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Krieg in Europa: Sind Deutschlands Muslime auf die Realität vorbereitet?

Ausgabe 322

Foto: Corona Borealis Studio, Shutterstock

(iz). Jenseits der „Breaking News“ (die derzeit in der Tat zum „Brechen“ und häufig nur „der Schaum von Ereignissen“ sind) bleibt die Frage, ob wir als deutsche – und damit europäische – Muslime etwas Sinnvolles sagen können, das sich nicht auf Emotionen und „Flagge zeigen!“ beschränkt.

Eine reine Wiederholung des momentanen Dauersprechens derjenigen, die eh schon öffentlich reden, sowie eine bloße Wiedergabe von Oberflächen-Informationen können wir uns schenken. Sie läuft im 24/7-Modus über die Streamingportale der Nachrichtensender und Medienhäuser. Und für eine ernstzunehmende geopolitische Analyse fehlen uns in Deutschland (noch) die Ressourcen.

Was uns (außer Bekundung von Ablehnung dieses Angriffs) im Augenblick möglich ist, kann die Formulierung von Gedanken sein, die gegebenenfalls auf den ersten Blick egozentrisch erscheinen, weil sie nicht kaum mit der Ukraine und ihrem Angreifer zu tun haben. Interessant ist trotzdem, was die Realität eines großflächigen Angriffskriegs im heutigen Europa sowie für die hartnäckigen Islamdebatten (eigentlich eher Muslimdebatten) in Deutschland und Europa bedeuten könnte.

Back to Reality

Auf unserem Kontinent bis zum Ural und Kaukasus leben (je nach Schätzungen) mindestens 40-50 Millionen. Ungeachtet, wo sie oder ihre Vorfahren herkommen oder ob sie Teil von autochthonen Bevölkerungen sind, macht sie das existenziell zu Europäern. Daran ändern die permanent mutierenden postmodernen Diskurse von Identität und Zugehörigkeit nicht viel.

Das war schon so, bevor in der Nacht zum 24. Februar die ersten Panzer in die Ukraine rollten. Jetzt hat sich das Gewicht der existenziellen Zugehörigkeit der Muslime zum europäischen Kontinent erhöht. Egal ob man marokkanischer Tomatenpflücker in Spanien, somalischer Flüchtling in Malmö oder Nachkomme kaschmirischer Kleinhändler in Birmingham ist – dieses reale Dasein (das sich nicht um Überzeugungen und Identitäten schert) ist Fakt.

Wollen wir nicht im Zustand von Realitätsverleugnung verharren, folgert daraus eine Not des Sich-dazu-verhalten-müssens. Vielleicht hilft dabei, auf die Erfahrungen von MuslimInnen im Südosten und Osten Europas zurückzugreifen. Sie können uns unter anderem lehren, dass und wie sie seit 1992 vier große (kleinere wie die in Mazedonien ausgespart) Gewalterfahrungen machen mussten:

  • 1992-95 Krieg in und gegen Bosnien.
  • 1998-99 Kosovokrieg.
  • Zwei Kriege im Nordkaukasus Mitte und Ende der 1990er Jahre (allerdings wesentlich komplexer als die anderen Fälle).
  • 2014 russische Annexion der Krim und Abspaltung des Donbass. Die Folge waren Vertreibung, Flucht und Repression ukrainischer Muslime.

Bei allen vier Kriegen (von Bosnien bis zur Krim) war Russland entweder Hauptakteur oder mächtiger Verbündeter des Aggressors, während MuslimInnen auf der Empfängerseite (die Komplexität des Nordkaukasus hier außen vor lassend) von staatlicher militärischer Gewalt waren. 

Bedauerlicherweise ist diese historische Gewalterfahrung (vielleicht mit Ausnahme Bosniens) niemals existenziell in die muslimischen Diskurse des Westens eingezogen. Hier gab und gibt es im Grunde nur einen Aggressor: den Westen und seine „Interventionen“ beziehungsweise Angriffskriege zu Beginn der 2000er Jahre, die in die Doppelniederlagen im Irak und in Afghanistan mündeten. In den Augen vieler MuslimInnen bleiben sie nicht nur „Goldstandard“ von militärischer Aggression; sie haben darüber hinaus die unbewusste Funktion, nichtwestliche Akteure zu exkulpieren.

