Wie mit Miss­trauen fertig werden?

Ausgabe 244

Foto: Murphey Law

(iz). Die Muslime sind Brüder, ein einziger Körper. Sie sind eine Gemeinschaft. Es besteht ein starkes Band, das sie zusammenhält. Es bleibt weitestgehend unbeeindruckt von Meinungsunterschieden. Seit den frühesten Anfängen, angefangen bei den Prophetengefährten, gab es verschiedene Rechtsschulen sowie unterschiedliche Lesarten und Rezitationen des Qur’an. Dieser Zusammenhalt war sogar in der Lage, einem gehörigen Maß gegenseitiger Abneigung zu widerstehen. Es ist bekannt, dass sich beispielsweise Sajjiduna ‘Umar und Sajjiduna Khalid ibn Al-Walid nicht mochten.
Es gibt bestimmte Dinge, die jenes Band schwächen oder zerstören können, indem sie das Fundament, auf dem es ruht, strapazieren oder zunichte machen: gegenseitiges Vertrauen und das Verlassen auf den Anderen. Alle großen Gesellschaften basieren auf Vertrauen – zwischen den Leuten und ihrer Führung, sowie unter ihnen. Sobald es durch Misstrauen ersetzt wird, löst sich das Ganze auf und zerfällt.
Es gibt viele Dinge, durch die Argwohn Fuß fassen kann. Sie lassen sich auf zwei Aspekte reduzieren: Die Menschen versagen darin, Verträge einzuhalten und zu ihrem Wort zu stehen. Und sie werden von anderen als vertrags- und wortbrüchig wahrgenommen. Ersteres ist ein Scheitern in Handlung und bedeutet, dass es einen Grund für Argwohn gegenüber jenen gibt, die nicht vertrauenswürdig sind. Letzteres bedeutet ein Scheitern der Wahrnehmung und verweist darauf, dass eine schlechte Meinung die gute überwiegt. Eine Gesellschaft, in der eines der beiden Phänomene vorherrschend ist, kann nicht auf Erfolg hoffen.
Die schlechte Meinung von anderen kann ihr hässliches Haupt sogar in den besten und engmaschigsten Gesellschaften erheben. Daher warnt unser Herr auch ständig vor ihr. Allah sagt: „Oh ihr, die ihr glaubt! Vermeidet möglichst viel Argwohn; denn mancher Argwohn ist ein Verbrechen.“ (Al-Hudschurat, 12)
In der größten Gemeinschaft der Menschheitsgeschichte, die vom Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, in Medina gegründet wurde, waren Argwohn und schlechte Meinung eine der größten existenziellen Bedrohungen. Beinahe hätten sie dort Erfolg gehabt, wo feindliche Riesenheere oder langwierige Belagerungen scheiterten. Der Verdacht, der die Verleumdung von Sajjidatina ‘Aischa begleitete, und der von Heuchlern verbreitet wurde, führte beinahe zu einem Bürgerkrieg. Fast wären die beiden Stämme der ‘Aus und Khazradsch, welche durch den Islam vereint wurden, zurück in ihren ignoranten Zustand von Gegnerschaft und Feindlichkeit verfallen.
Als Antwort auf diese Ereignisse offenbarte Allah den folgenden Vers: „Warum, als ihr es hörtet, haben die gläubigen Männer und Frauen bei sich nicht Gutes gedacht und gesagt: ‘Dies ist offensichtlich eine Lüge!’?“ (An-Nur, 12)
Ein Muslim kann nicht zulassen, dass unbegründete, negative Meinungen von seinen Brüdern und Schwestern in seinen Verstand eintreten. Er kann es sich nicht leisten, schlecht über sie zu denken oder zu reden. Seine wichtigste Verantwortung hier ist, immer das Beste zu denken – egal, wie verdammenswert der Anschein sein mag.
