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Heimwärts: Jenseits von Anbiederung und Ressentiment

Ausgabe 363

heimwärts europa
Foto: alexlibris/Adobe Stock

Heimwärts: Schaikh Abdal Hakim Murads wegweisendes Buch über Islam und Europa gibt es jetzt auf Deutsch.

(iz). Es gibt Bücher, die sind für die kommende Saison oder ein aktuelles Thema geschrieben. Daran ist nichts verkehrt, solange sie ihren Zweck erfüllen.

Daneben existieren Werke, die über Jahre, wenn nicht Jahrzehnte hinweg relevant sind. Das trifft auf „islamische Texte“ ebenso zu. Allerdings ist die Einordnung eines Buches als „islamisch“ nur unter eng gefassten Kategorien möglich.

In unserer Sprache ist dazu (noch) nicht viel vorhanden. Ein bleibendes Werk ist das (zu Unrecht so benannte) „Hadith für Schüler“ – die jahrzehntealte Übersetzung der „Arba’in“ von Imam An-Nawawi durch Abdullah Bubenheim. Was diesen Titel unverzichtbar macht, sind seine Fundamentalkommentare aus der traditionellen Lehre – ein beinahe subversiver Akt angesichts der damaligen Dominanz ideologisierter Islamdeutungen.

Ebenfalls genannt werden muss das „Handbuch Islam“ von A. Reidegeld, das erste und beste Kompendium über die Ibadat und Glaubenslehre aus Sicht der vier Schulen. Schließlich wären die deutschen Übersetzungen des „Kitab Asch-Schifa“ und der „Muwatta“ von Imam Malik zu nennen (beide durch Abdulhafidh Wentzel).

Jenseits dessen wird die Luft auf dem heimischen Buchmarkt schon dünn. Jetzt hat der in Köln sitzende Verlag Plural Publications im Juni mit „Heimwärts“ von Schaikh Abdal Hakim Murad einen Titel von gleicher Relevanz veröffentlicht.

Die von Tariq Cviko übersetzte Sammlung der Essays des britischen ‘Alims und Professors erschien 2020 als „Travelling Home“. Das Buch ist kein klassisches Werk über Fiqh, Glaubenslehre, Hadithe oder einer der verschiedenen Wissenschaften des Islam.

Das macht „Heimwärts“ nicht weniger wichtig. Im Gegenteil. Es füllt eine riesige Lücke: eine erhellende, mutige und polemische Reflexion über den Daseinszweck der europäischen Muslime.

Das Buch erinnert uns an die die Rückbindung zu Allah und die Schicksalhaftigkeit unserer Existenz an diesem Ort, in dieser Zeit. Man merkt: Hier schreibt nicht nur jemand mit dem nötigen Wissen, sondern auch mit der gebotenen Leidenschaft und Ernsthaftigkeit.

Foto: Cambridge Muslim College

Seine inhaltlich verschiedenen Essays behandeln die Herausforderungen hiesiger Muslime im 21. Jahrhundert. Murad, selbst Europäer, betrachtet den westlichen Umgang mit Allahs Din als eine Geschichte, in der der Westen sich oft als Gegenpol dazu definiert hat.

Der zentrale Gedanke des Buches ist die Hoffnung auf sein Wachsen und Gedeihen selbst an Orten, die aus muslimischer Sicht kulturell entfremdet oder säkularisiert sind.

Eine wichtige Figur ist dabei für ihn Ismail. Der Sohn Ibrahims ist in Murads Denken ein Referenzpunkt. Und steht für eine tiefe Verbindung zu den ursprünglichen Quellen und zur Tradition des Islams, die im modernen Europa lebendig gehalten und neu interpretiert werden soll.

Dabei wird schon aus der furiosen Einleitung klar, dass sie für den britischen Gelehrten nichts Antiquarisches oder zu Bewahrendes ist, sondern ein Feuer im Kern, dass den Din vital erhält.

