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Muslime und die Aufklärung (1)

Ausgabe 349

europa gewissen aufklärung
Bild: Th. von Oer, gemeinfrei

Die Religion braucht keine Aufklärung, aber uns Muslimen könnte sie nicht schaden. Teil 1 einer Serie.

(iz). Sind die Muslime Deutschlands aufgeklärt? Seit Jahren wird eine Aufklärung der Muslime gefordert. Zu Recht und Unrecht, sagt der ­Literaturwissenschaftlicher und deutsche Dichter Ahmet Aydin im ersten Teil seiner Serie.

Verschiedene Definitionen der Aufklärung

Mit der Frage, was Aufklärung ist, zu beginnen, scheint mir inzwischen unumgänglich. Immanuel Kant hat die Frage beantwortet. Wieland hat sie beantwortet. Mendelssohn hat sie beantwortet. Aber auch Johann Gottfried Herder, der Vater, Begründer und Ideengeber einer deutschen Identität, hat sie beantwortet.

Möchte ich gerade lediglich Namen „droppen“, damit alle sehen, wie gebildet ich angeblich sei? Nein. Ich möchte einen Hinweis geben. Es gibt verschiedene Antworten darauf, was Aufklärung ist und was sie nicht ist. Das deutsche Wort „Aufklärung“ kommt von Christoph Martin Wieland. Wenn heute über Aufklärung gesprochen wird, wird in der Regel in Kants Definition über sie ­gesprochen.

Seinem Begriff liegt auch Kants Kulturverständnis zugrunde. Immanuel Kant sprach nur von „Kultur“ oder Nicht-Kultur. Er sprach nicht von „Kulturen“. D.h. ­Kultur im Plural verwendete Kant nicht. Er gehört damit zu den Denkern Europas vor der Weimarer Klassik, die sich grundlegend und ideell von Kant und dem Rest Europas bis dahin unterscheidet.

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Herder definiert Aufklärung nicht bloß damit, den Mut zu haben, selbst zu denken. In Herders Denken ist die Aufklärung an die Kenntnis und, wenn es nötig ist, die Überwindung der eigenen vorgefundenen Tradition gebunden:

„Die Tradition ist eine an sich vortreffliche, unserm Geschlecht unentbehrliche Naturordnung; sobald sie aber sowohl in praktischen Staatsanstalten als im Unterricht alle Denkkraft fesselt, allen Fortgang der Menschenvernunft und Verbesserung nach neuen Umständen und Zeiten hindert: so ist sie das wahre Opium des Geistes sowohl für Staaten als Sekten und einzelne Menschen.“ (Ideen, III, 12/VI)

In nahezu allen öffentlichen Diskursen wird Muslimen vorgeworfen, zu sehr ihrer Tradition verbunden zu sein und sich für das Deutsche bzw. Europäische nicht zu öffnen. Diese Kritik ist zum Teil berechtigt, ja.

Nicht wenige Muslime – sprechen wir es mal radikal selbstkritisch aus – kleben an ihrer Tradition, wie Insekten am Honig. Denn sie ist süß, bequem, bekannt. Nicht selbst zu denken ist, wie Kant sagt, wirklich sehr sehr bequem. Doch ist es islamisch? Ist es halal? Ist es gottgefällig, nicht selbst zu denken? Diese Fragen sind sehr gewagt. Denn auch auf „den“ Westen und seinen Versuch Kulturimperialismus zu betreiben, ist kein Verlass.

Foto: Osman Hamdi Bey, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0

Muslime benötigen eine Aufklärung, Islam nicht

Der der Westen stagniert(e) lange in seiner Behauptung, das kritische Denken sei untergegangen in der muslimischen Welt. Das schrieb Ernest Renan um 1850 und diese Aussage hörte sogar ich noch im Jahr 2013 an einer deutschen Uni und natürlich in der deutschen Öffentlichkeit. Wenn Antworten auf Renan thematisiert werden, dann wurden nur Antworten von Afghani und Abduh angeführt.

Die bedeutendste Antwort und die Antwort, die selbstbewusst und ohne Minderwertigkeitskomplexe gegeben wurde, ist die Antwort des osmanischen Dichters, Denkers, Übersetzers und Aktivisten: Namik Kemal. Er schrieb bereits um 1860 eine mehr als schlagfertige Antwort. Die deutsche Mehrheitsgesellschaft kann nichts dafür, dass sie sie nicht kennt. Die Turkologen schlafen – und die türkisch-deutschen Muslime?

