Hintergrund: Die digitale Welt des Internets hat unser Leben bleibend verändert. Von Sulaiman Wilms

Ausgabe 203

(gm). Das Internet, seine Megakonzerne, die scheinbar mit dem Nichts Geld verdienen und die dazugehörige Hardware haben unsere Welt verändert. Nur die Wenigsten erkennen, wie tiefgrün­dig unser Alltag durch sie umgekrem­pelt wurde und weiterhin wird. Befreit uns die digitale Welt oder werden zu einer unförmigen Masse kritikloser Endverbraucher, die mehr gefesselt wird, als es ihm bewusst ist?

Unsere Welt besteht aus Bedeu­tungen, die in Form von Bildern verstanden werden. Diese Weisheit gehört zum Grundbestand islamischen Wissens. Beim Schreiben über das Internet, seine Hauptakteure und Auswirkungen auf unser Leben, kommt man nicht um Anekdoten ­herum, um sich dem Thema annähern zu ­können. Bei mir war es es ein Besuch in der arabischen Welt. Dort – in einer globale Kaffeehauskette – saßen rund 60 Studenten. Als ich den Laden mit meinem Kaffee verließ, blickte ich mich um, weil der Shop trotz der Studenten zu ruhig war. Alle, wirklich alle, waren zur gleichen Zeit von den Displays ihrer digitalen Kommunikationsgeräte gebannt.

Als berufsbedingter Netz-Süchtiger überrasche ich mich oft selbst, wie ich zu viel Zeit im Internet verbringen. Es ist nicht nur eine persönliche Marotte, sondern eine Erfahrung, die von vielen geteilt wird. Dies belegt ein Zitat des Pulitzer-Preisträgers Nicolas Carr: „Das Netz scheint mir meine Fähigkeit zur Konzentration und Kontemplation zu zerstören. Mein Geist erwartet nun, Informationen in genau der Weise aufzunehmen, wie sie durch das Netz geliefert werden. In Form eines rasch bewegten Stroms kleiner Teilchen (…).“

Die Welt am Draht
Mit Ausnahme von Technikern und In­genieuren – die auf der fühlbaren ­Seite des weltweiten Netzes arbeiten – gibt es nicht viele Menschen, die wirklich wissen, um was es sich beim Internet handelt. Ironischerweise dürfte den Endverbrauchern und insbesondere jugendlichen Usern (die statistisch gesehen in Europa 5,4 Stunden täglich mit ­digitalen Medien zu tun haben) eine solche Bestimmung am schwersten fallen. Es handelt sich am Ende nicht nur um die Gesamtsumme unendlicher Kabelmeilen, Server oder Steckerverbindungen.

Man muss Rückgriff auf das Denken nehmen, um die Entstehung und den – vermeintlichen – Triumph des Netzes zu verstehen. Bei einem Gespräch mit ­einem Freund fanden wir es einleuchtend, dem Internet die Eigenschaft einer un-echten „Offenbarung“ zuzuschreiben. Es hat „Offenbarungscharakter“, da es seinen Nutzern eine Realität vorgaukelt. Sie ist aber inauthentisch, weil sie sich weder aus einer realen Quelle speist; noch funktioniert sie nach den gleichen menschlichen Verhaltensweisen. Wir würden unseren Nachbarn komisch angucken, wenn er sich plötzlich mit „Paul35“ anreden ließe.

Der Siegeszug des Internets bleibt „vermeintlich“, weil alles davon abhängt, dass es am Netz bleibt. Zieht man den Stecker, wird die gesamte virtuelle Realität irreal.

Von nicht ungefähr rät der Internet-Veteran David Gelernter zu einer distan­zierten Gelassenheit. Er bezeichnete das Internet als „Spiegelrealität“. Es sei „ein virtuelles Konstrukt, das gerade deshalb so problematisch ist, weil es die Realität wiederzugeben scheint“, zitierte ihn das deutsche Wochenmagazin „Die Zeit“ vor einigen Jahren.

