärs können zu nicht näher definierten Aktivitäten zur „Unterstützung der Bevölkerung“ herangezogen werden, rund 5.500 zu „Absicherung/Schutz“. Zudem sind 600 Feldjäger für „Ordnungs-/Verkehrsdienst“ eingeplant.

Es zeichnet sich inzwischen klar ab, dass Soldaten dabei auch Aufgaben übernehmen können, die eigentlich für die Polizei reserviert sind. So will der Landrat des Lankreises Miesbach in Oberbayern rund zehn Soldaten einsetzen, um ein Gebäude des Technischen Hilfswerks abzusichern, in dem Schutzmasken und weitere medizinische Ausrüstung lagern. Einwände gegen eine etwaige Bewaffung der Soldaten gibt es bei den Kreisbehörden nicht.

Darüber hinaus hat das Bundesland Baden-Württemberg vor, krankheitsbedingte Ausfälle bei der Polizei in Kürze durch Militärs zu decken. Dabei gehe es, heißt es, etwa um Transportaufgaben und um den Schutz polizeilicher Einrichtungen.

Neue Befehlsstruktur
Für den Covid-19-Einsatz der Bundeswehr werden, wie der Fachjournalist Thomas Wiegold festhält, „neue Befehlsstrukturen im Inland“ geschaffen. Galten bislang die Landeskommandos der Truppe als Ansprechpartner für die einzelnen Bundesländer in Sachen Amtshilfe, die ihrerseits dem Kommando Territoriale Aufgaben in Berlin und damit dem Inspekteur der Streitkräftebasis unterstellt sind, so wird jetzt zwischen die Landeskommandos und die nationale Zentrale in Berlin eine weitere Ebene eingefügt: vier regionale Führungsstäbe, die jeweils für mehrere Bundesländer zuständig sind.

Angesiedelt sind sie bei der 10. Panzerdivision in Veitshöchheim (Bayern), bei der 1. Panzerdivision in Oldenburg, beim Luftwaffenkommando in Berlin sowie beim Marinekommando in Rostock. Lediglich die ABC-Abwehreinheiten, die Desinfektionsaufgaben übernehmen sollen, sowie die Feldjäger sind unmittelbar dem Inspekteur der Streitkräftebasis, Martin Schelleis, unterstellt. Wiegold zitiert aus einer internen Anweisung der Truppe, der zufolge „in besonderen Ausnahmefällen und auf Weisung der Bundesministerin“ der „Einsatz spezifisch militärischer Waffen … zulässig“ sei.

Hatte das Bundesverfassungsgericht dies 2006 noch für unzulässig erklärt, so hat es den Beschluss im Jahr 2012 revidiert und den Einsatz spezifisch militärischer Mittel, wenn auch mit gewissen Einschränkungen, erlaubt.

Grundgesetzänderung
Mitgetragen wird der Covid-19-Inlandseinsatz der Bundeswehr auch von Reservisten. Bis Ende vergangener Woche hatten sich knapp 8.000 von ihnen freiwillig gemeldet. Hinzu kommt, dass die Debatte über eine Grundgesetzänderung zur Ausweitung derartiger Einsätze begonnen hat. Nach ersten Überlegungen des CDU-Militärpolitikers Roderich Kiesewetter, den Grundgesetzartikel 35 um die ausdrückliche Nennung von Pandemien als Einsatzgrund zu erweitern, hat sich Patrick Sensburg, Präsident des Bundeswehr-Reservistenverbandes sowie CDU-Bundestagsabgeordneter, entsprechend geäußert.

Bezüglich der Einsatzfelder für die Bundeswehr müsse man „diskutieren“, was künftig unter „Sicherung kritischer Infrastruktur durch die Streitkräfte“ zu verstehen sei, forderte Sensburg: „Bislang war damit das Wasserwerk oder Elektrizitätswerk gemeint.“ Nun aber zeige sich, dass es dabei „auch um die Versorgung des Supermarkts um die Ecke oder von Lkw-Fahrern auf der Autobahn gehen kann“. Eine „Klarstellung“ sei „sinnvoll“.

Grundrechte eingeschränkt
Unterdessen wird scharfe Kritik an dem neuen Infektionsschutzgesetz laut, das am Mittwoch vom Bundestag und am Freitag vom Bundesrat verabschiedet worden ist.

Es ermächtigt den Bundesgesundheitsminister, sofern das deutsche Parlament eine „epidemische Lage von nationaler Tragweite“ feststellt, zu weitreichenden Maßnahmen, die nicht zuletzt die Einschränkung oder die Aufhebung von Grundrechten umfassen, darunter die Versammlungsfreiheit und die Freizügigkeit, aber auch das Recht auf körperliche Unversehrtheit.

Kritisiert wird dabei nicht nur, dass die Maßnahmen, wenngleich das Gesetz zunächst auf ein Jahr beschränkt ist, schwere Einschnitte mit sich bringen, sondern auch, dass sie weitreichende, grundsätzliche Bedeutung haben.

Autoritäre Entscheidungen
So weisen die Juristen Klaus Ferdinand Gärditz und Florian Meinel, Professoren für Öffentliches Recht an den Universitäten Bonn bzw. Würzburg, darauf hin, „dass das neue Infektionsschutzgesetz die Gesetzesbindung von Regierung und Verwaltung weitgehend zur Disposition stellt“. „Der neue Paragraph 5 Absatz 2 erteilt dem Gesundheitsminister die Befugnis, durch Rechtsverordnungen von den gesetzlichen Regelungen dieses und anderer Gesetze abzuweichen“, konstatieren Gärditz und Meinel: „Mit der Ermächtigung eines Bundesministeriums, gesetzesvertretendes Verordnungsrecht zu erlassen, setzt sich das Parlament in Widerspruch zu zentralen Normen der Verfassung“. Letztere seien eine Lehre aus „dem historischen Trauma des Ermächtigungsgesetzes vom März 1933 und der Handhabung des Notverordnungsrechts durch den letzten Reichspräsidenten“.

In dem neuen Infektionsschutzgesetz würden „die gesetzlichen Regelungen … ohne nennenswerte Begrenzung zur Disposition gestellt“; „Zweck und Ausmaß der Abweichungen bleiben opak“. Gärditz und Meinel warnen ausdrücklich, „die entscheidende Frage“ sei, ob die parlamentarische Exekutive „in der Situation höchster Gefahr in der Lage“ bleibe, „politische Mehrheiten für ihre Politik zu gewinnen“, „oder ob die Exekutive zur Chiffre einer Sehnsucht nach autoritären Entscheidungen mit harter Hand wird, die auf die Zustimmung einer zunehmend panischen Bevölkerung setzt“ – um rücksichtslos „die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren auszutesten“.