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Reflexionen zum Ramadan: Philosophie und spirituelle Erfahrung

Ausgabe 346

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Foto: Mehmet Subasi, Unsplash

Spirituelle Erfahrung: Welches Erkenntnisse nehmen wir aus dem heiligen Monat mit?

(iz). Es war eine legendäre Begegnung im 12. Jahrhundert. In Andalusien treffen sich zwei Philosophen zu einem Gespräch, von der nur ein kurzer Wortwechsel überliefert ist. Ibn Ruschd ist nicht nur ein wichtiger Rechtsgelehrter, sondern der berühmte Kommentator der Werke des Aristoteles. Ibn ‘Arabi ist zu diesem Zeitpunkt ein junger Mann, der göttliches Wissen bisher allein durch spirituelle Erfahrungen erlangte.

Gelehrte zwischen spirituellen und philosophischen Erfahrung

Erst später wird er auf tausenden Seiten, beispielsweise in seinen „Mekkanischen Offenbarungen“, über seine geistigen Reisen berichten. Der Austausch symbolisiert das zeitlose Ringen der Gelehrten um das Verhältnis von Religion, Recht, Philosophie und Technik. Ibn Ruschd öffnete den Muslimen mit seiner Brücke zur griechischen Welt des Denkens und der Wissenschaft, in deren Erkenntnissen er keinen Widerspruch zum religiösen Erleben sah.

Sein junger Gesprächspartner erinnerte ihn daran, dass die Vernunft und alle Erklärungsmodelle ihre Grenzen haben, und letzte Gewissheiten nur auf dem spirituellen Weg zu erlangen seien.

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Foto: Topkapi Palace Library, Istanbul, via Wikimedia Commons | Lizenz: Public Domain

Der Islam war aus Sicht dieser Gelehrten keine kalte Gesetzesreligion, sondern eine Lebenspraxis, die das Denken und die geistige Erfahrung, Herz und Verstand, umfasst. In diesem Sinne hat diese Begegnung der beiden großen Männer nach wie vor ihre Aktualität.

Die Fastenzeit wird in verschiedenen Kulturkreisen genutzt, als eine einmalige Gelegenheit philosophische, wissenschaftliche und spirituelle Reflexionen miteinander zu verknüpfen.

Übungen des Verzichts und der Freiheit

Die Enthaltsamkeit, ein Gestaltungselement des Lebens, ist historisch in zahlreichen Kulturen belegt und kommt in vielfältigen Formen, in teilweise festgelegten Ritualen vor. Das Fasten gehört zu den fünf Säulen des Islam und durch diesen Ritus, dessen Ablauf im islamischen Recht genau beschrieben ist, sind Millionen Menschen in der Welt miteinander verbunden.

Übungen des Verzichts sind in aller Munde, denn nach Jahrzehnten, die unter den Vorzeichen des Wachstums und des Konsums standen, gilt es heute schon aus ökonomischen und ökologischen Gründen den Gürtel enger zu schnallen. Immer wieder debattiert die Gesellschaft die sozialen Auswirkungen der neuen Situation, denn, wer verzichtet schon gerne freiwillig auf Konsum und Wohlstand?

In diesem Kontext mag es Außenstehende überraschen: Viele Muslime freuen sich jedes Jahr auf die Fastenzeit und genießen die Stimmung in dem heiligen Monat. Sie bestätigen auf ihre Weise die Einsicht Senecas: „Glück ist die Fähigkeit zum Verzicht“.

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Foto: Albert González Farran, UNAMID/CCL

Die Freiheit von materiellen Dingen nicht abhängig zu sein, entfaltet heute wieder ihre eigene Aktualität. Hierin liegt eine der Bedingungen für das künftige, hoffentlich friedvolle Zusammenleben auf dem Planeten.

Im Kern der Praxis des Fastens stehen nicht nur die körperlichen Erfahrungen, die der Verzicht auf Essen und Trinken mit sich bringt, sondern auch die Auseinandersetzung mit der menschlichen Situation an sich, die Beschäftigung mit theologischen und philosophischen Fragen. Während der Enthaltsamkeit versteht der Muslim oder die Muslima, dass der Geist den Köper beherrscht. Am Abend genügen meist eine Dattel und ein Schluck Milch, um die körperlichen Bedürfnisse zu erfüllen.

Das Gefühl der Dankbarkeit für die Versorgung, die wir vom Schöpfer bekommen, ist eine Grunderfahrung, genauso wie die Solidarität mit allen Menschen, die die Fastenzeit unter den Bedingungen von Krieg und Armut erleben. Diese Erinnerungen bestimmen nicht nur den Ramadan, sondern das ganze islamische Jahr.

Existenzielle Fragen

Um auf die existentiellen Fragen einzugehen, die sich auch aus der Erfahrung des Fastens ergeben, ist zunächst philosophisch zu klären, wie unser Dasein überhaupt verfasst ist. Wir müssen uns vergegenwärtigen, dass alle Menschen in ihre jeweilige Lebenssituationen hineingeworfen sind, ihr Verständnis des Seins übernommen haben und wir mit den Mitmenschen das Bewusstsein über unsere Endlichkeit teilen.

Das – wie es der Philosoph Martin Heidegger nennt – Vorlaufen in den Tod, das Gefühl, das alles Sein von einer Art Angst betroffen ist und dass der vorgreifende Mensch immer im Horizont seines Todes lebt, ist die Grundlage jeder Existenz. Die Verdrängung dieser Tatsachen in der Alltäglichkeit gehört zum Leben dazu.

