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Mehr als nur Vorbeter

Ausgabe 263

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(iz). Moscheen und ihre Hauptakteure, die Imame, sind unablässig Diskussionsstoff in Deutschland. Zuletzt standen sie vor dem Hintergrund der Spionagevorwürfe an einige DITIB-Imame und in der ARD-Sendung von Constantin Schreiber über dessen tendenziöses Buch „Inside Islam“ wieder im Mittelpunkt von Berichterstattungen. Der Journalist Schreiber hat sich der Gastfreundschaft von Moscheen bedient, um Aufmerksamkeit zu erlangen, und dabei die Moscheen in das schlechteste Licht gerückt, anstatt das ehrenamtliche Engagement der Gemeinden darzustellen. „Allein, dass die Moscheen ihre Türen geöffnet haben, zeigt, dass sie gegenüber dieser Gesellschaft offen sind. Dass man über bestimmte gesellschaftsrelevante Fragen debattieren und diskutieren muss, steht hierbei außer Frage. Dazu sind die meisten Muslime auch bereit. Aber nicht in dieser Art und Weise“, kommentierte der Berliner Imam Ferid Haidar. Diese Art der Reportage in einem öffentlich-rechtlichen Sender ist für die gemeinsame Zukunft in unserem Lande verheerend. Sie fördert die Verbreitung von antimuslimischem Klima.
Mein Anliegen hier ist nicht, diese Problematik zu behandeln. Vielmehr ist mir als Imam wichtig, die Aufgaben eines Imams in Deutschland zu beschreiben und ein entsprechendes Konzept für die Zukunft vorzustellen.
Ein kurzer historischer Rückblick würde uns zeigen, dass die Institution Imam, obwohl vielseitig und vieldeutig, immer auch konform mit der gegebenen Situation der jeweiligen Zeit war und ist. Der im 11. Jahrhundert lebende Islamgelehrte Al-Mawardi ordnete die Bedeutung eines Imams in zwei Kategorien ein. Zum einen beschreibt er seine Aufgaben als Beschützer und Bewahrer der muslimischen Identität, der auch in der Weltpolitik seine Position zu vertreten habe. Zum anderen schränkt er seine Aufgabe ein auf einfaches Leiten der rituellen, gemeinschaftlichen Gebete. Wir sehen hier zwei Extreme: eine sehr umfassende, auch politische Leitungsfunktion, die in dieser Form obsolet ist, und eine speziell definierte und limitierte Leitungsfunktion. Dazwischen liegen viele Formen und Ausprägungen des Imam-Verständnisses. Ich selbst befinde mich nach Al-Mawardis Darstellung zwischen den Extremen, das heißt, ich verfolge als Imam keine politischen Absichten, begnüge mich aber auch nicht damit, als rein ritueller Vorbeter zu fungieren. Ein Imam ist ein ausgebildeter Religionsgelehrter und Theologe, der ein Recht und einen Anspruch auf die Leitung der Gebete besitzt, eine Gemeinde leitet und seelsorgerisch betreut und darüber hinaus im religiös-theologischen Bereich besonders qualifiziert ist. Zu seinem wichtigen Auftreten gehört die Botschaft, die er jeden Freitag von der Kanzel an seine Gemeinde und darüber hinaus sendet.
Im Rückblick auf die 150-jährige Tradition meiner eigenen Familie von Imamen auf dem Balkan, beschäftigt mich die Frage nach einem zeitgemäßen Imambild. Dabei werde ich gerne auf Begegnungen mit Kollegen zurückgreifen und mich ebenso inspirieren lassen von den vielen Eindrücken, die ich in meiner eigenen Biografie im Orient und Okzident gewinnen durfte. Kurzum, es ist ein Versuch, nach der langjährigen Arbeit als Imam in Deutschland der Frage nachzugehen: Welches sind, oder sollten sein, die Merkmale eines Imams in Deutschland?
Die höchste Auszeichnung eines Imams ist sein fundiertes Wissen über islamisch-theologische Grundlagen. Dabei konzentriert er sich nicht ausschließlich auf Meinungen der früheren Gelehrten, sondern bedient sich breit gefächerter Studien von zeitgenössischen Theologen, von diversen Denkern und Rechtsschulen, um sich so selbst einen Überblick zu verschaffen. Er besitzt auch die Fähigkeit, zu unterscheiden, dass die in der Geschichte getroffenen Beschlüsse einzelner Gelehrter für bestimmte Sachlagen in bestimmten Regionen keine allgemein verbindlichen Inhalte für heutiges religiöses Leben darstellen. Wie jede Epoche ihre Dynamik aufweist, braucht auch unsere heutige Ära eine islamische Geisteswissenschaft, die sich als im Heute angekommen versteht. Ein Imam greift Tabuthemen auf, ist aufgeschlossen gegenüber zeitgemäßen Interpretation und hinterfragt, ob das, was ihm vermittelt wird, im zeitlichen und räumlichen Rahmen noch relevant und anwendbar ist.
