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Nach der Wahl: Debatten um mehr Repräsentanz von Minderheiten

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Foto: Ingo Bartussek

(iz). Am 26. September haben die Wähler den neuen Bundestag bestimmt und bisherige Gewissheiten der Parteienlandschaft (bspw. „Volksparteien“) in Unordnung gebracht. Zwei weitere Entwicklungen waren bemerkenswert: Zum einen wich das Votum junger und erstmaliger WählerInnen erheblich vom Altersdurchschnitt ab.

Zum anderen erhöhte sich der Anteil migrantischer oder postmigrantischer Parlamentarier:innen für den neuen Bundestag. Wie der Mediendienst Integration meldete, hätten in der neuen Legislaturperiode 83 Abgeordnete einen Migrationshintergrund. „Das ergibt bei 735 Abgeordneten insgesamt einen Anteil von 11,3 Prozent – ungefähr drei Prozentpunkte mehr als nach der vorangegangenen Bundestagswahl (2017: 8,2 Prozent bzw. 58 Abgeordnete mit Migrationshintergrund).“ Laut Angaben des Mediendienstes liegt ihr Verhältnis zur Gesamtbevölkerung derzeit bei 26 Prozent.

2019 lebten in Deutschland 7,9 Millionen Bürger:innen mit Migrationshintergrund (Mediendienst Integration). Damit stellten sie etwa 12 Prozent aller Wahlberechtigten. Ihr Anteile unterscheiden sich nach unterschiedlichen Bundesländern. Je nach Herkunft differenzierte sich auch ihre Wahlbeteiligung, die bei türkischstämmigen und solchen aus dem außereuropäischen Ausland am niedrigsten war.

Soweit die Wahlergebnisse. Bei den danach stattfindenden Sondierungen der möglichen Koalitionspartner SPD, Grüne, FDP und der Union wiederum schaffte es bisher keine der erfolgreichen Politiker:innen mit einem Migrationshintergrund in den Verhandlungsteams. Selbst der bei seiner Direktwahl durchsetzungsfähige Cem Özdemir wurde von seiner Partei nicht berücksichtigt. 

Veränderungen bei den Parteien

Dieser Trend, dem Forderungen nach einer stärkeren Repräsentation von migrantischen oder postmigrantischen Menschen in Deutschland entsprechen, muss zweigeteilt betrachtet werden. Bei drei Parteien – Linke, SPD und Grüne – liegen die Anteile vergleichsweise hoch, bei den anderen drei – FDP, CDU/CSU und AfD – sind sie niedrig.

Mit 28,2 Prozent hat die neue Fraktion der Linken im Bundestag den größten Anteil an Menschen „mit einer Einwanderungsgeschichte“. Bei der SPD sind es 17 Prozent (2017: 9,8). Bei den Grünen hingegen sind es 14,4, was ein Rückgang um einen halben Prozentpunkt im Vergleich zur letzten Legislaturperiode darstellt.

Bei den Parteien von Mitte bis Rechtsaußen sieht es deutlich anders aus. Bei den Liberalen, die sich derzeit als Motor für „Innovation“ bewerben, sank der Anteil um 0,9 auf 5,4 Prozent. Die CDU ist mit 4,1 (207: 2,9) das Schlusslicht. Etwas irritierend wirkt bei einem oberflächlichen Blick, dass die AfD von diesen drei mit 7,2 (2017: 8,7 Prozent) über die größte Repräsentation migrantischer oder postmigrantischer Menschen verfügt.

Das Fachmedium „MiGAZIN“ hat am 4. Oktober ein Gedankenexperiment angestellt. Würden die rund 7,9 Millionen migrantischer Wähler:innen „einer fiktiven Parteien“ ihre Stimme geben, dann zöge diese „nach Berechnungen dieses Magazins mit 15,5 Prozent als drittstärkste Fraktion in den Bundestag ein“. 

Wer ist „migrantisch“?

Dieses vermeintliche Paradox lässt sich bei genauerem Blick auflösen und zwingt uns gleichermaßen zu mehr Schärfe in der Betrachtung, was unter migrantisch bzw. postmigrantisch zu verstehen sei. Die absolute Mehrheit des Anteils solcher Parlamentarier bei der AfD wird durch Spätaussiedler bzw. Einwanderer aus den Ländern des ehemaligen Ostblocks (Ex-Sowjetunion, Polen und Rumänien) gestellt.

„In der Bundesrepublik Deutschland leben ca. 2,5 Millionen Russlanddeutsche, dennoch ist das Wissen über sie in der Mehrheitsbevölkerung relativ begrenzt. Russlanddeutsche gelten als gut integriert und unauffällig. Im Zuge von Protesten gegen die Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und Sympathien für die rechtspopulistische Alternative für Deutschland (AfD) rückten sie wieder in den Fokus des medialen Interesses“, schrieb die Bundeszentrale für politische Bildung (bpb) in ihrer Einleitung zu einem Themenspecial. Bei Menschen aus Polen ergaben die vorläufigen Ergebnisse des Zensus 2011, dass ihr Anteil an „Menschen mit Migrationshintergrund“ mit 13,1 Prozent angegeben wird. Wohl nur eine Minderheit dieser Menschen dürfte sich als „migrantisch“ begreifen.