Virtuelle Riesen
Sowohl bei den beliebtesten Webseiten, als auch bei sozialen Netzwerken verzeichnen die erfolgreichen Akteure monatliche Zuwachsraten, die Firmen aus der Realwirtschaft vor Neid erblassen lassen müssten. Der Rest verschwindet, oder wird geschluckt. Branchenriesen wie Google oder Facebook konnten auch ­deshalb so schnell erfolgreich werden, weil sie auf ihrem Weg – dank großzügiger Venture-Kapitalgeber – Konkurrenten und Dienstleister schlucken konnten, die zukunftsträchtige Technologien mitbrachten.

Dass sich in der virtuellen Welt Geld verdienen lässt, beweisen die Betreiber der größten Webseiten. Den Anteilseignern von Google, Amazon, Yahoo, eBay, PayPal oder iTunes gehören Konzerne, die jährliche Gewinne in ­Milliardenhöhe einfahren. Sobald Facebook den ersten Teil seines Börsengangs abgeschlossen hat, dürfte es bei der Kapitalsumme auf den obersten Rängen stehen. Sein Unter­nehmenswert wird – nach ­Finanzspritzen von Mail.ru und Microsoft sowie der Hilfe von Goldman Sachs auf rund 50 Milliarden US-Dollar beziffert. Allerdings sieht das von M. Zuckerberg ­gegründete Unternehmen im Vergleich zu den Großen beim Einkommen noch klein aus.

Alles andere als passiv
Muslime machen zwischen einem Fünftel und einem Viertel der Weltbevöl­kerung aus. 2011 waren deutlich mehr als 300 Millionen Muslime online. In vielen OIC-Staaten steigt die Netzabdeckung stetig an. Ein Blick auf den physi­schen Ort der 20 größten Webseitenbetreiber zeigt aber, dass die 19 davon immer noch in den USA sind. Muslime sind als User, Konsumenten und Content-Lieferanten online vertreten, als Hauptakteure blieb ihr Einfluss bisher eher ­bescheiden.

Nicht erst seit der Arabellion nutzen, insbesondere junge Muslime das Internet. Insbesondere in Regionen, in denen sie eine Minderheit sind, ist es entscheidend bei der Identitätsfindung. Laut einer deutschen Studie von 2010 spielt es eine immer größere Rolle bei der Debat­te darüber, was islamisch ist. „Militante Positionen sind selten und werden von der Internetgemeinschaft ausgebremst“, erklärte Projektleiterin Daniela Schlicht. In steigendem Maße setzten sich laut Schlicht mehr muslimische Studenten vor allem in den sozialen Netzwerken mit ihrer Identität auseinander.

Der amerikanische, muslimische Journalist Michael Wolfe, arbeitete unter anderem für PBS und CNN. Für ihn ­haben die nicht mehr ganz so „neuen Medien“ und soziale Netzwerke eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. „Die ­steigende Dominanz neuer Medien ist ein extrem wichtiger Augenblick in den Beziehungen zwischen Muslimen und ihren Nachbarn. Zum ersten Mal können einfache Muslime direkt mit ihren nicht-muslimischen Mitmenschen sprechen (…). Und zwar ohne, dass Mainstreammedien als Mittelsmänner agieren, indem sie ihre Experten auswählen“

Was geschieht mit uns?
Unabhängig davon, wie man sich zu ihnen verhält: Diese Plattformen ­bleiben. Beinahe 50 Prozent aller Internetnutzer sind mit ihnen verbunden. Sind sind längst nicht mehr nur der letzte Schrei unter der Jugend. Vielmehr wurden sie zu einem integralen Bestandteil unsere persönlichen und professionellen Lebens. Was Internetnutzer im Allgemeinen betrifft, so kommen viele ­Wissenschaftler zu ernüchternden Ergebnissen: Studien aus den USA und aus Großbritannien belegen, dass Studenten, die Facebook nutzen, im Durchschnitt schlechtere Noten als ihre Altersgenossen kriegen, die dies nicht tun.