Ein Imam ist Leiter seiner Moscheegemeinde. Er zeichnet sich in seinem Umfeld durch herausragendes Wissen und Vernunft aus. Neben obligatorischen Aufgaben als Vorbeter und Prediger sollte er auch eine federführende Rolle in der Gesellschaft übernehmen. Er ist die Schlüsselperson, wenn es um Probleme der einzelnen Individuen, der Familien und der Gesellschaft geht; ein Mensch, der Vertrauen schafft und Brücken baut. Ein Imam ist auch in Lebensbereichen außerhalb seiner Moscheegemeinde aktiv. Er pflegt einen ausgewogenen und guten Kontakt mit der Gesellschaft und vertritt die Gemeinde nach außen in sozialen und kulturellen Bereichen. Seine ständige Begleitung ist seine Ehefrau.
Sozial vernetzt und kommunikativ. Er beherrscht die Sprache des Landes: „Wir haben keinen Propheten gesandt, außer in der Sprache seines Volkes, damit er ihnen die Botschaft klar macht“, so der Qur’an. (Ibrahim, 4) Wenn die Imame behaupten, sie seien die „Nachfolger der Propheten”, als „Botschafter des Islam“, dann ist ihre Pflicht gemäß dem Qur’an, die Sprache des Volkes zu lernen!
Ein Imam hat einen weiten Horizont, ein breites Wissen, eine ansprechende Wortwahl, ein sympathisches Auftreten, ist offen für andere Kulturen, begegnet Andersdenkenden und Andersgläubigen mit Respekt, sucht den ständigen Weg des Dialoges und Austausches mit allen Menschen. Auch ein gepflegtes Äußeres gehört zu seinem Erscheinungsbild. Er setzt sich für Kinder und Frauen ein und fordert sie zur Teilnahme am Freitags- und Festgebet auf. Frauen von der Moschee am Freitag auszuschließen, darf vom Imam nicht geduldet werden, auch nicht bei Platzmangel für Männer.
Ein Imam in Deutschland bekennt sich zum Grundgesetz; den demokratischen und rechtlichen Verpflichtungen ist er ebenso verbunden. Er spricht keine Urteile parallel zur Justiz. Er überlässt die Eheschließungen und Ehescheidungen den staatlichen Organen. Er ist ablehnend gegenüber Menschen eingestellt, die das Rechtssystem anprangern und das friedliche Zusammenleben der Gesellschaft in Gefahr bringen. Er bezieht Position in der Öffentlichkeit. Er weiß, wie er die Medien einbeziehen kann. Er wird seine Stimme lauter erheben gegen die globalen Auswirkungen von Terror und Radikalismus, Unterdrückung der Frauen, Rassismus, Islamfeindlichkeit, Antisemitismus, Kriege und Ungerechtigkeit. Die Grundwerte, die ein Imam in seiner Moschee vermittelt, sind: Toleranz, Gewaltlosigkeit, Barmherzigkeit, Gleichberechtigung, Religions- und Meinungsfreiheit, Rechtsstaatlichkeit. In diesem Islamverständnis und in dieser Islampraxis schaffen die Muslime den Rahmen für das Zusammenleben und bauen eine gemeinsame Identität in Deutschland auf.
Die Sorgen der Bevölkerung sind nicht loszulösen vom verbreiteten, negativen Image der Muslime: Zum einen wird der Islam von vielen als problematisch für das deutsche Werteverständnis betrachtet. Und zum anderen gelten Muslime noch immer weitestgehend als fremd und, trotz in Deutschland geborener Generationen, kaum als beheimatet. Noch immer wird der Islam als ein Phänomen im Umfeld von Migration gesehen. Die Gesellschaft und die Muslime selbst sind oft mit einem Zerrbild des Islam konfrontiert. Es besteht ein enormes Bildungs- und Informationsdefizit in Bezug auf den Islam. Hartnäckige Vorurteile stehen einer harmonischen und fruchtbaren Koexistenz von Muslimen und Nicht-Muslimen im Wege. Gefragt ist hier fachkundiges Personal, Menschen mit spezifischer Ausbildung, also die Imame, die diese Fragen kompetent angehen und eine entsprechende Bewusstwerdung sowohl innerhalb der muslimischen Gemeinschaft in Gang setzen, als auch nach außen klärende Signale setzen.
