(iz). Seit Wochen diskutieren Politik und Medien über die Frage, ob man Muslimen den Gebetsruf erlauben sollte. Dabei stellt sich die Frage gar nicht. Denn juristisch ist das Recht auf Muezzin-Ruf eindeutig.
Seit der Ankündigung von Kölns Oberbürgermeisterin Henriette Reker, muslimischen Gemeinden den öffentlichen Gebetsruf (arab. adhan) zu erlauben, kennt die Debatte kein Halten mehr: In unzähligen Gastbeiträgen und Interviews haben echte und vermeintliche „Experten“ in den vergangenen Tagen kundgegeben, warum ihrer Meinung nach der Adhan erlaubt oder verboten werden sollte. Die einen argumentieren mit persönlichen Erfahrungen, die zweiten machen den Muezzinruf abhängig von der Erfüllung integrationspolitischer Forderungen, die dritten reihen einfach plumpe Klischees aneinander. Das mag alles sehr interessant sein, für die Frage aber, ob Muslime zum Gebet rufen dürfen, ist es letztlich unerheblich. Denn die Antwort darauf ist eindeutig: Natürlich dürfen sie.
Der Grund hierfür steht in Art. 4 des Grundgesetzes. In Absatz 1 heißt es: „Die Freiheit des Glaubens, des Gewissens und die Freiheit des religiösen und weltanschaulichen Bekenntnisses sind unverletzlich“. Absatz 2 fügt hinzu: „Die ungestörte Religionsausübung wird gewährleistet.“ Dass diese grundgesetzlich garantierte Religionsfreiheit auch öffentliche Gebetsrufe abdeckt, haben Gerichte immer wieder bestätigt.
Maßgeblich ist hierfür ein Urteil des Bundesverfassungsgerichts von 1968, wonach die Religionsfreiheit „extensiv“ zu interpretieren sei: „Zur Religionsausübung gehören danach nicht nur kultische Handlungen und Ausübung sowie Beachtung religiöser Gebräuche wie Gottesdienst, Sammlung kirchlicher Kollekten, Gebete, Empfang der Sakramente, Prozession, Zeigen von Kirchenfahnen, Glockengeläute, sondern auch religiöse Erziehung, freireligiöse und atheistische Feiern sowie andere Äußerungen des religiösen und weltanschaulichen Lebens.“
Auch die Bundesregierung kennt das Recht auf Muezzinruf. In einer Antwort auf eine Große Anfrage der CDU/CSU-Bundestagsfraktion zum Thema „Islam in Deutschland“ aus dem Jahr 2000 schreibt sie: „Der islamische Gebetsruf als Betätigung einer Glaubensüberzeugung im Sinne der Bekenntnisfreiheit und der freien Religionsausübung wird durch Artikel 4 Abs. 1 und 2 GG geschützt.“
Gegner von Muezzinruf und/oder Glockenläuten argumentieren häufig, dass Religionsfreiheit der Gläubigen dann ein Ende finden müsse, wenn die Religionsfreiheit von Dritten, also zum Beispiel von Anwohnern, gefährdet sei. Doch das ist sie nicht. Entgegen dem landläufigen Verständnis begründet die „negative Religionsfreiheit“ kein Recht darauf, von religiösen Bekundungen unbehelligt zu bleiben. Sie bedeutet lediglich, dass niemand zu religiösen Bekenntnissen oder Praktiken gezwungen werden darf.
Im Kruzifix-Urteil von 1995 urteilte das Bundesverfassungsgericht beispielsweise, der Einzelne habe „in einer Gesellschaft, die unterschiedlichen Glaubensüberzeugungen Raum gibt, kein Recht darauf, von fremden Glaubensbekundungen, kultischen Handlungen und religiösen Symbolen verschont zu bleiben.“
In diesem Sinne wies auch das Oberverwaltungsgericht Nordrhein-Westfalen im Jahr 2020 eine Klage gegen einen Muezzinruf ab. Die Richterin urteilte damals: „Jede Gesellschaft muss akzeptieren, dass man mitbekommt, das andere ihren Glauben ausleben.“
Politiker, die den Adhan verbieten wollen, ohne auf Kirchenglocken verzichten zu müssen, greifen ohnehin lieber zu einem anderen Argument. Ihnen zufolge passe der muslimische Gebetsruf schlicht nicht zur christlichen Kultur des Landes. Lässt sich diese These juristisch untermauern? Ja. Zumindest wenn man im Jahr 1955 hängengeblieben ist.