Solange es nicht zu einem Transfer sowie einer Verhaltung gegenüber den Gegebenheiten ihres realen Wohnorts kommt, bleibt objektiv betrachtet eine Differenz zwischen der imaginierten Erfahrung von Welt und der gelebten. Die Folge davon ist in den Worten des Theologen Ibrahim Aslandur ein „ewiger ‘Whataboutism-Komplex’ unserer Community“. Das führe dann zu einer Mentalität, „die eine geschlossene #Solidarität für die #Ukraine zwar ‘gut’ finden aber dann irgendwie doch nicht, weil diese Art der #Solidarität nicht ihrer eigenen Herkunftsnation zugesprochen wird“.

„Deutsche Werte“

Seit ihrem Beginn werden hiesige Islamdebatten mehrheitlich vor dem Hintergrund von „Werten“ geführt. Sie werden im Diskurs mal als Monstranz vor sich her getragen. Oder werden in der Diskurshierarchie als Zwangsmittel eingesetzt. Kritiker postulieren „Werte“, für die sie (abstrakt) stehen; und zu denen wir uns (konkret) äußern und verhalten müssen.

Nicht erst seit dem 24. Februar 2022 zeigt sich, dass die Verhältnisse, in deren Namen Diskurse geführt werden, beim Fehlen einer eindeutigen bundesdeutschen Dominanz oder bei entsprechendem strategischem Interesse (gegenüber Teilen der „Dritten Welt“ lässt sich leicht mit „Rechten“ operieren), sich nicht immer an der „Werte“-Logik orientieren wollen.

Es bleibt festzuhalten, dass es bis zu massivem Druck aus dem Ausland am 26. Februar sowie der offenkundig schwierigen Überwindung der russlandpolitischen Paradigmen deutscher Außenpolitik und der ökonomischen Exportfixierung nach Eurasien dauerte, bis der Bundestag heute (27. Februar) eine Zäsur beschloss. Vorherige EU-Sitzungen und -Beschlüsse belegen, wie beharrlich der ökonomische Imperativ (für den es jenseits eines simplen Moralismus gute, verantwortungsethische Gründe gab) war und ist.

In diesem Kontext ist die Frage berechtigt, was die uns MuslimInnen in der Islamdebatte vorgelegten „Werte“ in der Realität „wert“ sind, wenn die „Stakes“ nur hoch genug steigen. Das ist kein moralischer Vorwurf (auch wenn wir Muslime den Begriff „Doppelmoral“ lieben und gerne benutzen). Die ökonomischen Konsequenzen der jüngsten Beschlüsse – auch für den gesellschaftlichen Zusammenhalt im Land – sind bisher noch nicht absehbar.

Realpolitik war bis vor wenigen Tagen insbesondere in Deutschland aus historischen Gründen eher verpönt. Sie gilt vielen als Schimpfwort. Wenn man sie aber im Sinne von Verantwortungsethik liest (wie es Roland Czada ansatzweise im „Freitag“ tat), könnte sie womöglich langfristig ethischer sein als eine lange favorisierte „Werte“-Politik. Es hatte bisher oft den Anschein, dass das deutsche Milieu, das für sie stand, vor allem dann auf sie setzte, wenn es nichts kosten sollte.

So nachsichtig wie beispielsweise mit Peking umgegangen wurde, sind Deutschlands Islamdebatten nie geführt worden. Diese waren zu häufig vom recht deutschen Willen zum Unbedingten geprägt. Eine Haltung, die sich gegenüber MuslimInnen leider bei den Nachbarn Frankreich oder Österreich finden ließ und lässt. Das lag sicherlich auch daran, weil die muslimische Seite bisher über kein nennenswertes Subjekt im Dialog mit der Politik verfügt.

Muslimische Selbstwahrnehmungen

Immer wieder fallen Bomben auf die westukrainische Stadt Lviv (dt. Lemberg). Sie liegt ca. 900 Kilometer Luftlinie entfernt von Berlin. Das ist deutlich kürzer als die Strecke nach Rom, Tunis, Antalya oder Sialkot (Pakistan). Das sollte uns bewusst machen, dass wir bei allen Debatten um hybride oder multiple Identitäten von MuslimInnen (ein beliebtes Thema) auf diesem Kontinent leben und dessen Schicksal teilen, selbst wenn das für manche eine obsolete Kategorie sein mag.