In dem Maß, in dem die Rolle der Moscheen in Deutschland vielschichtiger geworden ist, ist auch das Aufgabenfeld der Imame gewachsen. Moscheen haben sich von einfachen Gebetshäusern zum funktionalen Mittelpunkt migrantenspezifischer Aufgaben gewandelt. Das bedeutet, dass die Imame, die in der Community hohe Anerkennung genießen, vorrangig in den Diskurs mit einzubinden sind. Imame könnten der treibende Motor der Integration sein, doch lassen sie allzu oft die Grundanforderungen, wie deutsche Sprachkenntnisse und fachliche Ausbildung, vermissen.
Es ist eine Tatsache, dass die Äußerungen eines Imams über die Themen, die unsere Gesellschaft derzeit beschäftigen, auf viel größere Resonanz unter den Muslimen stoßen, als die Reaktionen von Politik und Medien. Gerade deshalb ist die Position der Imame einer der wichtigsten Bausteine, wenn es um Verständigung, Dialog und eine diesbezügliche Stärkung Europas geht.
Der Bedarf von ca. 2.700 Moscheegemeinden in Deutschland wird meist durch den Rückgriff auf Imame aus dem Ausland gedeckt. So stehen gegenwärtig einige in direkter Verbindung mit ausländischen religiösen Behörden und somit auch unter fremdstaatlichem Einfluss. Andere Imame sind wiederum Rentner, die mit eingeschränkter Aufenthaltserlaubnis nach Deutschland einreisen, weshalb viele Moscheegemeinden sogar jährlich den Imam wechseln. Es gibt auch Imame, die sozial nicht abgesichert sind. Man schätzt die Zahl der hauptamtlichen Imame auf 2.000, der Rest der Gemeinden wird von ehrenamtlichen Imamen begleitet, die von den Gemeinden selbst ernannt werden, häufig ohne entsprechende Qualifikation. Imame aus dem Ausland verfügen kaum über ausreichende Sprach- und Kulturkompetenz und sind deshalb der Integration der Muslime in die Gesellschaft ebenso wenig förderlich, wie sie den Anforderungen der Gemeinden vor allem in der zweiten und dritten Generation nicht gerecht werden. Wenn zwischen Imamen und Deutschen auch noch unzulänglich übersetzt wird, erschwert das die Kommunikation umso mehr. Bürokratie und andere Hürden versperren den Imamen die Kontakte zur deutschsprachigen Infrastruktur. Andere Organisationen wiederum bilden in ihren eigenen Reihen junge Menschen aus, die teilweise in Deutschland geboren und aufgewachsen sind. Der Lehrplan, der dabei gelehrt wird, ist in der Öffentlichkeit nicht bekannt.
Mir ist bekannt, dass auch die Gemeinden die derzeitige Lage der Imame als unbefriedigend empfinden, diese aber wegen mangelnder Unterstützung und Hilfsmitteln kaum verbessern können. Die islamischen Organisationen wurden in dieser Sache alleine gelassen, und so schufen sie sich kurzerhand Ideen und Konzepte, um ihr Defizit an notwendigen Imamen zu decken. Die Imame leisten eine hervorragende und notwendige erzieherisch-soziale Arbeit in der islamischen Community, weshalb sie Anerkenung verdienen. Wer sie und die Verbände kritisiert, ohne entsprechende Alternativen anzubieten, der bedient sich einer populistischen Rhetorik. Natürlich kann man davon träumen, dass die Muslime gar nicht erst gekommen wären. Realitätsverweigerung bringt aber niemanden voran. Die Geschichte ist unumkehrbar. Moscheen existieren und werden bleiben. Die realen Herausforderungen müssen bewältigt werden, und kein noch so glühender Islamhass und Populismus werden dazu irgendetwas beitragen.