In einer aus heutiger Sicht abenteuerlich anmuteten Argumentation urteilte das Bundesverfassungsgericht damals: „Das Grundgesetz hat nicht irgendeine, wie auch immer geartete freie Betätigung des Glaubens schützen wollen, sondern nur diejenige, die sich bei den heutigen Kulturvölkern auf dem Boden gewisser übereinstimmender sittlicher Grundanschauungen im Laufe der geschichtlichen Entwicklung herausgebildet hat.“
Wer nun hofft, das passende Urteil gefunden zu haben, um allen Nicht-Christen ihre Religionsfreiheit abzusprechen, muss leider enttäuscht werden: Die sogenannte Kulturadäquanzklausel wurde von späteren Verfassungsrichtern nie wieder aufgegriffen und spielt heute keine Rolle mehr. Die heutige Rechtsprechung ist eindeutig: Das Grundrecht auf freie Ausübung der Religion gilt für alle Gläubigen gleich welcher Religion.
Trotzdem könne man Glockengeläut und Adhan doch nicht gleichsetzen. Schließlich handelt es sich bei dem einen nur um harmloses Gebimmel, während die anderen ihre Nachbarschaft mit einem religiösen Bekenntnis beschallen. Dieses Argument hat tatsächlich juristische Relevanz. Allerdings zugunsten der Muslime.
Denn gerade der eindeutig religiöse Charakter des Adhan lässt keinen Zweifel daran, dass er unter die Religionsfreiheit fällt. Im Falle von Kirchenglockenläuten unterscheiden Juristinnen hingegen manchmal zwischen liturgischem (wie Gottesdienst, Taufe) und profanem Glockenläuten (Zeitangabe, Sturmwarnung). Nur erstes fällt dieser Argumentation zufolge unter den Schutz der Religionsfreiheit. Andere sehen hingegen jegliches Glockengeläut von der Religionsfreiheit gedeckt. Sie argumentieren: Eine staatliche Unterscheidung zwischen liturgischem und profanem Geläut sei ein unzulässiger Eingriff in die Autonomie der Religionsgemeinschaften.
Grenzenlos ist das Recht auf öffentliche Gebetsrufe in der Bundesrepublik dennoch nicht. Das in der Rechtsprechung häufigste und wirksamste Argument gegen öffentliche Gebetsrufe lautet: Lärmschutz. Zwar stehen Glockengeläut und Muezzin-Rufe unter dem Schutz der grundgesetzlich garantierten Religionsfreiheit, unantastbar macht sie das dennoch nicht. Vor allem dann nicht, wenn sie mit anderen Grundrechten kollidieren.
Ein von Kirchenglocken oder „Allahu Akbar“-Rufen täglich aus dem Schlaf gerissener und in Schlafstörungen, Migräne und Depressionen gestürzter Anwohner kann mit gutem Grund auf die Verletzung von Art. 2, Abs. 2 des Grundgesetzes verweisen: das Recht auf körperliche Unversehrtheit. Der Großteil der Gerichtsverhandlungen zu Kirchenglockenläuten befasst sich tatsächlich mit diesem Konflikt.
Aber auch in diesen Fällen führt die Rechtsprechung nicht zum Verbot von Gebetsrufen. „Praktische Konkordanz“ nennen Juristen das Prinzip, wonach bei kollidierenden Grundrechten stets der Kompromiss gesucht werden sollte. In der Praxis bedeutet das zum Beispiel: der Muezzin ruft etwas leiser, die Kirchenglocken läuten etwas später. Häufig urteilen Richterinnen aber auch völlig pro Religionsfreiheit und muten Anwohnern Gebetsrufe weit jenseits der örtlich geltenden Lärmschutzbestimmungen zu. Urteile hingegen, in denen ein öffentlicher Gebetsruf zugunsten lärmgeplagter Anwohnerinnen generell untersagt wurde, gibt es nicht.
Was es dennoch leider reichlich gibt, sind Politiker, Journalistinnen und „Experten“, die fordern Muslime die Ausübung ihrer Religionsfreiheit zu verweigern. Auf dem Boden des Grundgesetzes bewegen sie sich – anders als zum Gebet rufende Muslime – nicht.