(iz). Im spärlich beleuchtetem Raum eines bescheidenen Hauses in Srinagar, der Hauptstadt des indisch besetzten Teiles von Kaschmir, ist seit sechs Jahren eine stille Revolution im Gange. Eine Revolution ohne Bomben und Kugeln gegen extravagante Hochzeiten, die ins mehrheitlich muslimische Kaschmir massiv zurückgekehrt sind. Hier tobt seit mehr als zwei Jahrzehnten der anti-indische Aufstand – der in den letzten Jahren an Gewalt verloren hat.
Angeführt wird die Bewegung von Fayaz Ahmad Zaroo, einem 43-jährigen Gelehrten. Zaroo ist Gründer von Humsafar („Gefährte“ auf Urdu) Hochzeits-Rat (HMC). Die NGO für muslimische Eheanbahnung ermutigt Kaschmiris, sich in Einklang mit den Lehren des Islam für einfachere Hochzeiten zu entscheiden. Rund 1.100 Menschen haben unter der Ägide von HMC den Bund fürs Leben geschlossen – alleine 60 in den letzten drei Monaten. Derzeit sind rund zehntausend Heiratswillige hier registriert.
Die Menge, auch wenn sie gering ist, hat eine enorme Bedeutung. Die Menschen in Kaschmir sind bekannt für ihre extravaganten Hochzeiten. Das Hochzeitsgewerbe ist längst zu einem millionenschweren Industriezweig geworden. Das meiste Geld wird für das Wazwan ausgegeben, eine Reihe von Lammgerichten mit bis zu 15 Gängen, die im Zentrum einer Hochzeit in Kaschmir steht. Tatsächlich gilt in der Region eine Eheschließung als unvollständig, wenn es kein Wazwan gibt. Die Feierlichkeiten dauern im Schnitt zwei bis drei Tage. Selbst für die Habenichtse ist es fast zur Pflicht geworden, eine umwerfende Auswahl an Delikatessen aufzutischen.
Kaschmir ist ein atemberaubend schönes Tal, das oft als die „Schweiz Asiens“ bezeichnet wird. Es liegt im Kern der Feindseligkeiten zwischen den nuklear bewaffneten Nachbarn Indien und Pakistan, die seit der Unabhängigkeit von 1947 zwei Kriege um das Gebiet am Fuße des Himalaya geführt haben. Indien und Pakistan kontrollieren jeweils einen Teil der Provinz, beanspruchen aber beide die gesamte Region für sich.
Seit 1989, als kaschmirische Separatisten mit pakistanischer Unterstützung einen bewaffneten Aufstand gegen die indische Kontrolle begannen, waren Hochzeiten eher maßvolle Angelegenheiten. Feuergefechte und die häufigen Einschränkungen durch Ausgangsspeeren erlaubten es den Gastgebern nicht, sich in der traditionellen Extravaganz zu ergehen.
Seit 2004 gab es ein beträchtliches Absinken der Gewalt, nachdem Indien und Pakistan ihren mehrschichtigen Dialog aufgenommen haben. Deshalb kehrten die Hochzeitszeremonien zur früheren Aufwändigkeit zurück. Das führte zu selbstgemachten Lasten durch die Kosten, welche die Finanzmittel der Betroffenen bei Weitem übersteigen. Wieder geben die Gastgeber pompöse Feste, deren schieres Ausmaß sie zu einer Art Statussymbol im ganzen Kaschmirtal machen – insbesondere in Srinagar.
Während einer durchschnittlichen Hochzeit werden hier rund 400 bis 500 Kilo Lammfleisch vorbereitet. Das führt bei vielen Familien dazu, dass sie in Schulden versinken. Aus diesem Grund erließ die Regierung 2005 ein Gesetz, das die Anzahl der Hochzeitsgäste und die Menge der servierten Fleisches begrenzen sollte. Auf Seiten des Bräutigams wurde die Menge der Gäste um mehr als die Hälfte reduziert. Die Anweisung belegte die Menge des angebotenen Fleisches mit einer Obergrenze: Nur 100 Kilogramm Fleisch, mit 2 Kilo für jedes „Tarami“ (eine Kupferplatte, von der bis zu vier Personen essen können), dürfen auf einer Hochzeit serviert werden.
Das Gesetz führte aber erwartungsgemäß zu wütenden Protesten der Bevölkerung, die die Regierung zu einer Zurücknahme der Regelung zwang. Die Menschen argumentierten, dass es dank des engmaschigen sozialen Netzes in Kaschmir schwierig sei, die Anzahl von Gästen zu verringern.
Je mehr sich Hochzeiten verteuern, desto häufiger werden sie hinausgezögert, was zu einer Art sozialer Katastrophe führt. Bis in die frühen 1990er Jahren heirateten junge Frauen in Kaschmir durchschnittlich im Alter von 20 Jahren. „Jetzt liegt das Durchschnittsalter von Frauen bei der Eheschließung bei 27, während es im Falle der Männer im Zeitraum von 24 bis 32 Jahren liegt“, berichtete die in Srinagar erscheinende Zeitung „Conveyor“. Sie berief sich dabei auf eine Studie der soziologischen Fakultät der Universität von Kaschmir.