Die Ausbildung der Imame hier im Lande ist und muss ein Kernanliegen in erster Linie der Muslime sein. Die Politik muss den Initiativen von Muslimen die Hand reichen. Gemeinsames vordringliches Anliegen sollte deshalb die Schaffung von Ausbildungseinrichtungen nur für Imame sein. Die kürzlich eingerichteten Lehrstühle wie in Münster/Osnabrück, Frankfurt, Erlangen und Tübingen für die Ausbildung von islamischen Religionslehrern, Islamwissenschaftlern und Theologen könnte Grundlage für eine Imam-Ausbildung vor Ort sein. Allerdings bilden diese Lehrstühle keine Imame aus, sondern IslamwissenschaftlerInnen oder ReligionspädagogInnen. Was in Deutschland immer noch fehlt, ist eine spezifische Imam-Ausbildung mit staatlicher Kooperation und Förderung. Nicht weit von Westeuropa entfernt, in Bosnien, gehören Institutionen zur Imam-Ausbildung fest zum Bildungssystem, was durchaus auch für uns von Relevanz sein könnte. Darüber hinaus lehren in Deutschland, Österreich und der Schweiz bereits einige Professoren und Wissenschaftler, die einen solchen Studiengang konzipieren, aufbauen und leiten könnten. Ein Institut für Imam-Ausbildung könnte etwa an der Ludwig-Maximilians-Universität in München als Dreieck der deutschsprachigen Länder etabliert werden.
Langfristig soll in Deutschland ein unabhängiger Lehrplan für einheitliche Standards auf wissenschaftlichem Niveau sorgen und in- oder auslandspolitisch motivierte Religionsauslegung verhindern helfen. Austauschprogramme mit den Universitäten in der islamischen Welt, wie mit der Universität Ankara oder Al-Azhar in Kairo, sollen mit positiven Impulsen auch nach außen wirken und eine Brückenfunktion zwischen Deutschland und der muslimischen Welt übernehmen, getragen von einem fundierten Verständnis für historisches, klassisches, traditionelles aber auch modernes Islamdenken, begleitet von Wissenschaftsprogrammen und einem facettenreichen Studienprogramm. Dabei könnte der Lehrplan folgende Fächer für die Imam-Ausbildung umfassen: Qur’anexegese, Hermeneutik, Ethik und islamische Rechtswissenschaft, Kultur und Zivilisation, Mystik, Menschenrechte und Demokratie, Medien, Politik, Wirtschaft, Ökologie, Anthropologie, Soziologie, Psychologie, Pädagogik, Religionswissenschaften der Weltreligionen, deutsche Geschichte, die Geschichte der Muslime in Europa, moderne Architektur der Moscheen und Verwaltung in islamischen Einrichtungen. Ziel ist die Erlangung eines einheitlichen Fachwissens auf der Basis der muslimischen Quellen und empirischer Pädagogik. Eine essenzielle Grundvoraussetzung für einen gleichberechtigten Dialog ist der begleitende fachwissenschaftliche, praktische und spirituelle Ansatz der Ausbildung.
Von in Deutschland in deutscher Sprache ausgebildeten Imamen profitieren die Moscheegemeinden dadurch, dass die Voraussetzungen für die Entwicklung des Islam in Westeuropa geschaffen werden. Eine Imam-Ausbildung im Inland würde nicht nur eine wünschenswerte Dynamik in die Entwicklung einer Theologie des Islam in Deutschland bringen, sondern auch gleichzeitig auf das religiöse Leben der Muslime reagieren, insbesondere der heranwachsenden Generation, ihre Religion im Kontext „Hier und Heute“ einbinden und dem Bedürfnis der Mehrheitsgesellschaft nach Aufklärung durch kompetente Multiplikatoren entgegenkommen. Der „Integrationsmotor“ Imam wird seine in der Akademie erworbenen Kenntnisse für das Zusammenwachsen der Gesellschaft fruchtbar einsetzen können. Damit können gleichzeitig negative Begleiterscheinungen bekämpft werden. Im Bewusstsein, dass diese Einrichtung nur in längerfristigen Schritten ins Leben gerufen werden kann, müssen zunächst, bis zum Erreichen dieses Zieles, bereits tätige Imame in Deutschland an die Modalitäten in praktischer und theoretischer Fortbildung herangeführt werden.
Für die Zukunft wünschen sich Muslime fundiert ausgebildete Imame und repräsentative Moscheen, in welchen sich sowohl Frauen als auch Männer, Muslime mit unterschiedlichem Migrationshintergrund als auch die Mehrheitsgesellschaft offen begegnen, einander kennenlernen und gemeinsam an verschiedenen Themen der Gesellschaft arbeiten – und somit zur positiven Gestaltung des Zusammenlebens in Deutschland beitragen.
Der Bedarf ist enorm, und Zeit wurde schon viel zu viel verloren. Wir müssen anfangen, bevor wir die heranwachsende Generation – die uns zwischen den Fingern zerrinnt – verlieren!