Es gehörte lange zur Tradition in vielen muslimischen Gegenden, essenzielles Wissen mit Hilfe von einprägsamen Lehrgedichten zu lernen. Ein Beispiel dafür ist das nordafrikanische „Murschid Al-Mu’in“.
(iz). Wir leben – in vielerlei Hinsicht – tatsächlich in neuen Zeiten. Die Vielfalt gelebter Traditionen und materieller Kulturen wurde in den letzten 100 Jahren zu Gunsten eines heute globalen Nihilismus aufgelöst, der sich selbst anmaßend den Namen „Moderne“ verlieh. Von Schaikh Ali Laraki
Ein sehr kleines Element dieses Vorgangs – dem sich die diversen muslimischen Kulturen auch nicht entziehen konnten – ist die Schwächung, wenn nicht gar Absterben mündlicher Traditionen in der Weitergabe von Wissen.
Lernen mit Lehrgedichten
Auch wir können uns vielleicht noch daran erinnern, wie unsere Großeltern ganze Gedichte aufzusagen wussten. Heute ist diese mündliche Tradition nicht nur durch die komplette Verschriftlichung abgelöst, sondern bewegt sich mit rasanten Schritten in die (Alb-)Traumwelt einer audiovisuellen Virtualität.
Verglichen mit dem, was in früheren muslimischen Generation bereits Kinder und Jugendliche wussten, stehen wir heute – trotz oder gerade wegen der schier unendlichen Verfügbarkeit von digitalem „Wissen“ – eher ärmlich dar. Dazu gehört auch die Lehre unseres Din mit Gedichten, die durch ihr Versmaß und die poetische Sprache das Auswendiglernen erheblich erleichtern. In Nordafrika – allen voran in Marokko – ist das bekannteste das „Al-Murschid Al-Mu’in“ von Imam ‘Abdulwahid Ibn ‘Aschir.
Imam Ibn ‘Aschir – der Autor
Autor des „Al-Murschid Al-Mu’in“ war der große Imam, das Meer des Wissens, Abu Muhammad, ‘Abdulwahid ibn ‘Ali ibn ‘Aschir, der aus einer Familie der Ansar abstammte. Obwohl die Familie ursprünglich andalusisch war, wuchs er in Fes auf, das er zu seiner Heimat machte,
Er beherrschte enorme, sehr unterschiedliche Disziplinen. In seiner Lebenszeit vollzog er die Pilgerfahrt nach Mekka, nahm an militärischen Expeditionen teil, zog sich regelmäßig in die Moschee zurück (I’tikaf) und verrichtete das Gebet in der Nacht (Tahajjud). Ibn ‘Aschir starb in Fes, wo er am 3. Juli 1631 beerdigt wurde.
Aus seiner Feder flossen mehrere Werke, darunter das unvergleichliche Gedicht mit dem Titel „Al-Murschid Al-Mu’in“ über die ‘Aqida von Al-Asch’ari, das Fiqh von Malik und Dschunaids Sufismus. Darin versammelte der Imam die Wurzeln und die Zweige des Islam. Und zwar in einem Maße, dass jeder, der es liest und seine Punkte versteht, ein für alle Mal in der Lage ist, nicht jenen zu folgen, deren Korrektheit im Din in Frage gestellt werden könnte. Mit ihm kann man die Wissenschaften erlernen, die Allah für uns zur Pflicht gemacht hat.
Ein hilfreicher Führer
Die Lehre des Imams in Reimform trägt den vollen Titel „Al-Murschid Al-Mu’in ‘ala Ad-Daruri min ‘Ulum Ad-Din (Der hilfreiche Führer für die notwendigen Wissenschaften des Dins)“. Bis heute wird es in Marokko auswendig gelernt und studiert. Das gleiche gilt für weite Teile Nord- und Westafrikas. Es ist das erste Buch, dass in vielen Schulen nach (oder gemeinsam mit) dem Qur’an gelehrt wird.
Es handelt sich hier um eine einleitende Abhandlung in die Glaubenslehre von Asch’ari, das malikitische Recht und den Sufismus von Imam Dschunaid. Es beinhaltet alle Elemente, die ein Gläubiger braucht, um sich das grundlegende Wissen vom Islam anzueignen.
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In seiner ersten Fassung wurde es geschrieben, um die Hadsch (Pilgerfahrt nach Mekka) zu erklären, aber Ibn ‘Aschir fügte den Rest der fünf Säulen des Islam hinzu. Es galt als Gedicht, dass leicht auswendig zu lernen und daher für Analphabeten geeignet ist.
Das Lehrwerk startet mit einer Notiz zum Autor und den dargelegten Wissenschaften. Danach kommt ein Abschnitt über den Glauben, eine kurze Beschreibung davon, was eine rationale Aussage ist, sowie die Zeichen der Verantwortlichkeit (Taklif; das heißt, wann und wie man zur Erfüllung ritueller Handlungen verpflichtet ist). Im dritten Kapitel wird in 33 Versen die muslimische Glaubenslehre nach der Schule von Al-Asch’ari erklärt.
In den folgenden fünf führt Ibn ‘Aschir in die Wissenschaft des Fiqh ein, definierte rechtliche Urteile sowie ihre Wertigkeit. In den nächsten 237 Versen handelt er die Elemente der ‘Ibada (Anbetung) ab – rituelle Reinigung und Gebet (Tahara/Salat), Wohlstandsabgabe (Zakat), Fasten (Saum) und Pilgerfahrt (Hadsch). Die letzten beiden Kapitel sind dem Sufismus (Vers 291 bis 312) und dem Nachwort (313 bis 317) gewidmet.
Iman – Islam – Ihsan
Der Grund, warum das Lehrgedicht in drei Abschnitte aufgeteilt wurde, liegt in den Wissenschaften (‘Aqida, Fiqh und Tasawwuf) begründet, die ihnen zugeordnet werden. Die Dreiteilung ist prophetischen Ursprungs und wird in dem bekannten Hadith von Dschibril (Erzengel Gabriel) erwähnt. In dieser Überlieferung vom Propheten – die auch als Umm Al-Ahadith (Matrix oder „Mutter“ aller Hadithe) bekannt wurde – erschien Dschibril den Gefährten des Propheten, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, in seiner physischen Form.
Daher leitet sich auch seine Bedeutung ab. Er fragte den Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, was Islam, Iman und Ihsan sind. Der Gesandte Allahs antwortete ihm und informierte – nach dem Verlassen des Mannes – seine Gefährten, die ihn bis zu diesem Zeitpunkt nicht erkannten, dass dies Dschibril gewesen war, der gekommen sei, um ihnen „ihren Din zu lehren“. Aus den Worten dieses Hadithes zogen die Gelehrten des Islam den Schluss, dass er in drei Teile strukturiert ist: Islam, Iman und Ihsan.
Es ist doch merkwürdig, daß manche Gelehrte nur jeweils einen der drei Abschnitte durchnehmen. So nahm ich einmal an einem Internet-Kurs teil, wo der Dozent nur den Teil des Fiqh behandelte, da ihm die asch´aritische Glaubenslehre anscheinend nicht gefiel. Ein anderer erklärt ausführlich nur die asch´aritische Glaubenslehre ohne die anderen Abschnitte.