Krimtataren zwischen europäischer Ignoranz und Moskaus Chauvinismus

Ausgabe 226

Zur dramatischen Lage des muslimischen Volkes erklärte die niederländische EU-Abgeordnete Emine Bozkurt: „Die Krimtataren, die sich ihre Rechte auf Bildung, Muttersprache, eigene Kultur und Landbesitz mühsam erkämpft haben, stehen jetzt vor dem Risiko diese Errungenschaften wieder zu verlieren!“

(iz). Die Tataren auf der Halbinsel Krim wehrten sich verzweifelt gegen eine Einverleibung durch die Russische Föderation, den Rechtsnachfolger des Deportationsregi­mes aus ihrer Vergangenheit. Sie schauen auf eine wechselvolle, oft schmerzhafte Geschichte zurück. Nach der Eroberung des islamischen Krim-Khanats 1783 durch Katharina II. war der endgültige Einschnitt in das Leben dieses Volkes die komplette Deportation am 18. Mai 1944 durch das Sowjetregime Stalins. Seit Glasnost und Perestroika sind über 300.000 Krimtataren auf ihre Insel zurückgekehrt. Seit Beginn der Repatriierung verfolgen sie einen strikt gewaltfreien Kurs auf Demokratisierung der Ukraine und eine Assoziierung mit der EU.

Erschreckend war mitunter die Überforderung der Medien. Es brauchte Zeit, bis realisiert wurde, dass die EuroMaidan-Kräfte auf der Krim vor allem die Tataren war. Weder NTV noch anderen großen Stationen schien aufzufallen, dass die Plakate keine Parolen in kyrillischer, sondern in lateinischer Schrift enthielten. Also kein Russisch, kein Ukrainisch, aber was dann? Krimtatarisch eben, die Sprache der größten ProEuropa-Kraft der Krim: die Krimtataren exzellent organisiert, beharrlich gewaltfrei, aber strikt ukrainisch integrativ. Oder wie es Prof. Dr. Kerimov gerne ausdrückt: „Die besten Ukrainer auf der Krim sind die Tata­ren.“ Er leitet das Forschungszentrum für Sprache, Geschichte und Kultur der Krimataren an der KIPU-Universität Simferopol und verweist auf die komplizierte Gemengelage auf der Krim.

Durch jahrhundertelange Repression und gezielte Ansiedlung von Slawen auf der Krim, seien die indigenen Nationalitäten der Krimtataren, Karaimen und Krimtschaken eine numerische Minderheit im eigenen Land geworden. Neben rund 60 Prozent Russen lebten – vor der Abspaltung der Krim mit Hilfe Moskaus – nur knapp 15 Prozent Ukrainer und 15 Prozent Tataren auf der Krim – neben kleinen Volksgruppen wie den Krimdeutschen, Ungarn, Karaimen usw.

Wenn in Umkehrung aller Tatsachen sogar der deutsche Sender Phönix live berichtete, „dass die Krim eigentlich schon immer russisches Gebiet war“, und mutmaßte, „wenn die Tataren jetzt die Regierungsgebäude eingenommen haben, und dabei Menschen ums Leben gekommen sind, weiß man zunächst einmal nicht, wie es hier weiter geht“, zeigt dies die Hilflosigkeit und Orientierungslosigkeit deutscher Osteuropa-Korrespondenten.

Doch auch Politiker offenbaren ihre eurozentristische Weltsicht und völlige Ahnungslosigkeit. Ahistorisch behauptete etwa Phillip Mißfelder, außenpolitischer Sprecher der CDU: „Die geostrategische Frage der Krim ist für Moskau sehr emotional, da es sich historisch um den Kernbereich Russlands handelt.“ Kernbereich Russlands? Schon immer russisches Gebiet? Diese frappanten Äußerungen stehen stellvertretend für zwei grundsätzliche Probleme: Die fehlende mediale Vertretung ausländischer Presse in der Ukraine und zweitens die Ignoranz oder Mainstream-Westeuropa-Perspektive auf die Geschichte Osteuropas durch hiesige Eliten in Medien und Politik.