Sie haben diesen Text nicht übersetzt, weil viele ihn nicht mal kennen. Sie sind zu unbelesen und ungebildet. Das hat Ursachen. Ja, doch es weiterhin zu bleiben, ist eine Sünde, eine so große, dass sie uns unsere Zukunft kosten kann.

Wer sich in dieser Zeit nicht kulturell bildet, der hat in Europa als Muslim in der Öffentlichkeit nichts zu suchen. Denn er richtet mehr Schaden an, als aufzubauen. So einen Muslim, ganz gleich, ob Türkisch, Arabisch, Persisch oder sonst was, bezeichne ich als unaufgeklärt.

Lasst mich aus der Antwort Namik Kemals zitieren, damit die Schärfe meiner Anklage verständlich wird. Kemal schrieb:

„Nicht bloß Ernest Renan, ich kann ihnen mit Leichtigkeit beweisen, dass die bekannten Europäer, die sich mit den östlichen Wissenschaften befassen, wenn es zum Islam kommt, dermaßen unwissend sind, dass es Staunen erregt. (…) Hätte ich Monsieur Renans Text nicht gelesen, so hielt ich es nicht für möglich, dass in einem so kurzen Text so viele Fehler gemacht werden können. (…) Die europäischen Gelehrten mit dem Verständnis von Ernest Renan akzeptieren jedes Wort, das uns (Muslime) betrifft als wahr an, ohne eines Beweises zu bedürfen. Wenn ein Beweis gefordert wird, so erhielten wir oftmals die Antwort: ‘Ich sage das’. (…) Ist es eine Notwendigkeit seiner Methode in Debatten, die Beweise der Gegenseite nicht zu akzeptieren. Dies scheint ihm Ruhm einzubringen, wie es ihm auch Ruhm einbringt, keine eigenen Beweise vorzulegen.“

Um es in der Jugendsprache deutlich auszusprechen: Namik Kemal hat Ernest Renan rasiert. Er tritt intellektuell und wissenschaftlich auf und besitzt ein ­gesundes Selbstbewusstsein. Hochmut wäre dieses Selbstbewusstsein dann, wenn er eigene Fehler nicht benennen würde, doch das tut er. Er sagt, wir müssen die Formen aus Europa, wie den Roman, übernehmen. Bloße Hutbas, so Namik Kemal, reichen einfach nicht aus, um die Bevölkerung zu bilden.

Wirkt dieser Mann unaufgeklärt? Er ist ein aufgeklärter Muslim. Ein bedeutender Satz Namik Kemals verdeutlicht dies nochmal: „Wissen und Kultur sind eine sehr neckische Geliebte. Wer sich in sie verliebt, opfert sein Leben auf, um zu ihr zu gelangen.“ Kant würde Namik Kemal herzlich umarmen.

Die Mehrheitsgesellschaft irrt in ihrer Annahme, der Islam müsse reformiert werden. Der Islam ist bereits ein aufgeklärtes Christentum. Dies bestätigten Lessing und Goethe bereits. Die Mehrheitsgesellschaft möge ihre eigenen Dichter und Denker genauer lesen und seine eigenen Komplexe überwinden.

Wohl aber, und diese Selbstkritik müssen die Muslime annehmen, Muslime müssen aufgeklärt werden. Genauso wie die heutigen Deutschen aufgeklärt werden müssen, müssen Muslime, als Teil des gegenwärtigen Deutschen aufgeklärt werden.

Wie Muslime aufgeklärt werden können

Muslime, die ihre Geistesgeschichte kennen und nicht bloß damit beschäftigt sind, nicht negativ aufzufallen bzw. nicht anzuecken, sie sind aufgeklärte Muslime, die Deutschland und Europa bereichern können. Die anderen werden in der Geschichte der Muslime Deutschlands und Europas vergessen werden. So ergeht es allen, die bloß Tagespolitik betreiben. „Was bleibet aber, stiften die Dichter“ und eben Denker und Künstler.

Namik Kemal ist ihre Geistesge­schichte, aber die türkisch-deutschen Muslime schlafen, ihn zu vermitteln, weil sie ihn nicht kennen oder Angst davor haben, von der Politik und der öffentlichen Inquisition Deutschland, den Journalisten, abgestraft zu werden dafür, dass sie über einen osmanischen Dichter und Denker sprechen.