In den USA verbringen Jugendliche mittlerweile mehr Zeit vor digitalen Medien – Computer, Smartphones, Tabletts und Kabelkanälen – als mit Schlafen. Die Deutsche Presseagentur (dpa) beschrieb den – sicherlich nicht untypischen – Fall einer jungen Deutschen: „Die ­17-jährige Franciska kann sich ein Leben ohne Face­book nicht mehr vorstellen. ‘Ich würde es schon wie eine kleine Sucht nennen. Man hat den Drang zu gucken, was los ist’, sagt sie.“

Der Deutsche Manfred Spitzer, Psychologe und Direktor der Psychiatrischen Universitätsklinik Ulm, hat einen Aufsatz zur Wechselwirkung zwischen ­neuen Medien, Lernfortschritt und Gehirnforschung geschrieben. In „Wie das Internet unser Leben verändert“ stellt er wichtige Fragen und gibt nachdenkliche Antworten: „Wie vor etwa einem halben Jahrhundert bei der Einführung des Fernsehens sah man die Auswirkungen ­digitaler Medien auf Bildungsprozesse zunächst ausschließlich positiv (…). TV-Konsum korreliert negativ mit der Bildung der Konsumenten. Bei den digitalen Medien ist dies ähnlich: Ein Computer zuhause geht mit schlechteren Schulleistungen von 15-Jährigen einher.“

Aus der Gehirnforschung wisse man, dass sich dieses Organ durch den Gebrauch permanent ändert. „Jedes Wahrnehmen, Denken, Erleben, Fühlen und Handeln hinterlässt Spuren, die man seit mehr als einhundert Jahren auch so nennt: Gedächtnisspuren.“ Weil das Gehirn immer lernt (es kann gar nicht anders), hinterlässt auch die mit digitalen Medien verbrachte Zeit ihre Spuren in unserem Gedächtnis. Kinder lernen laut Spitzer „ganzheitlich“. Deshalb könnten sie bis zum dritten Lebensjahr auch nichts mit digitalen Inhalten anfangen. Sie bräuchten das Zusammenspiel aller Sinne und der ­sozialen Kontakte. Jugendliche hingegen hätten zunehmend Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren, zu verstehen oder einen zusammenhängenden Text zu schreiben. Ihre Fähigkeit zur Konzentration der Aufmerksamkeit und Versprachlichung von Gedanken hat abgenommen. Genau wie ihre soziale Kompetenz. „Denn zur Dummheit gesellt sich eine merkwürdi­ge Dumpfheit: Jugendliche wissen nicht mehr, wie man sich verhältnismäßig ­benimmt.“

Eine unheilige Allianz
Das Verhältnis zwischen staatlicher Kontrolle und Eigendynamik großer ­Internetgiganten ist kein einfaches. Einer­seits wollen sich staatliche Stellen – auch in rechtsstaatlichen Demokratien – das Know-how dieser Monstren sichern, die oft über mehr Ressourcen verfügen, als sie selbst. Die meisten staatlichen Kontrolleure würden sich die Finger nach dem Informationspotenzial von Facebook nutzen, das dies aus Profilen seiner rund 700 Millionen Mitglieder interpolieren kann.

Vor uns Normalbürgern verborgen besteht eine Grauzone zwischen Geheimdiensten und kommerziellen Internetun­ternehmen. Alleine in Washington ­sollen hunderte solcher Firmen das Internet überwachen und im „data mining“ aktiv sein. In jeder Industrienation wird der elektronische Verkehr anhand bestimmter Schlüsselwörter automatisch überwacht. Allerdings dürfte die ständig steigende Datenmenge eher Anlass für Kopfschmerzen als für Freude bei staatlichen Kontrolleuren sein.

Evgeny Morozov ist Mitherausgeber des Magazins „Foreign Policy“. Seine Einschätzung über das Verhältnis zwischen Politik und Internetgiganten ist bezeichnend: „Diese Unternehmen haben ihre eigenen kommerziellen Absichten. Es geht ihnen vor allem darum, Geld zu verdienen (…). Die eigentliche ­Frage ist also, wie wir die unleugbare Macht dieser Firmen zu unserem Vorteil ­nutzen können, ohne sie wie einen verlängerten Arm der amerikanischen Außenpolitik erscheinen zu lassen. Die Leute ­beäugen diese plötzliche Nähe zwischen ­Politikern und Unternehmen skeptisch, zumal Google auch noch mit der NSA kooperiert.“ Wie mittlerweile ­bekannt ist, gehö­ren dem US-Geheimdienst CIA Unternehmensanteile von ­Facebook. Die CIA ist Mitbesitzer eines Unternehmens, dass sich beim Konzern von Mark Zuckerberg eingekauft hatte.

