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Gesellschaft unter Spannung

Ausgabe 267

Foto: Eweht, Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 4.0

(iz). Noch immer nennen 56 Prozent der Befragten einer GfK-Umfrage die Integration von Zuwanderern als größte Herausforderung für die Bundesrepublik. Auch wenn aller Erfahrung nach – insbesondere vor Wahlen – die zahlreich veröffentlichten Statistiken mehr oder weniger subjektive Stimmungsbilder wiedergeben, dürfte der Grundtenor der Umfragen stimmig sein: Viele Deutsche sind nach wie vor stark verunsichert, ob der Strom von Zuwanderern eine Chance oder eine Gefahr darstellt.
Symbolisch steht im Kern der Debatte ein berühmter Satz der Kanzlerin. „Wir schaffen das“ hatte Angela Merkel angesichts der Flüchtlingskrise, deren Folgen seit September 2015 kontrovers diskutiert werden, ausgerufen. Ob die Integration gelingen kann, ist danach zu einer der großen Glaubensfragen unserer Zeit geworden. Das Flüchtlingsthema wird, aller Wahrscheinlichkeit nach, die politische Landschaft Deutschlands nachhaltig verändern, auch wenn die Wiederwahl Merkels einigermaßen sicher scheint.
Natürlich ringen auch Muslime in der Bundesrepublik um ihre Position. Viele Muslime zollen der Kanzlerin Respekt für ihre Entscheidungen, sie sind solidarisch gegenüber den Flüchtlingen, die zum großen Teil aus muslimischen Ländern zu uns kommen, und reagieren gleichzeitig mit Sorge, dass das „Integrationsthema“ auch ihre eigene, jahrzehntelange Präsenz im Land in Frage stellen könnte. Sie sind aber auch als BürgerInnen aufgerufen, nicht nur bei der Integration eine aktive Rolle zu spielen, sondern auch ihre Meinung über die allgemeine und potentielle Integrationsfähigkeit unseres Landes zu artikulieren.
Grundsätzlich hat die Gesellschaft einige Schwierigkeiten, sich auf die objektiven Fakten der Immigration festzulegen. Debattiert werden Obergrenzen der Zuwanderung, die Notwendigkeit eines Zuwanderungsgesetzes und die Möglichkeit der Zunahme der Kriminalität. Wie bei kaum einem anderem Thema leben die Menschen in Ost und West in unterschiedlichen Wirklichkeiten und präsentieren in den sozialen Medien ihre Beispiele angeblich gelungener oder misslungener Integration.
Die Politisierung der Debatte lässt dabei oft keine sachliche Diskussion mehr zu. Die gewählte Sprache und ihre Assoziationen, die alltäglich von der „Islamisierung Europas“, der „Flüchtlingswelle“ und der wachsenden „Terrorgefahr“ sprechen, befördern nicht nur ein hysterisches Klima, sondern lassen bereits tiefe Spaltungen und unversöhnliche gesellschaftliche Gegensätze erkennen.
Natürlich spielt hier auch die deutsche Parteipolitik eine Rolle. Robin Alexander erinnert in seinem Sachbuch über die ersten 180 Tage der Flüchtlingskrise im Jahr 2015, unter dem bezeichnenden Titel „Die Getriebenen“, an die ambivalente Rolle der Regierungsparteien. Kanzlerin Merkel, so Alexander, hatte vor der Krise kaum eine öffentliche Positionierung zur Asylpolitik vorgenommen und musste dann, als sich Tausende Flüchtlinge im Budapester Bahnhof anstauten, eine einsame Entscheidung treffen und über Nacht die Durchreise der Flüchtenden nach Deutschland erlauben. In seiner Chronik zeigt er den medialen Druck, unter dem die Kanzlerin dann zunächst eine Willkommenskultur einforderte, um dann – nach den Ereignissen in der Kölner Silvesternacht – wieder in eine skeptischere Beurteilung überzugehen.
Es ist Spekulation, ob Angela Merkel die wachsende Kritik in ihrem eigenen konservativen Lager überstanden hätte, wären die Flüchtlingszahlen nicht wegen der Schließung der Balkangrenzen zurückgegangen. Alexander kritisiert jedenfalls die Tendenz der Regierung, auf Stimmungen zu reagieren, statt eine langfristige Strategie ihrer humanitären Politik zu fassen und der Bevölkerung entsprechend ehrlich zu erklären. Fakt ist, lange Jahre hatten sich die Verantwortlichen in Berlin in eine Politik geflüchtet, welche die legale Inanspruchnahme des Asylverfahrens nur noch Menschen ermöglichte, die per Fallschirm ins Land kamen, da alle anderen, die aus sicheren Drittstaaten einreisten, formal kein Asyl mehr in Anspruch nehmen konnten.