Man muss sich die Mühe machen und in die europäische Geschichte der vergangenen Jahrhunderte zurück schauen. Über tausend Jahre, ab dem siebten Jahrhundert unserer Zeitrechnung, dominierten Turkvölker das Gebiet zwischen dem heutigen Usbekistan und Moldawien. Nach den Reichen der Awaren, Chasaren, Kiptschaken und Bolgaren prägten die Tataren über drei Jahrhunderte den nördlichen Schwarzmeerraum. Erst Katharina die Große brach mit der russischen Annexion der Krim im Jahre 1783 diese lange Geschichte. Durch ­Repression, russisch-osmanische Kriege und die Revolution der anti-religiösen Bolschewisten, deren Roten Terror und dem Hunger-Genozid Holodomor in den 1930er Jahren schmolz die krimtatarische Bevölkerung auf die Größe einer Minderheit.

Der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt, wurde das ganze Volk dann 1944 in Viehwaggons gen Osten deportiert. Russisches Kernland ist die Krim nie gewesen, jedoch in der russischen Idee eines Dritten Rom als Legimitation der Macht, spielte sie immer eine große Rolle. Mit den vielen griechischen Hinterlassenschaften und der subtropischen Südküste war sie seit der Eroberung „die Perle des Imperiums“.

Erst Nikita Chrustschows Schenkung der Krim als Freundschaftsbeweis der Russen an die Ukrainische SSR machte die Krim zu einer ukrainischen Gebietseinheit, was zu UdSSR-Zeiten kaum jemanden störte oder eine Rolle spielte, avancierte nach dem Zerfall der Sowjetunion zum Zankapfel zwischen Moskau und Kiew. Immer dazwischen gefangen: die Krimtataren.

Trotz der Annektierung der Krim bewahrten sich die Krimtataren durch Zaren- und Sowjetzeit hindurch ihre Religion, den Islam, ihre Sprache und Kultur. Aufgrund der massenhaften Auswanderung gibt es heute Krimtatarische Gemeinden fast überall auf der Welt, vor allem in der Türkei (2 bis 4 Millionen), Usbekistan, Rumänien, Bulgarien und Deutschland.

Der Weltkongress der Krimtataren hält die Fäden international zusammen und jedes Jahr zum Tag der Deportation am 18. Mai gibt es eine zentrale Kundgebung in Gedenken an den Genozid. Die Hälfte des Volkes wurde 1944 ermordet oder kam an Hunger, Entkräftung und Kälte zu Tode. Aus jeder Diasporagemeinde ist mindestens ein Vertreter in den Weltkongress gewählt und auch der Milliy Medschlis (Nationalrat) der Krimtataren auf der Krim selbst hat Diasporaabgeordnete in seinen Reihen. In Deutschland ist der Journalist Ahmet Özay zuständig für krimtatarische Belange. In den letzten Monaten gab es da viel zu tun. Gespräche mit Abgeordneten, Poli­tikern im Auswärtigen Amt, der Presse und Politikern des EU-Parlamentes galt es zu organisieren und zu moderieren.

Die geschürte Angst der Russen auf der Krim war völlig unbegründet, so Ahmet Özay: „Wir nehmen niemandem etwas weg. Wir haben nur diese eine Heimat und möchten dort friedvoll mit allen Nachbarn wohnen. Es gab nie Rückgabeansprüche an ukrainische und russische Menschen auf der Krim, die nach der Deportation in unsere Häuser einzogen.“ Die deutsche Politik jedoch müsse jenseits von Lippenbekenntnissen aktiver bei der Unterstützung der Krimtataren werden. Willensbekundungen reichten hier nicht aus. Die deutsch-krimtatarischen Beziehungen werden seit Jahren auf dem Gebiet Wissenschaft und Kultur vertieft. Im letzten Jahr gab es allein in Deutschland vier Konferenzen und 2014, aus Anlass des 70. Jahrestages der Deportation der Krimtataren wird es ebenfalls Symposien, maßgeblich unterstützt durch die Initiative Deutsch-Krimtatarischer Dialog.

Der Autor ist Direktor des Institutes für Caucasica-, Tatarica- und Turkestan-Studien Magdeburg. Der vorliegende Text ist die gekürzte Fassung eines Artikels, der auf der IZ-Webseite erschien.