Interview mit der Germanistin Heike Wiese

Ausgabe 201

„Allah, auf sie“ oder „Ich bin Alexanderplatz“ – Viele haben solche Sätze schon einmal gehört. Fast scheint es, als sei Kiezdeutsch, zumindest in den Großstädten, in aller Munde. Die Potsdamer Germanistin Heike Wiese erforscht das Phänomen seit neun Jahren. Am Donnerstag erscheint ihr Buch zu dem Thema im Münchner Beck-Verlag. Im Interview erläutert Wiese die Besonderheiten des neuen Dialekts.

Frage: Frau Wiese, wie sind Sie überhaupt dazu gekommen, sich mit dem Thema Kiezdeutsch zu befassen?

Heike Wiese: Mein Lehrstuhl an der Universität Potsdam hat die Bezeichnung „Deutsche Sprache der Gegenwart“. Kiezdeutsch ist da ein wichtiger Faktor. Denn es tritt als Phänomen vor allem in mehrsprachigen Gemeinschaften auf. Und die gibt es immer häufiger.

Frage: Im Bus und auf der Straße kann man’s hören…

Heike Wiese: Ja, und das ist der zweite Grund, warum ich mich damit beschäftige. Denn in Kreuzberg, dem Bezirk, in dem ich wohne, konnte ich immer wieder Gespräche zwischen Jugendlichen belauschen, bei denen ich mir gesagt habe: Da entwickelt sich was Neues.

Frage: Und was entwickelt sich da?

Heike Wiese: Ein neuer Dialekt. Wobei wir diesen Begriff für Soziolekte, also bestimmte Ausdrucksformen etwa innerhalb von Berufsgruppen, wie auch für regionale Dialekte, zum Beispiel Bayerisch oder Schwäbisch benutzen. Beim Kiezdeutsch kommt beides zusammen: Es ist zwar nicht an bestimmte Schichten gebunden, taucht aber nur in einem besonderen sozialen Umfeld auf, nämlich in multiethnischen, mehrsprachig geprägten Vierteln.

Frage: Können Sie Beispiele für Unterschiede zum Hochdeutsch nennen?

Heike Wiese: Da gibt es arabische oder türkische Füllwörter wie „yallah“ – „Auf geht’s, los!“ oder „lan“ – „Kumpel, Alter“. Gegenüber dem Standarddeutschen sind auch neue Wortstellungen zu ­beobachten. So ist beim Kiezdeutsch möglich, zwei Elemente vor das Verb zu stellen. „Danach ich gehe Kino“ wäre ein typischer Satz. Aus Sicht der Informationsstruktur ist das durchaus sinnvoll und war desweg­en auch schon einmal im 15. Jahrhundert im Deutschen verbreitet. Ein anderes Beispiel ist der Gebrauch eigener Strukturwörter. Um beim Kino zu bleiben: „Wir gehen jetzt so ins Kino so.“

Frage: So?

Heike Wiese: Eine ähnliche Verwendung von „so“ habe ich zum Beispiel bei Helmuth Karasek gefunden. Ich selbst verwende das ebenfalls.

Frage: Warum sehen manche Kritiker im Kiezdeutsch dann den Untergang des Abendlandes?

Heike Wiese: Das Echo auf unsere Forschungen ist in der Tat bisweilen sehr emotional. Fakten spielen da eine eher untergeordnete Rolle. Umso wichtiger ist es, dass wir als Sprachwissenschaftler Aufklärung leisten. Denn der Untergang des Abendlandes wird durch das Kiezdeutsch sicher nicht herbeigeführt.

Frage: Aber vielleicht die Abschottung im Sinne einer Parallelgesellschaft?

Heike Wiese: Im Gegenteil. Kiezdeutsch ist eine, wie ich finde, sehr originelle Koproduktion zwischen Jugendlichen deutscher und anderer Herkunft. Insofern sagt Kiezdeutsch sehr viel über Integration aus und darüber, wie aus einem Dialog, einem Zusammenleben, Neues entstehen kann. Frage: Wenn ich mich jetzt bei Ihnen auf Kiezdeutsch bedanken würde, was müsste ich dann sagen?

Heike Wiese: Am besten einfach „Danke“ – das funktioniert immer. (Interview: Joachim Heinz/KNA)