Es gehört daher – trotz der in Europa einmaligen Aufnahmebereitschaft der Deutschen – zu den regelmäßigen Angriffen auf deutsche Politik, dass ihre ­humanitäre Politik nicht über allgemeingültige moralische Standards verfüge, das Problem an die Außengrenzen der Europäischen Union verlagere und ihr ökonomisches Interesse im Mittelpunkt ­stehe. Mehr denn je stellt sich aber auch die grundsätzliche Frage, ob Realpolitik, in Zeiten globaler Fluchtbewegungen, künftig überhaupt noch moralisch begründet werden kann.
Der Tübinger Oberbürgermeister, Boris Palmer, hat zu diesen Fragen gerade ein vielbeachtetes Buch („Wir können nicht allen helfen“) veröffentlicht. Zu den theoretischen Grundlagen des ­Kommunalpolitikers gehört die Unterscheidung zwischen „Gesinnungs- und Verantwortungsethik“, die sich an den Soziologen Max Weber anlehnt. Der Grüne Palmer versucht sich an einem dritten Weg, einem Flüchtlingsrealismus, der den sich abzeichnenden Bevöl­kerungszuwachs weder verteufelt noch idealisiert.
Palmers Kritik richtet sich gegen die Regierungschefin selbst und die Verklärung ihres Handelns: „Der moralische Anstrich ihrer Politik hatte eine Flamme der Begeisterung bei vielen Menschen entzündet. So großartig solcher Idealismus ist, so fahrlässig scheint es mir, seine Enttäuschung zu programmieren.“ Merkels Fehler sei es gewesen, ein „mora­lisches Gebot zu konstruieren, dem das Land zuvor nicht gerecht worden war und erkennbar auch nicht gerecht werden konnte“.
Erinnert man sich an die Willkommenskultur und an das Bild der Deutschen, die mit Plakaten („Refugees Welcome“) auf dem Münchner Bahnhof Flüchtlinge empfingen, dann erklärt sich diese Euphorie zunächst aus der deutschen Geschichte. Die Szenen und ihre psychologische Wirkung korrigierten, für alle Welt sichtbar, alte Bilder eines deutschen Nationalismus. Tausende Bürger engagierten sich für den menschenwürdigen Empfang der Fremden.
Aber die Stimmung droht nach ­Palmers Analyse längst zu kippen, weil das politische System der Republik empfindlich ist und bestimmte Belastungsgrenzen hat. Eine Sicht, die dem Politiker den Vorwurf eingebracht hat, selbst eine fragwürdige, gar rechtslastige Gesinnung zu haben.
Liest man sein Sachbuch, das spürbar auf Differenzierung angelegt ist, zeigt sich, dass der Kommunalpolitiker nur schwer in das rechte Lager zu rücken ist. Auf einigen Seiten wehrt sich Boris Palmer gegen Attacken, die ihn und andere schnell in das rechte Lager verorten wollen. Er stellt vielmehr klar, dass das die Gewährung von Asyl zum Kernbestand der deutschen Verfassung gehört und keine ökonomischen Überlegungen hier eine Rolle spielen dürften. Allerdings – so schränkt er ein – sei der Gedanke, Flüchtlinge und Zuwanderer seien die schnelle Lösung der volkswirtschaftlichen Probleme der Republik, eine Illusion. Hier ist sein Beitrag immer wieder mit nüchternen Fakten durchsetzt: „Die DAX-Konzerne, die sich öffentlich für die Aufnahme von Flüchtlingen stark ­gemacht hatten, beschäftigten im September 2016 nach einer Umfrage exakt 125 Auszubildende.“
Es liegt an der Natur der Debatte über die Flüchtlingspolitik, dass die nüchterne Sammlung von Fakten und Probleme, die konkrete Erfahrung, zunehmend durch ideologische Bewertungen überlagert werden. Mangelnde Praxiserfahrung kann man dem Chef einer deutschen Kommune sicher nicht vorwerfen. Er muss Unterkünfte bauen, das komplexe Regelwerk deutscher Gesetze anwenden und Erwartungen von Flüchtlingen und Einheimischen mit einander in Einklang bringen. Das nüchterne Bild Palmers über Probleme und Chancen der Krise ist daher als Diskussionsgrundlage durchaus lesenswert.
Schlussendlich sind auch Muslime aufgerufen, ihre Erfahrungen und Lösungsvorschläge einzubringen. Hierher gehört darauf hinzuweisen, dass nicht jedes ­Problem der Immigration ein Problem des Islam ist. Nur ein kleiner Prozentsatz der hier Ankommenden praktiziert ­überhaupt die islamische Lebenspraxis, nicht jeder Flüchtling ist ein Botschafter des Islam. Das Dilemma, zwischen ­Gesinnungs- und Verantwortungsethik unterscheiden zu müssen, stellt sich für Muslime und die Mehrheitsgesellschaft gleichermaßen.
Wer das Ideal offener Grenzen, für Menschen und Kapital, vertritt, wird sich um eine globale, gerechtere Wirtschaftsordnung sorgen müssen. Ein kurzer Blick auf die Verhältnisse in Afrika genügt, um zu ahnen, dass die Möglichkeit der Massenflucht eine der größten Herausforderungen unserer Zeit ist. Mit moralischen Prinzipien allein wird dieses Problem kaum zu lösen sein.