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Es fehlt an spiritueller Höflichkeit

Ausgabe 296

Foto: Freepik

„Du bist wahrlich von großartigem Charakter.“ (Al-Qalam, Sure 68, 4)

(iz). Letztens las ich viele islamwissenschaftliche und theologische Texte von muslimischen Akademikern. Seiten und Kapitel, die ich brauchte, um eine anstehende Forschungsarbeit und Vortragsreihe vorzubereiten. Seltsam erschien in all diesen Arbeiten ein verwirrender Mangel an Adab. Im Allgemeinen bedeutet Adab gutes Verhalten beziehungsweise eine Art und Weise, sich den Dingen zu nähern – insbesondere innerhalb der Religion (im spirituellen Kontext wird er auch mit „spiritueller Höflichkeit“ übersetzt).

Dieser Mangel irritiert mich, beziehungsweise er überrascht mich, denn für einen Muslim, der den islamischen Text eines ande­ren muslimischen Autors liest, gibt es Erwartungen hinsichtlich eines gewissen Mindestmaßes; das heißt, Respekt gegenüber der Tradition, den Propheten und ­Allah. Es erschütterte viele unter uns, als eine bestimmte (akademische) muslimische Gelehrtin den Propheten Ibrahim, Allahs Frieden auf ihm, als einen „unzuverlässigen Vater“ bezeichnete. Und das liegt nicht nur daran, dass ihrer Aussage widersprochen wurde, sondern vor allem daran, weil wir die Propheten so nicht betrachten und auch nicht ihren Gehorsam gegenüber dem göttlichen Befehl.

Ibrahim, Friede sei mit ihm, ließ seine Frau und Kind in der Wüste zurück. Aber der Grund dafür und die Absicht dahinter macht den Unterschied aus, wie wir die ­Geschichte verstehen. Und selbst darin, wie Hadschar ihre Lage verstand. Sie war ein Text des Glaubens und ein Mittel für sie, sich Gott anzunähern (neben vielen anderen Segnungen, die in dieser Begebenheit entstanden). Diese wenig schmeichelhafte ­Darstellung eines Propheten scheint unter muslimischen Akademikern keine Anomalie zu sein.

Ein Beispiel dafür ist Ayesha Chaudhry Siddiquas Buch über Schlagen von Frauen in der vormodernen islamischen Tradition. Ihr Kommentar einer prophetischen Aussage behauptet, der Gesandte Allahs, Heil und Segen auf ihm, habe eine Frau zu einem misshandelnden Ehemann zurückgeschickt. Abgesehen von den Überlieferungen, in ­denen der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, Frauen von missbräuchlichen Ehemännern getrennt hat (worüber Chaudhry auch spricht), besteht das Problem dieser Behauptung darin, dass es ein Teil des Glaubens ist, den Propheten zu lieben und ihm Frieden zu schenken. Zu postulieren, der Gesandte Allahs habe gezielt eine Frau – darüber hinaus eine gläubige Frau – einem Schaden ausgesetzt, steht im Widerspruch zu unserer Positionierung als Gläubige. Wir müssen den Propheten mehr lieben als unser Selbst. Ein Teil dieser Liebe ist es, eine gute Meinung von ihm und ­seinen Absichten zu haben.

In ihrem Buch „Sexual Ethics in Islam“ stellt Kecia Ali im Kommentar zu einem Hadith die These auf, der Prophet würde die sexuelle Verfügbarkeit und Einwilligung einer Frau als gegeben betrachten. Diese Interpretation ist nicht nur falsch; wenn man sie mit anderen Überlieferungen und Aspekten des prophetischen Lebens vergleicht, fehlt es auch am nötigen Respekt. Wenn behauptet wird, der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, hätte Frauen als „austauschbare Objekte männlichen sexuellen Verlangens“ betrachtet, was für eine Meinung von seinem Charakter leitet sich dann daraus ab?

Die Bücher Chaudhrys und Alis haben in sich einen gewissen Wert, da sie einen erschöpfenden Einblick in das islamische ­Denken zum Thema ihrer jeweiligen Arbeit anbieten. Aber warum fühlen sich die Autorinnen so sehr dazu veranlasst, den Charakter des Propheten herabzusetzen? Macht die akademische Maske der „Objektivität“ Adab, gute Meinung und Liebe so sehr unmöglich? Gibt es nicht genug Nichtmuslime, die ihr „kritisches Denken“ auf unseren Propheten, Frieden und Segen auf ihm, anwenden, sodass wir uns selbst in diese unselige Handlung einmischen müssen?

Das Problem, das ich in den Werken und der Disposition muslimischer Akademiker finde, ist ein Mangel an Adab. Dieser ist die Folge von zu wenig Demut, die ein entscheidender Aspekt der traditionellen islamischen Wissenschaften ist. Fragen zu dem, was der Prophet getan oder gesagt hat, sind nicht das Problem, sondern sollten gestellt werden. Das Problem ist das Fehlen von Demut, sie einem Gelehrten zu stellen, ­dessen Überlieferungskette zum Geliebten zurückreicht, anstatt unfundierte Fragen in die Welt zu schmeißen.

Wir brauchen wissenschaftliche Arbeiten, die ernsthaft für die moderne muslimische Gemeinschaft – und im Gespräch mit der nichtmuslimischen Welt – produziert ­werden. Dabei müssen wir bedenken, dass wir in erster Linie Muslime sind und unser Hauptanliegen immer die Ausrichtung auf islamische Werte liegen sollte. Ohne den nötigen Adab schaden unsere Werke uns in diesem und im nächsten Leben, mehr als dass sie nützen.