Gleich im ersten Aufsatz erinnert er die europäischen MuslimInnen, dass ein Verständnis für den sie umgebenden Ort Teil des abrahamitischen Maqam ist. Muslim zu werden, oder sich das traditionelle Bewusstsein von Allahs überwältigender Allgegenwart bewahrt zu haben, bedeute, das Land mit Verständnis zu betrachten.

Und daher Wurzeln zu schlagen sowie sich mit dem Ort auseinanderzusetzen. Murad selbst versteht seine „Sammlung polemischer Essays“, als Gegenentwurf zur heutigen Gewohnheit, Islam und Europa als fremde Phänomene zu begreifen.

Ein wichtiges Gegensatzpaar negativer Begriffe „Tanfir“ und „Assimiliation“, die den gesamten Text durchziehen. Der Grundgedanke ist, dass die exklusive Abgrenzung (Tanfir) der vermeintlichen „Reinen“ und die Aufgabe der religiösen Identität zugunsten einer Assimilation problematisch sind. Er plädiert stattdessen für einen ausgewogenen Weg, bei dem Muslime ihr Selbstverständnis bewahren und gleichzeitig in Europa verwurzelt sind, ohne sich entweder in Abgrenzung zu verlieren oder sich vollständig aufzulösen.

Die Relevanz seines Denkens zeigt sich in der begründeten Ablehnung politisierter und/oder postmoderner Begrifflichkeiten. So widersetzt sich Murad mutig der Gleichsetzung des Hasses auf Muslime mit einer „Form von Rassismus“.

Ihre Vertreter missachteten den Wunsch vieler religiöser Gemeinschaften, als Glaube wahrgenommen zu werden. Stattdessen würden sie als Ethnie oder Hautfarbe definiert; auch von ihren vermeintlichen FreundInnen.

„Da sich etwa neun Prozent der britischen Muslime bei der Volkszählung 2011 als ‘weiß’ bezeichneten, und die Mehrheit der Schweizer Muslime ebenfalls ‘weiß’ ist, könnte die Auffassung, dass Islamophobie mit Rassismus verknüpft sei, sich selbst als eine Form rassischer Diskriminierung erweisen. Denn sie de-islamisiert oder marginalisiert europäischstämmige Ismaeliten aus ‘rassischen’ Gründen.“

Darüber hinaus ignorierten diese „Antirassisten“ die Sicht des Qur’an, „der für die muslimische Debatte maßgeblich ist“. Die Feindschaft gegenüber dem Propheten ließe sich nur verstehen, wenn man erkenne, „dass sie ihrem Wesen nach auf dem Din beruhte, nicht auf der Stammeszugehörigkeit“.

Foto: Salsabil Morrison

„Heimwärts“ ist nicht nur ein Buch, dessen Inhalte zu einer tieferen Beschäftigung mit dem Thema anregen. Es ist gleichermaßen ein Text, der Widerspruch herausfordert und zu ihm einlädt, ohne dadurch etwas von seiner Relevanz und Wichtigkeit zu verlieren: So hat sich sein Autor in meinen Augen für eine falsche Interpretation der abendländischen Geschichte entschieden.

In seiner Darstellung entstanden Liberalismus und alle säkularen Folgeideologien gegen das Christentum – letztendlich als die bösen Anderen. Stattdessen kann man Liberalismus und Moderne als Kinder der Tradition verstehen. Sie sind ihre Nachkommen und aus ihren Widersprüchen erwachsen.

Man muss nicht so weit gehen wie Heidegger und den Verfall bei Sokrates beginnen lassen. Nur, die Grundsteine für die wesentlichen Elemente der kapitalistischen Seinsweise bestanden in Mehrheit, bevor es mit der Reformation losging.

„Heimwärts“ von Schaikh Abdal Hakim Murad ist Pflichtlektüre für alle, die sich für die Möglichkeit und das Schicksal des Islams bzw. der Muslime in Europa interessieren. Und gerade für den aktivistischen Teil unserer Gemeinschaften, die hier an Gegensätzen mitbauen, wo es keine gibt.

* Abdal Hakim Murad, Heimwärts – Über den Islam in Europa, Plural Publications 2025, Taschenbuch, 432 Seiten, ISBN 978-3949982712, Preis: EUR 17,95

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