Menschen, die nur in Angst und Furcht leben, sind armselige Geschöpfe. Dieser osmanische Dichter und Denker jedoch, ist den heutigen Muslimen hoch überlegen. Er hat kein Allheilmittel, aber bietet Denkansätze, genauso wie Ziya Pascha oder Ahmed Cevdet Pascha.

Sie sind ein Mittel gegen Extremismus und Radikalität. Es ist die Pflicht türkisch-deutscher Muslime, sie zu vermitteln. Wenn das ausbleibt und man weiterhin ganz „unschuldig“ nur über das Gebet spricht und das Fasten und den Hadsch, werden künftige Muslime auf unsere Zeit als eine Zeit der Schande zurückblicken.

Sie werden sich die Frage stellen, ob wir wirklich Muslime waren, wenn wir nur in der Angst lebten, was angebliche Islamkritiker sagen. Niemand nimmt Menschen, die bloß aus Angst agieren, ernst. Die angeblichen ­Islamkritiker spielen mit ihnen wie ­Marionetten mit ihren Puppen.

Auch der Gelehrte Elmalili Hamdi Yazir erkannte dieses Problem. Die gesamte Intellektuellen des ausgehenden Osmanischen Reiches erkannten das Problem. Der erste Schritt sei Keşfi kadim., das heißt: Die Erforschung der alten muslimischen Hochkulturen. Und daraus resultierend das zweite: Vazi cedit. Das Hervorbringen von etwas Neuem, in der Nachfolge des Alten. Heutige Muslime wollen immer etwas liefern und hervorbringen, aber sie das Alte noch nicht erfahrbar gemacht, deshalb wirken sie barbarisch.

Foto: Anna Krasnopeeva, Shutterstock

Ein Beispiel: Das alte Andalusien als Vorbild

Die Mehrheitsgesellschaft sollte die Muslime entdecken lassen und sie nicht ständig mit Anschuldigungen abhalten. Sonst verhindert sie, was sie selbst wünscht: Kultivierte Muslime. Herder könnte hierin ihr Vorbild sein.

Herder ist einer der deutschen Denker, die Menschen, die die Tradition nicht kennen, nicht ernst nehmen. Seien sie muslimisch oder nicht. Muslime, die etwas hervorbringen wollen, ohne das Alte zu kennen, würde er als kulturell kolonialisiert bezeichnen.

Die erste Aufklärung für ganz Europa, wie wir es heute kennen, begann im alten Andalusien. Das ist eine Feststellung Herders. Die „poetische Invasion“ der arabischen Muslime, habe zur ­Renaissance in Europa geführt. Dies sagt er in seinen Briefen zur Beförderung der Humanität. Was das alles bedeuten kann und was nicht, wird im zweiten Teil ­dieser Serie diskutiert.

Doch eines ist sicher: Herder als Vater und Ideengeber einer deutschen Identität, betrachtete unser modernes Europa als Produkt des Griechischen, Römischen und Arabischen. Das schreibt er in seinem Hauptwerk, den „Ideen“. Muslime, die das nicht wissen, und auch nicht die Beschäftigung der türkisch-muslimischen Intellektuellen mit Europa, ihnen mangelt es an Selbstbewusstsein und Urteilskraft.

Deutschland ist momentan ein neues Andalusien. Und das macht Hoffnung. Ideen werden ausgetauscht, künstle­rische Werke geschaffen, es wird versucht und gestaltet. Darauf können wir stolz sein. Allesamt. Unser aller gemeinsames Projekt ist es, dass unsere Arbeit Deutschland kulturell bereichert und dazu beiträgt, dass wir zur Ausgestaltung und Formulierung universaler Werte beitragen.

Es wurden in diesem Essay viele Themen und Namen angeschnitten. Es soll einen Überblick bieten, was uns erwartet. Die nächsten Teile der Serie, werden diesen Artikel noch verständlicher machen. Denn nur die Unkenntnis der muslimischen Geistesgeschichte, verhindert diesen ersten Beitrag zu verstehen. Möge Allah teala unser aller Wissen mehren und durch uns den Kulturgrad der Gesellschaft bereichern und anheben.