Dieses Beispiel belegt das grundsätzliche Problem, dass sich Oberkategorien bzw. Begriffsbilder aus Debatte und Wissenschaft nicht immer in konkrete Politik übersetzen lassen oder überhaupt dafür geeignet sind. Die Tatsache der eigenen Einwanderung oder der Eltern ist auf politischer Ebene nicht immer eine hinreichende Klammer. In Sachen von Parteienpräferenz dürfte der russlanddeutsche Malermeister aus dem Oderbruch oder die baptistische Großfamilie in Siegburg recht wenig mit einer vietnamesischen Brokerin in Frankfurt oder einem eingebürgerten Flüchtling aus dem Libanon in Berlin, der dort ein Restaurant betreibt, gemein haben.

Was tun?

Der Autor hat nach der Wahl eine informelle Befragung auf Facebook angestellt, wie sich Fragen der Repräsentation von Minderheiten im Bundestag verbessern ließen und welche Art von Vorgehen es brauche. 

Für einen Befragten (A) ist der „Migrationshintergrund“ noch keine hinreichende Kategorie. Vielmehr sollte sich Politik auf jene Gruppen beziehen, „die von gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit betroffen sind… Dazu zähle ich BPoC, Muslime, Juden, Menschen mit Romani-Hintergrund, die LGBTQ-Menschen und Menschen mit Behinderung“. Die Repräsentanz dieser Gruppen sollte gesteigert und sie in Strukturen von Parteien und Politik eingebunden wären. „Das wäre ein Anfang.“ Bei muslimischen Kandidat:innen für den Bundestag war A skeptisch. Dort schaffe man es nur, „wenn man seine muslimische Identität ablegt oder soweit anpasst“, dass sie annehmbar erscheine.

Ein anderer (B) sieht das Schauen auf Repräsentation allein für nicht zielführend. Am Beispiel der Lage bulgarischer Muslime schrieb er: „Es wäre mehr getan, wenn man dort das politische System auf die Durchsetzung bestehender Rechte verpflichtet statt es als Erfolg zu vermarkten, dass es nun unter den korrupten politischen Eliten auch Muslime gibt.“ Dergleichen sei hier möglich, wenn der Schwerpunkt nur auf Zahlen und Gesichtern liege, „statt auf die tatsächlichen Lebensbedingungen der Menschen“ zu schauen.

Eine dritte Stimme (C) begrüßte die Entwicklung. Sie hofft, „dass sich etwas in den Köpfen ändert. Es ist ein erster Schritt“. Es bleibe abzuwarten, ob man sich vertreten fühlt. „Damit meine ich wirklich nicht die eigene Person, sondern ob meine Töchter in einem Land aufwächst, in dem Menschen wie sie selbstverständlich alle Posten in der Gesellschaft besetzen können.“

Ein vierter (D) meint, dass Migration keine hinreichende Eigenschaft sei. Einwanderer seien keine „besseren Menschen“ – und umgekehrt. Es komme immer darauf an, für welche politischen Inhalte ein Kandidat stehe und ob er für ihre Durchsetzung kämpfe. „In Dänemark ist der Migrant Tesfaye Integrationsminister geworden. Und er fährt unter seiner sozialdemokratischen Chefin einen bewusst anti-migrantischen geradezu rassistischen Kurs, von dem die deutsche AfD nur träumen kann. In den Niederlanden gab es vor einigen Jahren mit einem marokkanischstämmigen Politiker ähnliche Erfahrungen.“

Offen bleibt in der Befragung, wie der Wunsch nach mehr Sichtbarkeit von Minderheiten wie Migranten in der Politik zu bewerkstelligen sei. Auch wenn einige Stimmen gegebenenfalls eine Möglichkeit sehen, der Gesetzgeber könnte mit Verweis auf den Gleichheitsgrundsatz des Grundgesetzes Quoten erlassen, so sind bisherige Versuche zweier Bundesländer in den letzten Jahren gescheitert. Der Ball ist im Spielfeld der Parteien. Diese können, wie es die Grünen vormachten (und einmal fast die CSU), im Rahmen der geltenden Gesetze eine Quotenregelung per Mehrheit beschließen.

D sah die Verantwortung auf beiden Seiten: „Migranten müssen sich auf die politische Struktur einlassen und Forderungen formulieren (Bottom-Up)… Und etablierte Politiker müssen dazu bereit sein, diese Forderungen anzuhören, und Migranten, die verfassungsgemäße Forderungen stellen, fördern (Top-Down).“

Auch C sieht Bedarf nach einer Politik für alle, die den Zusammenhalt stärkt. „Wir brauchen mehr Sahins (Entwickler des BionTech-Impfstoffes), die ein neues Bild von Migrantenkindern prägen. Migrationhintergrund muss als Begriff verschwinden.“ Diversität an sich sei aber noch kein erstrebenswerter Zustand.