Es geht hier nicht nur um die Furcht vor Krisen, sei es Krieg, Inflation oder Umweltzerstörung, sondern um die unbestimmte Angst, warum wir überhaupt da sind und was der Tod für uns bedeutet. Nur weil wir Lebenden in der gleichen „condition humaine“ sind, verstehen wir uns gegenseitig und interagieren entsprechend.

Foto: Zeno.org

Die entscheidende Komponente der Welterfahrung des Menschen ist nach Heidegger seine Gestimmtheit. „Unser Sein erschließt sich nicht in der reflektierenden Distanz, sondern in der Stimmung. Wie wir gestimmt sind, entscheidet darüber wie wir unser Dasein betrachten“, schreibt der Philosoph Richard Precht in seiner Einführung in die moderne Philosophie. Eine Feststellung, die jeder Fastende nachvollzieht.

Im Ramadan erfahren wir durch verschiedene Stimmungsschwankungen die Relativität von Zeit, begegnen intensiv der Zerbrechlichkeit unserer Existenz und schätzen das sinnstiftende Miteinandersein. Wir erleben die Umkehrung aller Verhältnisse und nichts anderes als den Gegensatz zur gewohnten Alltäglichkeit.

Der Psychologe G.W. Farthing beschreibt diesen Zustand: „Ein veränderter Bewusstseinszustand ist ein zeitweiser Wechsel im Gesamtmuster subjektiver Erfahrung, so dass das Individuum glaubt, seine psychischen Funktionen seien deutlich verschieden von bestimmten allgemeinen Normen seines normalen Wachbewusstseins.“

Warum fasten wir?

Aber warum ist es überhaupt nötig, zu fasten? Was ist der Sinn davon? Nach der Philosophie Heideggers befindet sich das Dasein in der alltäglichen Gefahr, sich zu verlieren und „uneigentlich“ zu werden. Die Eigentlichkeit steht bei dem Philosophen für die Wahrheitsorientierung und das authentische Leben, im Gegensatz zur Uneigentlichkeit, worunter er Erscheinungsformen der Selbsttäuschung wie das „Verfallen-Sein“ an „das Man“ und „das Gerede“ begreift.

Die Sorge ist durch das Verfallen gekennzeichnet, man ist in der Gegenwart nie völlig bei sich selbst, sondern immer „bei“ etwas, das heißt mit etwas beschäftigt, dass uns einnimmt. Im Zeitalter der sozialen Medien und der Allgegenwärtigkeit der Smartphones wird schnell klar, was hier gemeint ist. Die Tendenz zur Verfallenheit ist für den Philosophen kein Sündenfall, sondern der notwendige Ausgangspunkt, um zu einem höheren Bewusstsein zu kommen. Wir leben nicht von vornherein und permanent in der Gegenwart der göttlichen Präsenz.

Die Analyse Heideggers, die er in den 1920er Jahren in seinem Werk „Sein und Zeit“ entwickelt, wurde immer wieder kritisiert: Wo ist die Freude, die Zufriedenheit, die Liebe, das Glück in diesem Entwurf über das Sein?

Der Mangel an gesellschaftlicher, ethischer und politischer Dimension wurde ein Hauptkritikpunkt gegenüber dieser Philosophie. Insbesondere das Gegensatzpaar eigentlich/uneigentlich und die dem Dasein innewohnende Verfallenheit an das Man wurde von dem Philosophen Adorno angeprangert, als „Jargon der Eigentlichkeit“ kritisiert. Heideggers Begriff des uneigentlichen „Man“, mit der er eine von der Öffentlichkeit bestimmte Existenz bezeichnet, beurteilte Adorno im Sinne einer (zu) abstrakten Gesellschafts- und Kulturkritik.

Die Gefahr liegt auf der Hand, Menschen die sich als bedeutender erfahren wie andere, könnten auf dieser Grundlage eine Politik, in der Form der despotischen Herrschaft gegenüber den Vielen begründen. In den Religionen zeigt sich diese Möglichkeit in der Arroganz kleiner Gruppen, die sich im Selbstverständnis auserwählte Gläubige zu sein, über den allgemeinen Konsens stellen.

Fasten Ramadan

Foto: Archiv

Ein höheres Bewusstsein

Im Islam ist der Sinn des Fastens, nicht nur der Tendenz der Verfallenheit entgegenzuwirken, sondern die Muslime in ein höheres Bewusstsein zu führen. Hierzu gehören auch das gemeinsame Fastenbrechen, das feierliche Gebet und die Nähe zur Offenbarung. Die Rezitation der heiligen Verse, die zu jeder Nacht im Ramadan dazugehört, erinnert an die fundamentale Bedeutung des Qur’ans für das Leben.

Um den ganzen Sinn des Islam zu verstehen, sind nicht nur Kenntnisse über das Recht notwendig, sondern in einer Zeit, die von Technologie und Wissenschaft gelenkt wird, ist die Klärung von philosophischen Fragen wichtig. Wir sind dann auf dem richtigen Weg, wenn unser Dasein spirituell erfüllt ist, wir Sinn in den religiösen Handlungen finden und das Miteinandersein von Dankbarkeit geprägt ist.

Im 21. Jahrhundert beherrscht uns immer mehr der Gedanke, dass alle Lösungen unserer Probleme technischer und ökonomischer Natur sind. Muslime begegnen dieser Logik mit einer gewissen Demut.

Tuisa Hilft - Kurban

In „Sahih Muslim“ findet sich folgende Erzählung: Dschabir, möge Allah an ihm Wohlgefallen haben – berichtete: „Ich hörte den Propheten – Allah segne ihn und schenke ihm Frieden, sagen: „Es gibt des Nachts eine Zeit, in der Allah jedem Muslim, der Allah etwas Gutes von den Dingen des Diesseits und Jenseits bittet, (dieses) gibt, und zwar in jeder Nacht.“