Ein Kommentar von Abu Bakr Rieger über die destruktive Kategorisierung von Muslimen

Ausgabe 208

(iz). Bei einem Tässchen Tee, denke ich über die verlorene Herrschaft über die Begrifflich­keiten nach und natürlich auch über den Umkehrschluss: die Macht, die Dinge beim Namen zu nennen. Es ist als Teil des Auto­ritätsverlusts muslimischer Gelehrsamkeit zu begreifen, dass wir von dialektisch aufeinanderbezogenen Begriffe gezeichnet sind und uns gleichzeitig oft die Kraft fehlt, die Dinge positiv beim Namen zu nennen. Kurz gesagt: Wir sagen vielleicht noch, was der ­Islam nicht ist, wofür wir nichts können und wovon wir uns deassoziieren, aber ­selten genug, wofür wir stehen, was wir ­können und was der Islam ist.

Ein bisschen Stolz kann man insoweit auf die „Islamische Zeitung“ sein, denn wo sonst werden diese Fragen grundsätzlicher Natur noch gestellt und darüber hinaus unsere eröffnende Terminologie gepflegt, wo – um nur einige Beispiele zu nennen – „Zins, Mu’a­malat, Zakat, Waqf“ positiv definiert, erklärt werden und damit – verbunden mit guten Hoffnungen – in das öffentliche Bewusstsein gerückt sind? Natürlich bleiben bei allem Widerstand die Wirkung der aus dem ­Islam heraus kaum definierbaren Begriffe, die uns Muslime – oft von außen, aber oft auch ohne inneren Widerspruch – heute typisieren: der Islamist, der Funktio­när, der Sufi und der Salafist.

Es ist wichtig, dass wir uns diesen Kategori­s­ierungen nicht wortlos ergeben – ganz in dem Sinne des berühmten Wortes von Imam Dschunaid, der beispielsweise erklärte, dass in der Zeit Medinas der Sufismus eine Realität ohne Namen war und erst später zu ­einem Namen ohne Realität mutierte. Mit anderen Worten: Die ausdrückliche Charak­terisierung und Benennung indizierte schon den Verlust des eigentlichen Phänomens, ­so wie der Humanist erst dann als Typus erscheint, wenn der Humanismus bereits längst verloren gegangen ist.

Typisierungen, die mit „ist“ enden und so eine ideologisierte Daseinsform des Betreffenden andeuten wollen, sind ohne die prägenden Zerwürfnisse und Assoziationen unserer terrorgeprägten Moderne ohnehin nicht zu verstehen. Ein Ideologe ist auf der einen und anderen Art immer und per Definition ein geistiges Kind dieser Zeit.

Die Salafisten sind gleichermaßen gefangen, Flüchtige aus dem Hier und Jetzt, die sich im gesellschaftlichen Rückzug ins ­“religiöse“ Ich befinden, im Abseits ein letztes Asyl bildend, um sich in der völligen Ablehnung dessen aufzuhalten, was ist und sich dann aus dieser Not innerlich verabschieden, in das ganz Andere. Sie nennen es das Paradi­e­sische, wenn auch die Einladung ins Para­dies zunächst oft nur das wöchentliche religiöse Programm in einem ehemaligen Ladenlokal meint.

Ein Satz der Einheit, naturgemäß radikal positiv, wie ihn ein Ernst Jünger denken konnte – nämlich dann, wenn er auch nach größtem Schrecken noch bekennt, die „Welt ist wunderbar im Ganzen“ –, muss ihnen in ihrer tiefen Zerrissenheit suspekt bleiben. Selbstredend fehlt ihnen auch die Kraft und der Anspruch – hier liegt das tiefe Paradox im Geist und Selbstverständnis –, am ursprünglichen Sinnzusammenhang zwischen Moschee und Markt zu arbeiten. Als im Grunde Zweifelnde scheint ihnen das Terrain für echte Taten, mit Ausnahme der Ver­­zweiflungstat, längst verloren gegangen.

Der Funktionär wiederum gehört zur unheimlichen Gattung, der aus dem ­Sieges­zug der politischen Strukturen geboren wurde. Es gibt wohl keinen Muslim, dem die Erhebung der Zakat oder die Etablierung der Stiftungen – wie jede Form des organi­schen und nicht-kontrollierten Wachtsums, von seiner Natur als „religiöser Sachbearbei­ter“ aus – fremder wäre. Der muslimische Pressesprecher – immer am Ball, wenn es etwas Negatives zu verwerten gibt – gehört wohl auch hierher. Die ernstere Form der Na­mensgebung, der Begriff des politischen Islam, steht dagegen im Kern für die Herrschaft der Politiker und Populisten über das Recht. In diesem Raum muss der ­sprach­lose Gelehrte agieren, der alle Auswüchse des ­Rassismus, Terrorismus und Kapitalis­mus schwei­­gend zur Kenntnis nimmt.

Das öffentliche Spiel um die Gewalt der Begriffe und Assoziationen weist gleichzeitig dem „normalen“ Muslim, der der schweigenden Mehrheit angehört, seinen Ort zu: Er ist per Definition esoterisch, passiv, unpolitisch und privat.