‘Umar ibn Al-Khattab sagte: „Denkt nicht schlecht über irgendein Wort, das aus dem Mund eines Muslims kommt, wenn ihr eine Möglichkeit findet, es auf eine gute Art und Weise zu deuten.“ Und das gleiche gilt für ihre Handlungen. Man sollte nicht davon ausgehen, dass sie einen Fehler gemacht oder ihr Wort gebrochen haben, solange es keinen klaren und eindeutigen Beweis dafür gibt.
Das führt uns zum zweiten Aspekt: die Erfüllung von Verträgen. Dies befindet sich im eigentlichen Kern der Angelegenheit. Für uns beginnt alles mit einer Übereinkunft. Ein Übereinkommen, dem wir vor unserer Geburt zugestimmt haben. Allah sagt: „Und als dein Herr aus den Lenden der Kinder Adams ihre Nachkommenschaft hervorbrachte und für Sich Selber als Zeugen nahm (und sprach:) ‘Bin Ich nicht euer Herr? Dann sprachen sie: ‘Jawohl, wir bezeugen es.’“ (Al-’Araf, 172)
Jeder Erfolg, den wir uns von unserem Herrn in dieser Welt und der nächsten erhoffen, hängt von der Erfüllung des ursprünglichen Vertrages ab. Wir müssen uns an unsere Zusagen halten. Allah sagt: „Haltet euer Versprechen Mir gegenüber, dann will auch Ich halten, was Ich euch verheißen habe.“ (Al-Baqara, 40) Die Grundlage dieser Übereinkunft beruht auf Anerkennung und Anbetung zwischen dem Diener und dem Herrn. Daher kann von der gesamten Anbetung (‘Ibadat) gesagt werden, dass diese Handlung ein Vertragsverhältnis darstellt.
Die Verträge aber, um die es hier im Wesentlichen geht, werden zwischen den Leuten geschlossen. Sie sind die Basis aller Mu’amalat und des gesamten sozialen Austausches. Es ist jene Form der Übereinkunft, welche die Verbindungen ausmacht und die Grundlage für die Verknüpfungen ausmacht, die eine Gesellschaft zusammenhalten. Sind sie wacklig, werden ignoriert, bleiben unerfüllt oder existieren überhaupt nur, um gebrochen zu werden, kann es keine Gemeinschaft oder Gesellschaft geben.
Es ist nicht ohne Grund, dass die ersten Eigenschaften des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, den wir nachahmen müssen, Wahrhaftigkeit (Sidq) und Vertrauenswürdigkeit (Amana) waren.
Allah offenbart in Seinem Majestätischen Buch: „Warum sagt ihr, was ihr nicht tut? Es ist hassenswert bei Allah, wenn ihr sagt, was ihr nicht tut.“ (As-Saff, 2-3) Ein Vertrag ist eine Abmachung zwischen zwei oder mehreren Parteien; egal, ob er schriftlich oder nur mündlich vorliegt. Selbst jemandem zu sagen, dass man etwas machen möchte, grenzt an eine Zusage. Etwas, für dessen Erfüllung der Betreffende haftbar gemacht wird. Daher sollte man keine leichtfertigen Versprechen machen oder Garantien geben. Das ist keine Eigenschaft eines Gläubigen. Vielmehr begibt man sich so in Gefahr und gibt der Heuchelei eine Chance, sich im Herzen festzusetzen.
Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte hierzu: „Es gibt vier Eigenschaften, die den Heuchler kennzeichnen. Hat jemand eine von diesen in seinem Wesen, dann trägt er ein Element der Heuchelei in sich. Wenn er spricht, lügt er. Gibt er sein Versprechen, bricht er es. Beteiligt er sich an einem Streit, handelt er hinterhältig. Und wenn er schwört, wird er eidbrüchig.“ Mit anderen Worten, der gewohnheitsmäßige Bruch von Abmachungen ist ein Zeichen für einen Heuchler, die schlimmste Form des menschlichen Wesens. Dessen Identität besteht in der Zurschaustellung eines äußeren Bildes, das in direktem Widerspruch zur inneren Wirklichkeit steht. Der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, sagte: „Wer keine Amana hat [das heißt, das anvertraute Gut nicht zurückgibt], hat keinen Iman [Glauben, Vertrauen in Allah]. Und wer seine Versprechen nicht einhält, hat keinen Din.“
Menschen vergessen und sagen unbedacht Dinge in Eile. Aus diesem Grund sind wir angewiesen, vorsichtig mit unseren Worten zu sein. Daher müssen wir das Urteil zu einer Sache kennen, bevor wir uns auf sie einlassen. Und wir sind angehalten, die Dinge aufzuschreiben. Allah sagt hierzu: „Oh ihr, die ihr Iman habt, wenn ihr eine Schuld für eine bestimmte Zeit aufnehmt, so schreibt es auf.“ (Al-Baqara, 282)
Auch wenn sich dieser Vers spezifisch auf Schulden bezieht, gilt sein Urteil für alle Arten der Transaktion: Handelsvereinbarungen, Heiraten, Friedensverträge, Stiftungen sowie alles andere Erdenkbare. Und daher entstand ein ganzer Wissenszweig, der Watha’iq genannt wurde – die Wissenschaft der Formulierung und Niederschrift von Verträgen. Sie wird bis zum heutigen Tag an den großen Institutionen des Lernens wie der Qarawijjin in Fez und der Al-Azhar in Kairo unterrichtet.
Die zweite wichtige Sache in Beziehung zu den Übereinkünften ist die Dimension der Zeit. Oft ist es nicht das Scheitern einer Partei, einen Vertrag zu erfüllen, der für Verärgerung sorgt. Vielmehr ist es das Scheitern, dies im Rahmen einer vernünftigen Zeitspanne zu tun. Übermäßige Verzögerung, eigentlich jede Verzögerung, ist extrem schädlich. Blicken wir hierzu auf die Worte, mit denen unser Herr jene beschreibt, die das Gebet über die ihm zukommende Zeit hinauszögern. Er sagt: „Wehe den Betenden, die nachlässig in ihren Gebeten sind.“ (Al-Ma’un, 4-5)
Allah benutzt hier ein Wort, „wehe“, das für diejenigen verwendet wird, die in besonders abstoßende Praktiken verwickelt sind. Von den Kommentatoren des Qur’an wird dies als ein Teil des Höllenfeuers bezeichnet. Nach ihrer Ansicht bedeutet Nachlässigkeit im Gebet hier, es ohne gültige Entschuldigung über seine festgelegte Zeit hinaus zu verschieben. Das gleiche gilt für unsere Verträge, die wir miteinander eingehen. In dem Fall haben wir die andere Partei geschädigt und die Vertrauensbande, die uns zusammenhalten, beschädigt. Noch schlimmer ist es, wenn eine Abmachung ohne einen Zeitpunkt für ihre Erfüllung geschlossen wird. Denn das wird von vielen oft als Erlaubnis angesehen, sie bis zur Unendlichkeit hinauszuzögern. Solch eine Übereinkunft kann Gräben aufreißen und schlechte Gefühle erzeugen.
Daher sollte jeder Vertrag schriftlich sein und über einen Zeitpunkt verfügen, an dem er erfüllt wird. Dabei ist es egal, ob es sich nur um eine kleine Summe oder Sache handelt.
Und die dritte, bedeutende Regel ist der Vollzug jeder Transaktion vor Zeugen. Dadurch kann keine Partei später behaupten, dass man sich nicht auf etwas geeinigt hätte.
Halten wir uns an diese drei einfachen Aspekte in unserem gegenseitigem Verhalten, und haben wir immer eine gute Meinung von unseren Mitgeschöpfen, dann werden wir feststellen, dass viele unserer Probleme mit anderen verschwinden. Und das Misstrauen, mit dem uns viele betrachten, wird sich in Respekt verwandeln und sie werden in Scharen zum Islam kommen.