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Kommentar: Jeder sein eigener Sender und Empfänger. Kann das funktionieren?

Ausgabe 319

Foto: andyller, Adobe Stock

(iz). Vom legendären US-amerikanischen Künstler Andy Warhol stammt die bekannte Aussage, wonach jeder „seine 15 Minuten Ruhm“ einmal genießen werde. Die häufigste Auslegung bezieht sich auf die Flüchtigkeit von Ruhm und medialer Aufmerksamkeit. Damals waren die Verhältnisse der öffentlichen Kommunikation klein im Vergleich zu heute. Heute, mit einer in Relation zu Warhols Zeiten minimalen Aufmerksamkeitsspanne, wirkt dieser Satz beinahe antiquiert. Hier und heute mindestens genauso relevant wie die „15 Minuten“ ist das kleine Wort „jeder“. In Warhols Zeiten waren – von Künstlern, VIPs und Autoren abgesehen – mehrheitlich überpersönliche Strukturen für Kommunikation zuständig. Das hatte Vor- und Nachteile. Ein positiver Aspekt war der Prozess von Filterung und langsamer Entwicklung sozialer Debatten, was die Möglichkeiten einer sofortistischen Empörung reduzierte.

Wir leben in neuen Zeiten: Jetzt kann jeder zugleich Sender und Empfänger, Redakteur und Leser, Produzent und Konsument von „Content“ sein – und das auch in Echtzeit. Und das ohne Filterung, Differenzierung und Abgleich mit anderen. Alle verfügbaren Mittel – von YouTube, über das Nonsense-Portal TikTok und die beinahe behäbig wirkenden Plattformen Twitter sowie Facebook bis zu den nun dramatisch ins Blickfeld geratenen Messengerdiensten wie Telegram – sind auch Orte eines unbedingten Subjektivismus geworden, die eine Gefahr für Radikalisierung in sich birgt. Letzterer gerät jetzt als Vehikel für eine massive und rapide Mobilisierung zur Radikalisierung und als Hilfsmittel für die Organisation von „Freiheitsmärschen“ ins Zentrum der Debatte.

Was vor gefühlt 20 Jahren als Mittel von Demokratisierung, Freiheit, sozialer Mobilität und Alternativen zum etablierten „Mainstream“ gesehen und erhofft wurde, hat längst seine dunklen Seiten enthüllt. Geäußerte Sorgen sind angesichts der in Echtzeit stattfindenden Selbstradikalisierung von Sprache und Inhalt begründet. Am 8.12.2021 hat der zumeist kluge Sascha Lobo im SPIEGEL die Abgründe und Mitverantwortung von Telegram argumentiert. Er sieht den von einem russischen Unternehmer in Dubai betriebenen Dienst als Ort von „Falschnachrichten“, „Propaganda“ und „Widerstandsparolen“. Die Plattform sei „strukturell besonders gut geeignet für Radikalisierungen aller Art“. Auch die Daesh-Mörder hätten sich ihrer bedient. Hier funktioniere die Radikalisierung von „zuvor einigermaßen bürgerlichen Menschen so ausgezeichnet“.

Es wäre an dieser Stelle banal, zu betonen, dass die Entwicklung von Kommunikationstechnologien und -gewohnheiten längst die muslimische Community erfasst und womöglich irreversibel verändert hat. Das hat zweifelsohne gute Seiten: Von Accounts auf Instagram bis zu Blogs und YouTube-Kanälen werden nicht nur mehr, sondern auch unterschiedliche muslimische Stimmen hörbar – und relevanter. Und auch die bisherigen muslimischen Strukturen können insbesondere in Zeiten der Pandemie und des gemeinschaftlichen Stillstands ihre Leute erreichen. Hier aufgewachsene dynamische Imame haben längst ein digitales Standbein entwickelt.

Das bringt Nachteile mit sich: Bereits vor beinahe zwei Jahrzehnten erahnten wir in dieser Zeitung die Gefahr, dass jede/r zum eigenen Imam, Mufti und Schaikh in Personalunion wird. Diese Ahnung hat sich in Teilen bewahrheitet. Die Konsequenzen dieser Kakofonie und Erosion überpersönlicher Kommunikation in der muslimischen Community sind evident. Wer kann überhaupt die Vielzahl der vielen Kanäle auf allen Plattformen überhaupt im Blick behalten? Hier kommt die oft beschworene „Vielfalt“ an ihre Grenzen, wenn verbindliche Ordnungsmuster und zielgerichtete Dynamiken fehlen.

Nicht nur fördert das erwiesenermaßen Phänomene wie die Entwicklung extremistischer Filterblasen, in denen ExpertInnen mittlerweile von der Chance einer „Blitzradikalisierung“ ausgehen. Insbesondere die technologischen Parameter dieses Phänomens erschweren die Möglichkeit, dass fundiertes islamisches Wissen überhaupt ausgleichend hineinwirken kann. Eine in der Gewaltprävention arbeitende Psychologin meinte vor wenigen Tagen im Gespräch, dass es schwierig sei, hier online ausgleichend zu arbeiten. Die zumeist jungen Menschen müssten „offline“ angesprochen werden.

Onlineradikalisierung ist nur ein relativ kleiner Aspekt. Viel alltäglicher ist eine langsame Erosion von so etwas wie „Konsens“ (der zusätzlich von Einzelmeinungen als historisch konstruiert beschrieben wird), Verbindlichkeit aber auch das gemeinschaftliche Erkennen von Prioritäten und Relevanzen. Die Strukturen der muslimischen Selbstorganisation haben die Entstehung neuer, einflussreicher Kommunikationswege und ihrer Konsequenzen (wohl auch aus objektiv verständlichen Gründen) lange nicht wahrgenommen.

Hinzukommt, dass seit den Bemühungen um eine Institutionalisierung der Muslime in Deutschland ab dem 11. September 2001 kein Augenmerk auf die Entwicklung und Betreuung einer funktionierenden – vertikaler und horizontaler – Kommunikation gelegt wurde. Muslimische Repräsentanz heute ist längst in der Lage, einen professionellen Diskurs gegenüber Politik und „Gesellschaft“ zu führen. Gleiches entstand nicht nach innen hinein.

Ein reflektierter Gebrauch (Stichwort „Medienkompetenz“) der neuen Kanäle und ihrer unübersichtlichen Medienlandschaft kann aber nicht nur delegiert werden. Es reicht uns nicht, wenn Repräsentant XYZ mittlerweile in der Lage ist, sachlich und professionell gegenüber der Kamera zu agieren. Die einzelnen Bestandteile unserer Community sind gleichermaßen gefordert, sich als Empfänger und Sender gleichermaßen die nötige Reflexion und Verhaltenheit anzueignen.

Dazu gehört auch, dass wir – bei aller Sympathie für das Individuum als Contentlieferant – Medien und Plattformen haben, die in der Lage und gewillt sind, die innewohnende Subjektivität zu überwinden und jenseits ihrer Echokammer zu kommunizieren.

Freie Medien wie die „Islamische Zeitung“, auch wenn jeder irgendeinen Grund zu Unzufriedenheit wohl finden mag, sind in dieser Zeit mindestens genauso relevant wie „Fatwarunden“ auf Instagram. Das ist nicht im luftleeren Raum möglich und sie brauchen – wenn sie frei bleiben sollen – den nötigen materiellen und spirituellen Support aus der Community.