Der Vorwurf, die deutsche/europäische Öffentlichkeit hätte sich in der Vergangenheit nicht ausreichend für vergleichbare Kriege in anderen Teilen der Welt interessiert, ist auf einer abstrakten Ebene durchaus stimmig. Wobei er allerdings auch ignoriert, dass das grundsätzlich für viele, nicht ausreichend berichtete Themen gilt. Was gerade einige AktivistInnen übersehen, ist die existenzielle Wirklichkeit des „Law of Proximity“. Je näher ein Mensch sich an einem Ereignis befindet, desto mehr fühlt er sich betroffen. Ein Somalier, der in diesem Augenblick mit Dürre und Hunger zu kämpfen hat, wird seinen Fokus kaum auf die geopolitische Neuorientierung der Welt richten. Warum sollte er?

Seit Jahren (wenn nicht Jahrzehnten) beklagen MuslimInnen aus Ostturkestan, Burma oder Kaschmir, dass sich nahöstliche oder im Westen lebende Glaubensgeschwister nicht oder kaum für sie interessieren. Das erkennt man beispielsweise daran, dass sich die angebliche Organisation für Islamische Zusammenarbeit (OIC) bis heute nicht mal zu einem zahmen Statement in Richtung China angesichts des Umgangs mit den Uiguren durchringen konnten. Noch schlimmer, 22 ihrer Mitglieder haben sich in der UN dokumentiert auf die Seite Pekings gestellt.

Bedauerlicherweise ließe sich die Liste dieser „Realpolitik“ von muslimischer Seite verlängern: Muslime schwiegen zum Irak-Iran-Krieg, übersahen die Vergasung von Kurden im Nordirak, sekundierten China und der burmesischen Führung, feierten Indiens Modi bei Staatsbesuchen oder weigerten sich in der Vergangenheit, das mehrheitlich muslimische Kosovo anzuerkennen.

Gut gemeinte Illusionen

Muslimische DebattenteilnehmerInnen sprechen und denken teilweise mit einem an Naivität grenzenden Glauben an abstrakte Begriffe und Konzepte. Dass diese beispielsweise oft von realen Dingen wie Wohlstand oder Versorgung abhängen, übersehen wir wie die meisten BürgerInnen dieses Landes. In dem Augenblick, in dem das hier geschrieben wird, läuft über Putins Ankündigung über den Ticker, die „Abschreckungskräfte Russlands“ in erhöhte Alarmbereitschaft zu versetzen.

Während Philosophen und Denker wie Zizek sowie nüchterne, geopolitische Fachleute lange genug von veränderten Verhältnissen sprechen, und politische AutorInnen wie Snyder oder Applebaum begründet nachweisen, dass unsere „alten Gewissheiten“ angesichts des asiatischen Aufstiegs (wie Abu Bakr Rieger es gerade klarmachte) ins Wanken gekommen sind, bewegt sich der muslimische „Diskurs“ Deutschlands im Reich der Ideen.

Manche Beiträge klingen (kritisch betrachtet) oft wie aus dem idealtypischen Gemeinschaftskundeunterricht statt aus der Wirklichkeit. Einige Anrufungen und Beschwörungen erwecken den Eindruck, dass wir die Krisenhaftigkeit unserer Verhältnisse (spätestens seit dem 11. September 2001) und der sich aus ihr ergebenen Volatilität gar nicht zur Kenntnis nehmen.

Glauben wir ernsthaft, Konzepte wie „Partizipation“ oder „Repräsentanz“ spielten noch eine nennenswerte Rolle, wenn als Folge des Krieges gegen die Ukraine Energie- und Strompreise in die Höhe schießen, Inflation wächst und Handlungsfähigkeit des Staates als Folge schrumpfen? Von einer direkten militärischen Konfrontation zwischen Russland und der NATO, wie sie jetzt greifbar wird, ganz zu schweigen.