,

Religion oder Kultur?

Ausgabe 278

Foto: Simbax

(iz). Wenn man in Deutschland mit Muslimen kommunizierte, dann war es bis vor Kurzem noch so, dass man es überwiegend mit Menschen, die türkische Wurzeln haben, zu tun hatte. Dementsprechend war das Islambild in den Köpfen vieler Leute geprägt. Alles, was „türkisch“ war, galt als „islamisch“ und umgekehrt.
Dass man dabei immer wieder Kultur und Religion verwechselt, wird deutlich, wenn man auf Muslime aus anderen Kulturen trifft. Muslime aus Syrien, Kanada, Deutschland, China oder Australien sind kulturell sehr unterschiedlich. Ihr Glaube ist derselbe, doch die Kultur und ihr ­Umgang im Alltagsleben sind andere. Und auch, wenn man vom selben Glauben ausgeht, ist die kulturelle Praxis sehr vielfältig. Aufgrund der Vielfalt des Islam gibt es keine einheitliche Entwicklung der Traditionen, wie Thomas Bauer in „Die Kultur der Ambiguität“ anschaulich darstellt.
Diese Unterscheidung ist für einen Nichtmuslim freilich nicht einfach. Wie soll man differenzieren, welche Handlung nun kulturell bedingt und welche religiös motiviert ist? Trotzdem ist diese Unterscheidung im Umgang miteinander und vor allem in gesellschaftlichen Diskursen enorm wichtig.
Denn wer behauptet, etwa die Benachteiligung der Frau sei ein muslimisches Problem, muss erklären, warum es auf die Sicht und Rolle der Frau – ohne es positiv oder negativ zu konnotieren – zwischen muslimischen, christlichen, ­jesidischen und anderen Menschen aus der gleichen Region, beispielsweise aus Syrien, keine Unterschiede gibt. Der christliche Syrer hat die gleiche Sicht auf die Frau wie der muslimische oder der atheistische Syrer. Weder ist bei einer ­gegebenen Frauenfeindlichkeit die Bibel Auslöser noch der Qur’an. Ein christlicher Syrer, der frauenfeindlich ist, nimmt sich dieses Recht nicht aus seinen religiösen Quellen, ebenso wenig der muslimische Syrer.
Die Rolle der Frau kann für einen deutschen Muslim völlig anders aus­sehen, als für einen chinesischen oder für einen irakischen Christen. Weitere solcher anschaulichen Beispiele sind Themen wie Ehrenmord und Zwangsheirat, die hierzulande konsequent mit dem ­Islam in Verbindung gebracht werden, obwohl auch dies ein kulturelles Problem in bestimmten Regionen dieser Welt ist, unabhängig davon, welche Religion die Menschen dort haben. Auch hier gilt, weder stammt es aus dem Christentum noch aus dem Islam, dass Zwangsheirat und Ehrenmord dort stattfinden. In jeder Religion sind beide absolut unvereinbar und unverhandelbar. Es ist also anhand vieler solcher Punkte ersichtlich, dass hier ein kulturelles Phänomen vorliegt. Kultur und Religion werden bei solchen Themen immer wieder vermischt.
Deutlich wird auch, dass Religion und Kultur selbstverständlich auch Schnittmengen haben, denn Religion ist einer von vielen Faktoren, die eine Kultur­ ­ausmachen. Es finden sich aber auch ­Bereiche, die im totalen Widerspruch zu einander stehen. Wenn es hart auf hart kommt, erlebe ich in der Familienberatung, dass sich gefühlte 90 Prozent für Kultur entscheiden, und nicht für Religion. In solchen Konflikten heißt es dann nicht, was in der Bibel oder im Qur’an steht, sondern was die Nachbarn, die Community, Verwandte oder Freunde in der Heimat sagen.
Gleichwohl werden vielerorts jegliche Muslime als Qur’anexperten oder Theologen wahrgenommen. Wenn Siebtklässler in der Schule als Referatsthema erklären müssen, was nun der Dschihad bedeute, ist das meist kontraproduktiv. Genauso wie nicht jeder Christ ein Bibelexperte ist, kann nicht vorausgesetzt werden, dass jeder Muslim Allahs Buch in- und auswendig kennt. Daher bekommt man in Diskussionen des Öfteren auch keine theologischen Antworten, sondern eher kulturelle, weil die antwortenden Gesprächspartner keine hinreichenden theologischen Kenntnisse haben. Damit ist nicht der abwertende Begriff „Kulturmuslime“ gemeint, sondern schlicht die Tatsache der theologischen Unkenntnis oder die Beschränkung auf minimale Kenntnisse. Denn viele kulturelle Praktiken berufen sich nicht auf theologische Quellen des Islam, sondern entstehen aus kulturellen Riten und Werten. Die theologischen Quellen sind dabei eindeutig: Qur’an, Sunna (die Lebenspraxis des Propheten Muhammad), Meinungskonsens unter den islamischen Gelehrten und Analogieschlüsse.
Aufgrund der gegenwärtigen kultu­rellen Vielfalt der Muslime in Deutschland und der Globalisierung werden diese Unterschiede jedoch immer deutlicher. Man trifft in unserem Land eben nicht nur auf den türkischen Muslim, sondern auch auf den deutschen oder britischen, die jeweils ihre eigene Kultur haben. So entsteht in Deutschland eine Hetero­genität der Muslime.
Auch die Sprache wird auffällig häufig mit einer Religion verbunden. Dies führt dann zu Irritationen, wenn christliche Araber „Allahu Akbar“ rufen, was schlicht und einfach „Gott ist größer“ bedeutet. Denn selbstverständlich sagen auch christlicher Araber „Allah“, weil dies das arabische Wort für „Gott“ ist.
Kultur gibt den Menschen eine Orien­tierung im Alltag. Aber auch sie ist ständig im Wandel. Von Generation zu Generation verändert sich Kultur, daher ist sie nichts Statisches und wird in Diskursen immer wieder ausgehandelt. Als die sogenannten Gastarbeiter in den 1980ern in ihre vermeintliche alte Heimat zurückkehrten, hatten sie Integrationsschwierigkeiten, weil sowohl sie selbst als auch ihre Heimat sich schon verändert hatten. So kamen einige nach wenigen Jahren wieder nach Deutschland, in ihre neue Heimat, zurück. In diesem langjährigen Prozess entsteht auch ein kulturell europäisch geprägter Islam, ohne die Glaubensinhalte oder -Praxis der Religion in Frage zu stellen oder sie gar reformieren zu wollen.
Links: facebook.com/CemilSa