Nach Angaben von Schahzada Saleem, einem Soziologen, „stieg die Anzahl der Singles in Kaschmir auf bis zu 65 Prozent an. 45 Prozent davon sind weiblich und 20 Prozent männlich“. Der bekannte Forscher und Soziologe Dr. Bashir Ahmad Dabla, der die Studie leitete, sagte dazu: „Das Singledasein ist eine der schlimmsten Folgen des anhaltenden bewaffneten Konfliktes im Tal.“ Er führte zu rund 80.000 Menschen und ließ tausende Witwen und Waisen zurück.
Im Gespräch mit einem muslimischen Online-Medium in seinem Büro, dessen Wände mit qur’anischen Texten und hunderten Büchern gefüllt sind, sagte Islam Zaroo: „Viele junge Kaschmiris begehen Unzucht, während viele Paare auf die Zivilehe zurückgreifen müssen, die gegen die Lehren des Islam gerichtet ist.“ Zaroo übertreibt nicht, soweit es die sozialen Schäden betrifft, die durch Veränderungen bei der Institution der Ehe hervorgerufen wurden. Das Singledasein hat, wie die Studie der Universität von Kaschmir zeigt, die in zehn Bezirken durchgeführt wurde, zu einem Anstieg vorehelicher Geschlechtsbeziehungen geführt. Rund 16 Prozent aller Befragten gaben an, sie beteiligten sich wegen der späten Eheschließung an vorehelichem Sex, während 24 Prozent der Menschen wegen ihrem Singlestatus unter Depression litten.
In einem Bericht der globalen NGO zur Korruptionsüberwachung, Transparency International, vom Jahre 2005 soll Kaschmir die zweitkorrupteste Region Indiens sei. Fayaz Ahmad Zaroo sieht eine der Ursachen für diese wachsende Korruption in der Tendenz, unnötige Gebräuche zu übertreiben. „Da die Mehrheit der Leute nicht in der Lage ist, die Kosten für die Traditionen auf einer Hochzeit zu decken, wenden sich sich verbotenen (haram) Mitteln des Gelderwerbs zu“, sagte er. „Die Sorge“, so Zaroo, „hat mich und gleichgesinnte Freunde dazu veranlasst, [die NGO] Humsafar zu gründen.“
Zu Beginn der Arbeit wurde ein Vorstand aus 24 Mitgliedern, mit dem Namen Islamic Dawah Centre, aus islamischen Gelehrten und Sozialarbeitern gegründet, um den Betrieb der NGO zu kontrollieren. Der Prozess der Eheschließung beim HMC beginnt mit einer nominellen Gebühr von ca. 5,90 Euro. Die beteiligten Parteien werden dann gebeten, vollständige Angaben für eine Registrierung zu machen. Wenn ihre Wünsche zueinander passen, erhalten sie die Angaben zum respektiven Ehepartner. Sobald beide Seiten zufrieden sind, setzt die NGO, mit Zustimmung der zukünftigen Eheleute, einen Termin für die Eheschließung und die Summe der Brautgabe fest. Die Eheschließung findet üblicherweise in einer Moschee statt. Und der Verein arrangiert auch ein Fest, das natürlich einfach gehalten ist. Die ganze Sache kostet umgerechnet ein paar Dutzend Euro.
Die Eheschließung ihrer Klienten wird von Anfang bis Ende, wenn die Braut im Heim ihres neuen Gatten ankommt, kontrolliert. Freiwillige stellen auch sicher, dass beide Familien kein Bargeld oder Sachgegenstände austauschen, ohne dass die NGO informiert wird. „Wird der Braut oder dem Bräutigam etwas von ihrem neuen Familienanhang geschenkt, darf es keine Verpflichtung für die andere Seite geben, diese Tat vergelten zu müssen. Geschenke sind erlaubt, aber sie sollten nicht zwangsweise entgegnet werden“, berichtet Zaroo. Die NGO bietet auch Beratungen für angehende Paare an. Auch bemüht man sich, geschiedene Männer und Frauen zu einer erneuten Eheschließung zu motivieren, was bisher hier eher unüblich war.
Mindestens ein Dutzend junger Männer, die beispielsweise im letzten Juni den Ehebund schlossen, gehören unterschiedlichen Berufsgruppen und Einkommensschichten an. Darunter sind ein Kieferchirurg, eine Computeringenieur, ein Beamter, ein Elektriker und ein Geschäftsmann. Einer von ihnen, der 28-jährige Computerfachmann Inayat Nabi, ist voll des Lobes für die Arbeit des Humsafar Marriage Council. Als er von dessen Arbeit hörte, ging er sofort ins HMC-Büro, um sich dort registrieren zu lassen. „Alhamdulillah fand ich durch Humsafar nach einigen Monaten die geeignete Partnerin“, erzählt er. „Ich bin glücklich, dass ich die richtige Entscheidung getroffen habe, und lade auch andere ein, dort beizutreten.“ Ein anderer IT-Experte, der 30-jährige Irfan Shah, berichtete, wie er sich ebenfalls dazu entschieden hat, mit Hilfe der NGO zu heiraten. „Der Islam lehrt nicht, uns in unnötigem Prunk und Gehabe zu ergehen. Aus diesem Grund habe ich mich für eine simplere Nikkah-Zeremonie entschieden“, sagt er.
„Islam hat eine Hochzeit als Gelegenheit zum Feiern gemacht, und nicht, um uns verarmen zu lassen. Wir sollten sie so einfach wie möglich gestalten“, meint HMC-Direktor Zaroo abschließend.
Wie Paaren beim Heiraten geholfen wird
Ausgabe 239