Es gibt auch in Deutschland Überlegungen zur strategischen Nutzung des Netzes: Wie die Zeitschrift der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik („Internationale Politik“) schreibt, lassen sich Web-Foren für „professionelle politische Kampagnen“ einsetzen. Insbe­sondere aus Menschen, die in den „Krisenregionen“ der Welt lebten, könne man auf diese Weise „aktive Akteure“ im Sinne der deutschen Außenpolitik machen. Das in den „Web 2.0-Communities“ weltweit akkumulierte „kreative Potenzial“ lasse sich von der deutschen Politik gewinnbringend ­“abschöpfen“.

Wie der US-Politikwissenschaftler Jakub Grygiel ausführt, erlaube das „Phänomen“ der „Cyber Mobilization“ eine „schnelle Entstehung von Gruppen mit umfassender Reichweite“, die das Poten­zial besäßen, „großen Schaden anzurich­ten“. „Der Staat mit seiner ausgeprägten logistischen Infrastruktur und Managementfähigkeit“ werde „durch diese Netzwerkgruppen nicht nur bedroht“, sondern sei „auch nicht in der Lage, sie zu kontrollieren. (…) Im virtuellen Raum finden auch extremistische ­Minderheiten die Möglichkeit, ihren Interessen und politischen Passionen Ausdruck zu verleihen“, schrieb Grygiel.

Ein Beispiel für das Zusammenspiel zwischen ökonomischen Akteuren und staatlichen Stellen ist das weiterhin umstrittene ACTA-Abkommen. Im Namen von Copyright-Besitzern stehen Internetprovider in der Pflicht zu überprüfen, was ihre Kunden im Internet tun, um gegen Filesharer vorgehen zu können. Wie bereits bei der Privatisierung von Gefängnissen werden staatliche Hoheits­aufgaben an Privatstellen ausgegliedert. Weil ACTA unpräzise formuliert ­wurde, kann es außerdem dazu benutzt werden, um staatliche Interessen durchzusetzen.

Gibt es Freiheit im Netz?
Jeden Tag wird unser Leben immer mehr von Elementen der virtuellen Welt durchdrungen. Das erhöht nicht nur unsere Optionen, sondern steigert auch die Gefahr für unsere Freiheit. ­Zweifelsohne braucht es eine balancierte Einstellung – zwischen Maschinensturm und kritikloser Umarmung.

Für online-Nutzer und insbesondere Jugendliche braucht es eine gezielte Stärkung ihrer Medienkompetenz, allen voran im Umgang mit den digitalen Medi­en. Dies fängt bereits im Kleinkind-Alter an und setzt sich bis zur höheren Universitätsbildung fort. Eltern sind gefordert, einen gesunden Mittelweg zu ­gehen. Einerseits kann es – im Sinne ihrer Zukunftsfähigkeit – nicht in ihrem Sinne sein, dass ihre Kinder zu „elektronischen Analphabeten“ werden. Andererseits müssen sie eingreifen, bevor ihre Anbin­dung an die virtuellen Welten schädlich werden. David Gelernter gab uns ­einen guten Rat: „Ich würde ihm ein einfaches Handy geben, damit es zu ­Hause anrufen und notfalls mit seinen Freunden sprechen kann, und es ansonsten zum Spielen rausschicken.“

Im sozialen und politischen Kontext braucht es ein kollektives Bewusstsein von den Gefahren des Internets für den Menschen als soziales Wesen. Diese müssen verstanden werden und es sollte dementsprechend gehandelt werden. Vor seinem Amtswechsel forderte der ­damalige deutsche Innenminister, Thomas de Maizière, das Internet mit einer Funktion des „Vergessens“ zu versehen. Dies könnte verhindern helfen, dass aus dem Web 2.0 am Ende nicht doch eine Stasi 2.0 wird – mit virtuellen ­Geheimdienstakten.