Schiller bringt die Tat hervor

Ausgabe 255

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(iz). Ich steige in den Bus, suche mir einen freien Platz und setze mich. Ich entscheide mich dafür, mein Smartphone in der Tasche zu lassen, und schaue aus dem Fenster. Plötzlich werde ich Zeuge eines Gespräches über Friedrich Schiller: „Der schreibt voll komisch.“ „Ja, das ist voll langweilig.“ Interessanter sei „Fifty Shades of Gray“.

Nun stelle ich mir die Frage, wie man Schiller langweilig finden kann. Von ­keinem Autor wurden mein Fleiß und mein Eifer dermaßen angeregt wie von ihm. Schon Heinrich Heine sagt im Vergleich von Goethe und Schiller: „[D]ie Goetheschen Dichtungen bringen nicht die Tat hervor wie die Schillerschen.“ Schiller geht es um die Tat. Um das eigenständige Gestalten seines Schicksals, ganz gleich, wie schlecht wir meinen, dass die Umstände sind.

Als Verfasser der Räuber wurde er damals von einem Rezensenten zum kommenden „deutschen Shakespeare“ erhoben. Schon in seinem Erstlingsdrama befasst er sich mit den großen Fragen der Menschheit: Schreibt mir das Schicksal durch seine Naturgaben vor, was ich zu werden habe oder liegt mein Schicksal in meiner eigenen Hand? Zwei Brüder, die von völlig entgegengesetzten Motiven getrieben werden: Den einen leitet persönlicher Vorteil, den anderen die Sehnsucht nach Gerechtigkeit. Doch in dieser Sehnsucht wird er Anführer einer Mörderbande, bekommt letzten Endes Gewissensbisse und liefert sich selbst der Justiz aus. Reinigt der Zweck die Mittel? Nach welchen Prinzipien handle ich? Habe ich überhaupt Prinzipien? Die Größe eines Werkes bemisst sich nicht immer an den Erkenntnissen und Antworten, die es uns liefert. Manches Werk erhält seine Bedeutung durch die Fragen, die es aufwirft.

Und das, was bei Schiller nie zu kurz kommt, sind Sentenzen. Sätze, die man sich in den Kalender schreibt oder an die Pinnwand hängt. Schon sein Erstlingswerk ist voll davon: „Ich spüre eine Armee in meiner Faust“, lässt Schiller seinen Karl Moor emphatisch ausrufen. Als dieser nicht mehr weiter weiß, reflektiert er darüber, ob er seinen gegenwärtigen Umständen ausgeliefert ist oder ob er die Möglichkeit hat, selbst zu entscheiden, welche Richtung er seinem Leben geben möchte: „Außendinge sind nur der Anstrich des Manns – Ich bin mein Himmel und meine Hölle.“ Karl Moor, in den Schiller nicht wenig von sich hineingelegt hat, ist entschlossen in seiner Antwort: Jeder Mensch hat sein Glück in der eigenen Hand. Mein Leben ist das Produkt der Entscheidungen, die ich treffe. Und sagt Allah im Qur’an etwa Anderes? Nein, Allah, der Erhabene, sagt in Sure 53, Vers 39 genau das: „Dem Menschen steht nur das zu, worum er sich bemüht.“

Doch oft überfällt den Menschen Angst: Was ist, wenn ich es nicht schaffe? Was ist, wenn ich versage? Aus Furcht vor dem Schmerz geben viele Menschen auf. Will ich einer derjenigen sein, die aufgeben? Auch hier bezieht Schillers Karl Moor ganz klar Stellung: „Und soll ich vor Furcht eines qualvollen Lebens sterben? – Soll ich dem Elend den Sieg über mich einräumen? – Nein, ich will’s dulden. […] Die Qual erlahme an meinem Stolz! Ich will’s vollenden.“ Karl Moor tut, was sich nur die wenigsten Menschen zutrauen: Er entscheidet sich dafür, sein eigenes Verhalten nicht bloß von äußeren Umständen abhängig zu machen. Er entscheidet sich dafür, im wahrsten Sinne des Wortes frei zu sein.

Mein Opa versuchte mir ständig dieselbe Weisheit, nur mit anderen Worten, beizubringen. Mein Opa liebt es, Anekdoten der Sufis zu erzählen, derjenigen Muslime, die nicht bloß darauf schauen, was Halal und Haram, also erlaubt und verboten ist, sondern sogar auf Erlaubtes verzichten, wenn sie dadurch Allah näher kommen können. Ein Sufi, so mein Opa, sah einst einen Skorpion auf einem Stein inmitten eines reißenden Flusses und entschied sich, diesem Skorpion zu helfen, aufs Land zu kommen. So oft er seine Hand nach ihm ausstreckte, um ihm zu helfen, so oft versuchte der Skorpion, ihn zu stechen. Ein Junge, der das Spektakel mit ansah, sagte: „Wieso tust du das? Der Skorpion wird dich noch stechen.“ Der Sufi erwiderte: „Die Natur des Skorpions ist es, zuzustechen. Meine Natur ist es, anderen zu helfen. Nur, weil er nicht aufhört, seiner Natur nachzugehen, darf ich nicht aufhören, meiner Natur nachzugehen.“

So wie Karl Moor sein eigenes Verhalten nicht von äußeren Umständen abhängig macht, so macht auch dieser Sufi sein Verhalten von seinen eigenen Prinzipien abhängig, statt sie fallen zu lassen, nur weil ihn jemand schlecht behandelt. Diese Charaktere stellen jedem Leser und Hörer die Frage: Wie funktioniere ich? Nach welchem Vorbild handle ich? Und warum handle ich so, wie ich handle?

