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Muslime und die Aufklärung (2)

Ausgabe 350

herder aufklärung
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Die Religion braucht keine Aufklärung, aber uns Muslimen könnte sie nicht schaden. Teil 2 einer Serie von Ahmet Aydin.

(iz). Sind die Muslime Deutschlands aufgeklärt? Seit Jahren wird eine Aufklärung der Muslime gefordert. Aufgeklärte Muslime waren jedoch bereits in Europa, so Herder, und bereiteten den Boden der Renaissance. Der Literaturwissenschaftler Ahmet Aydin führt in Herders Aufklärungsbegriff ein.

Herder und die Aufklärung

„Die Erscheinung selbst, das an den Grenzen des arabischen Gebiets sowohl in Spanien als in Sizilien für ganz Europa die erste Aufklärung begann, ist merkwürdig und auch für einen großen Teil ihrer Folgen entscheidend.“, sagt Johann G. Herder. Die Kultur der Muslime im alten Spanien und Sizilien war anders als die Kultur der Christen zur Zeit „der“ Aufklärung. Dennoch verwendet Herder den Begriff Aufklärung. Was meint er damit? Schauen wir uns diese Stelle genauer an.

Das Wort merkwürdig bedeutet heute „komisch, seltsam“. Zu Herders Zeit bedeutete merkwürdig „bemerkenswert, des Merkens würdig“. Wer Texte der großen Zeit von Weimar liest, muss manchmal nachschlagen, was bestimmte Begriffe damals bedeuteten. Andernfalls sind die Texte nicht zu verstehen. Um diesen Satz gänzlich zu verstehen, reichen die bloßen Worte jedoch nicht aus. Wir müssen Herders Aufklärungsbegriff kennen, den er in seinen „Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit“ entfaltet. 

Herder bezeichnet den Menschen als Mittelgeschöpf. Einerseits besitze er den Funken Gottes, andererseits sei er aufgrund seines Körpers Teil der biologischen Welt. Dieser Funken Gottes drücke sich am stärksten in der Sprache aus. Mit nichts unterscheide sich der Mensch stärker von Tieren. Das Tier schreibe nichts auf, um es Nachkommen weiterzugeben. Der Mensch sei in der Lage mit Worten Erkenntnisse festzuhalten und weiterzugeben. Dadurch entsteht das, was Tradition genannt wird. Mittels Sprache tradiert der Mensch.

Tradition ist also das, was von früheren Menschen hinterlassen wurde. Gemäß der Tradition zu leben, heißt gemäß der Erkenntnisse früherer Menschen zu leben. Menschen, die das ohne zu hinterfragen tun, bezeichnet Herder als solche, die nicht aufgeklärt sind. Aufgeklärt sei der Mensch, der die Tradition sichtet, aufnimmt und hinterfragt. Wenn bemerkt wird, dass die früheren Menschen einen Fehler machten, so solle den Fehlern nicht treu geblieben werden.

Fehlern treu zu bleiben, nur weil die Ahnen eines Volkes oder einer Gesellschaft ihn als Wahrheit anerkannten, hieße blind nachzuahmen und sich selbst zu lähmen. Das sei Barbarei. Alles, was den göttlichen Funken, d.h. unsere Humanität, verdunkelt, ist Barbarei.

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Menschen, die zu ihrer Zeit das Tradierte sichten und auswerten und es im nächsten Schritt als Material benutzen, um etwas Neues zu kreieren, sind Aufklärer. Herder lehrt: Aufklärung ist keine Phase, die einmal durchgemacht wird und dann bis zum Ende der Zeit gültig ist. Jede Generation muss eine eigene Aufklärung durchmachen. Wenn sie es nicht tut, verfällt sie der Barbarei und lebt bloß mit den Erkenntnissen früherer Völker und Gesellschaften.