Für B wird das Problem nicht richtig verstanden: „Was, nennen wir sie Randgruppen, bitter nötig haben ist das Organisieren von Interessen. Das ist allgemein sehr herausfordernd (Principal-Agent-Problem usw.).“ Das politische System könne sehr gut mit organisierten Interessen umgehen. „Abgeordnete buhlen ja um jede Stimme und da hat jedes Interesse die gleichen Chancen.“ Zu viele Randgruppen wollten die fehlende Organisation damit ausgleichen, dass Einzelpersonen in die Funktionen des politischen Systems gebracht würden. Es sei die Aufgabe von Minderheiten selbst, dafür zu sorgen, „dass es zur Organisation dieser Interessen kommt“.

Der Mediendienst Integration beschreibt die Chancen eines direkten staatlichen Eingriffes über die Eigeninitiative von Parteien hinaus skeptisch: „Eine verbindliche Quote für Wahllisten bei Parlamentswahlen würde allerdings vor juristischen Hürden stehen. ‘In Deutschland gelten die Grundsätze der Freiheit und Gleichheit für Wahlen. Wahlen sollen möglichst ohne staatlichen Einfluss ablaufen’, sagt Friederike Wapler, Rechtswissenschaftlerin der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Vorgaben über die Zusammensetzung der Kandidat*innen würden entsprechend einen ‘erheblichen Eingriff’ bedeuten. Rechtfertigen ließe sich so ein Eingriff laut Wapler nur mit der Verfassung. ‘Die Forderungen nach einer Quote für Frauen etwa lassen sich mit dem Gleichstellungsauftrag im Grundgesetz (Artikel 3 Absatz 2 GG) rechtfertigen – und selbst das ist umstritten.’ Bei der Forderung nach mehr Repräsentanz von Menschen mit Migrationshintergrund werde es noch schwieriger – auch wenn deren Unterrepräsentanz empirisch belegt sei. ‘Wenn man das politisch will, sollte man dafür die Verfassung ändern’, sagt Wapler.“

Mehr Macht – auf lokaler Ebene

In einem längeren Hintergrundartikel wirft Sebastian Seidler (am 8. Oktober für „telepolis“) die Frage auf, wie es um die Partizipation der Bürger:innen bestellt ist. Seidler verweist auf eine Frage, die mindestens genauso wichtig ist wie Sichtbarkeit sozialer Segmente. „Die Bürger müssen, wollen und sollen mehr eingebunden werden. Dabei gilt es genau zu beobachten, ob Teilhabe nicht lediglich eine folgenlose Gaukelei bleibt. Denn allerorten ist davon die Rede. Von einer wirklichen praktischen Umsetzung, geschweige denn von einer echten politischen Anerkennung der Bürgerbeteiligungen sind wir in der Tat noch sehr weit entfernt.“

Es führe kein Weg daran vorbei, dass die Politik sich wieder den Wähler:innen annähere „und für sie und mit ihnen gestaltet“. Nur so könne sie auf „weitere Entfremdungsprozesse“ antworten, „deren deutlichstes Symptom auf den Namen AfD hört“. Der fortlaufende Prozess der gesellschaftlichen Differenzierung führe zu einer Distanzierung „mancher Lebensräume“. Deshalb müssten Bürger:innen die Vermittlungsprozesse der politischen Willensbildung mittragen. „Auch weil die Idee der Repräsentation prekär wird, wenn der politische Betrieb nur noch als auf Abstand laufende Maschine begriffen wird.“

Ein beunruhigendes Bild zeichnet Seidler dabei von der Kommunalpolitik. Die politische Ebene, „die uns eigentlich am nächsten sein sollte“, sei oftmals in weiter Ferne entrückt. Viele Menschen hätten ein distanziertes Verhältnis zur politischen Realität ihres direkten Lebensumfeldes. „Dabei lägen in den Städten und Gemeinden große Chancen für eine partizipative Wende in der Politik. Dort, wo die Menschen leben, müssen sie eingebunden werden. Die Realität sieht aber vielerorts anders aus.“

Der telepolis-Autor sieht in Paris ein positives Beispiel für „partizipative Lokalpolitik“. Dort hätte Bürgermeisterin Hidalgo vorbildliche Arbeit geleistet. „Die Stadt legt einen festgeschriebenen Teil des Haushalts in die Hände der Bürger, die Vorschläge einbringen können und an den Entscheidungen aktiv partizipieren. Häufig entstehen daraus ökologische und soziale Projekte, die in der unmittelbaren Lebenswelt der Menschen angesiedelt sind.“

Wenn das Paris gelinge, müsste es auch in deutschen Städten und Kommunen denkbar sein. „Ein Teil des Haushalts muss in die Hände der Bürger gelegt werden. Die Idee der repräsentativen Demokratie ist in Auflösung begriffen. Beginnen wir eine Revolution von unten. Krise? Nein. Kommunalpolitik!“