Die Muslime in Bagdad, der ehemaligen Stadt der Weisheit, taten das. Sie trugen ihre Weisheit bis nach Europa. Hier gründeten Muslime die erste Metropole Europas: Córdoba. Es wurde der Hort des Wissens. Aus allen Regionen Europas reisten Christen und Juden an, um Wissen zu studieren. Eine Beschreibung können wir beim Geschichtsschreiber Ibn Bassam (gest. 1047) nachlesen:

„Die Metropole Córdoba ist (…) das höchste Ziel, der Platz, an dem die Herrschaftsstandarte aufgepflanzt wird, die Heimat der Wissens- und Verstandesbegabten, das Herz des Landes, die Quelle der hervorströmenden Wissenschaften, das Haus der wahrsten Verstandeskräfte, der Garten der Früchte der Geistesanstrengungen und das Meer der Perlen der Genies. Von ihrem Horizont gingen die Sterne des Landes und die Berühmten des Zeitalters sowie die Meister der Prosa und Poesie auf; in ihr entstanden die glänzenden Schriften und wurden die erhabenen Abfassungen erstellt. Der Grund dafür und für den Vorrang der Bevölkerung dort in alter und neuer Zeit über alle anderen besteht darin, dass ihre cordobesische Region stets Forscher und Suchende in den Disziplinen der Wissenschaft und Literatur umfasste.“ (aus dem Werk: „Schatzkammer der Leistungen der Leute von der [iberischen Halb]Insel“) 

Was wir heute fundiert belegen können, erkannte Herder bereits zu seiner Zeit an, indem er bloß die Literaturen Europas studierte und der Frage nachging, weshalb Spanien, Italien und Frankreich den später kommenden Deutschen vorausgingen. 

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Muslime kultivierten Europa

„Unleugbar ist’s nämlich, dass die Araber [Muslime] in ihrem weiten Reiche (…) Sprache und Wissenschaften, Handel und Künste sehr kultiviert hatten.“ Kultivieren bedeutet sein menschliches Potenzial auszuschöpfen. Kultivieren heißt den Funken Gottes zum Strahlen zu bringen. Kultivieren bedeutet mit dem Verstand zu sichten und was man vorfindet auszuwerten und es anschließend als Material zu nutzen für Neues. Das taten die Muslime und haben dadurch die Weltkultur bereichert. Menschen, die das tun, sind Aufklärer. Muslime waren gemäß Herder die ersten Aufklärer unseres modernen Europas.

Ein Beispiel dafür ist das Werk „Die Wissenschaftsgeschichte der Völker“ von Said Al-Andalusi. Andalusi war islamischer Rechtsgelehrter in Toledo. Er starb 1070. Nur 15 Jahre später im Jahr 1085 eroberten Christen die Stadt und für eine kurze Zeit gewährten Christen im Mittelalter, dem Vorbild der damaligen Muslime entsprechend, Religionsfreiheit. Christen ahmten die Muslime nach, und klärten sich am Beispiels des muslimischen Vorbildes auf.

Herder schreibt: „Wie anders nun, als dass in Spanien, wo ein Hauptsitz dieser Kultur war, wo Jahrhunderte lang die Christen mit ihnen in Streit oder ihnen unterwürfig gelebt hatten, neben diesem hellen Licht nicht ewig und immer die Dunkelheit verharren konnte? Es mussten sich mit der Zeit die Schatten brechen; man mußte sich seiner schlechten Sprache und Sitten, der ungebildeten Rustica schämen lernen, und da die meisten Spanier Arabisch konnten, auch eine unsägliche Menge arabischer Bücher und Anstalten in Spanien jedermann vor Augen war, so konnte es ja nicht fehlen, dass jeder kleine Schritt zur Vervollkommnung auch unvermerkt nach diesem Vorbilde geschah.“ 

Herders Ausführungen wurden lange, sehr sehr lange als „Araberthese“ abgetan. Das ist heute nicht mehr möglich. William Montgomery Watts „Der Einfluss des Islams auf das europäische Mittelalter“, Monika Walters „Der verschwundene Islam?: Für eine andere Kulturgeschichte Westeuropas“, Sigrid Hunkes „Allahs Sonne über dem Abendland. Unser arabisches Erbe“ oder Jim al-Khalilis „Im Haus der Weisheit: Die arabischen Wissenschaften als Fundament unserer Kultur“, das sind einige der Werke, die Herders Erkenntnisse aus dem auslaufenden 18. Jahrhundert stützen. Herder stellte seine Untersuchungen an, um herauszufinden, warum die Renaissance in Italien begann und Spanien und Frankreich lange fortschrittlicher waren. Die Präsenz der Muslime machte den Unterschied.

Muslime entwickelten Traditionen weiter

Hundert Jahre nach Herder geht der Orientalist Adolf Friedrich von Schack ebenfalls der Frage nach, was Muslime in Spanien und Sizilien leisteten und schrieb 1865 sein zweibändiges Werk  „Poesie und Kunst der Araber in Spanien und Sizilien“. Von Schack schreibt im Vorwort, dass einige behaupteten, aller Fortschritt sei den Muslimen zu verdanken und manche würden die Leistungen der Muslime leugnen. In der Mitte sei die Wahrheit zu finden. Die Frage, ob Muslime als Gestalter und Entwickler zur Weltkultur beitrugen, wurde also intensiv in der Vergangenheit diskutiert. Sie ist nicht neu.

Von Schack kommt zu dem Urteil: „Die Reize von Kunst und Natur, die Weichheit des Klimas und die ungleich höhere Zivilisation der Mohammedaner, welche nach wie vor die überwiegend große Bevölkerung der Insel bildeten, (gewannen) unversehens Macht über sie. Sitten, Künste und Wissenschaften der Überwundenen (Muslimen) teilten sich den Eroberern (Christen) mit.“

Muslime vermittelten nicht bloß griechisches Wissen, sie entwickelten weiter. Der vielleicht bedeutendste muslimische Wissenschaftler al-Biruni (gest. 1048) schreibt: „Ich habe getan, was alle in ihrer Arbeit vollbringen müssen: Die Erfolge der Vorgänger dankbar begrüßen, ihre Fehler ohne Furcht berichtigen und das, was einem als wahr erscheint der folgenden Generation und deren Nachfolgern anvertrauen.“

Wer solches tut, ist gemäß Herder, das legte ich am Anfang dieses Essays dar, ein Aufklärer. (Wer mehr zu al-Biruni erfahren möchte, dem sei das Werk „In den Gärten der Wissenschaft. Ausgewählte Texte aus den Werken des muslimischen Universalgelehrten“ empfohlen)

astrolab verlag

Foto: Royalty-Free | Corbis Library

Herders Selbstkritik als Vorbild für heutige Muslime

Was nützt es alte Muslime anzuführen, wenn heutige Muslime geringe oder keine kultivierenden Beiträge leisten? Die damaligen Muslime blickten in denselben Koran und Hadithe wie wir heute. Zu sehen, dass Koran und Sunna sie zum Forschen animierten, legt Zeugnis dafür ab, dass nicht der Islam eine Aufklärung nötig hat.

Der Islam ist nicht das Hindernis. Angebliche Abendlandsverteidiger verneinen das. Dabei verweisen sie auf heutige Muslime. Ich lehne ihre Kritik nicht ab. Die Kritik hilft mir, Missstände zu erkennen. Wie die damaligen Christen sich vor den Muslimen schämten und dadurch Ästhetik und Künste kennenlernten und entwickelten, ist es angebracht, dass heutige Muslime es den Osmanen im 19. Jhd. gleichtun.

Tuisa Hilft - Kurban

Die Osmanen besannen sich auf das alte Andalusien und schrieben die erste Geschichte Andalusiens aus muslimischer Sicht, denn es ist ein Fundament des modernen, wissenschaftlichen Europas. Sie sahen, was Europa aus dem andalusischen Erbe tat. Was tun wir Muslime in Deutschland damit? Was ignorieren wir und was entgeht unserem Blick? Ein Misstand von heute ist es bspw., Koran und Sunna zu sagen, ohne zur Behebung von Missständen beizutragen. Wir müssen selbstkritisch sein. Mehr zu unseren Missständen im dritten Teil der Serie.