Auf letztere Frage geht Schiller in seinem Prosawerk ein. Seine Erzählung „Der Verbrecher aus verlorener Ehre“ bietet zahlreiche Lehren, deren wahrer Wert bis heute nicht genug gewürdigt worden ist. Er zeichnet uns einen Verbrecher, der sein erstes Verbrechen nur begeht, um eine Frau zu beeindrucken. Er wird zum Dieb, um seiner Angebeteten etwas bieten zu können. Doch er wird von einem Konkurrenten um seine Liebe verraten und wird eingesperrt. Wieder in Freiheit entlassen wird er erneut zum Dieb – und zum Mörder. Doch bei einer solch einfachen Schilderung belässt es Schiller nicht. Schiller sagt, bevor er mit der Erzählung beginnt: „[W]ir müssen mit ihm [dem Täter] bekannt werden, eh er handelt; wir müssen ihn seine Handlung nicht bloß vollbringen, sondern wollen sehen. An seinen Gedanken liegt uns unendlich mehr als an seinen Taten, und noch weit mehr an den Quellen seiner Gedanken als an den Folgen seiner Taten. Man hat das Erdreich des Vesuvs untersucht, sich die Entstehung seines Brandes zu erklären; warum schenkt man einer moralischen Erscheinung weniger Aufmerksamkeit als einer physischen? Warum achtet man nicht in eben dem Grade auf die Beschaffenheit und Stellung der Dinge, welche einen solchen Menschen umgaben, bis der gesammelte Zunder in seinem Inwendigen Feuer fing?“

Schiller betreibt Ursachenforschung. Warum wurde der Dieb zum Dieb, warum der Verbrecher zum Verbrecher? Gerade heute ist dieser Gedanke brandaktuell. Der Glaube wird bei Terroristen für Untaten verantwortlich gemacht. Doch wieso fördert dieser Glaube in den Einen Liebe und stimmt sie zu den wundervollsten Gedichten und selbstlosesten Spenden, während andere ihre Morde damit rechtfertigen? Da muss noch etwas in der Person selbst sein, das nicht mit dem Glauben zusammenhängt, um sich diese Untaten erklären zu können. Was ist es, wodurch die Seele eines Terroristen Feuer fängt? Auf diese Frage bringt Schillers Werk den aufmerksamen Leser, der die zeitlosen Weisheiten dieses Dichterfürsten auf unser Zeitalter projiziert.

Schiller ist jedoch nicht bloß Verfasser schöner Literatur. Seine Kant-Lektüre hat ihn fundamental geprägt. Und als Reaktion auf diese verfasste er selbst philosophische Werke. In den „Xenien“, die er gemeinsamen mit Goethe verfasste, tritt die Kritik an Kant deutlich zutage: „Gerne dien’ ich den Freunden, doch thu’ ich es leider mit Neigung, / Und so wurmt es mir oft, daß ich nicht tugendhaft bin.“ In Kants Philosophie besitzt eine Handlung dann moralischen Wert, wenn diese frei von jeder Neigung und Lust ist. Wenn das Innere eines Menschen sich dagegen sträubt, etwas Gutes zu tun, und der Mensch es dennoch tut, dann besitze die Handlung moralischen Wert. Dieser Philosophie wohnt der Gedanke inne, dass der Mensch, sobald er keine Freude mehr an der guten Handlung habe, er diese mit dem Schwinden der Freude unterlassen würde. Schiller jedoch sagt, dass er dem Freund aus Neigung helfen würde, was laut Kant zur Bedeutung habe, dass diese Hilfe keinen moralischen Wert besitzt. In seiner philosophischen Schrift „Über Anmut und Würde“ geht Schiller tiefer auf die Thematik ein.

Wenn die Triebe den Menschen zu einer Handlung nötigen möchten, die die Vernunft verbietet, so sei Würde nötig: „Bei der Würde also führt sich der Geist in dem Körper als Herrscher auf, denn hier hat er seine Selbständigkeit gegen den gebieterischen Trieb zu behaupten, der ohne ihn zu Handlungen schreitet und sich seinem Joch gern entziehen möchte.“

Hier stimmt Schiller mit Kant noch überein, doch er geht noch einen Schritt weiter: Das menschliche Ideal könne nicht sein, dass man sich ständig dazu zwingen muss, gut zu sein. Das Ideal sei es, das Gute nicht bloß zu wollen, sondern ihm zugeneigt zu sein und Freude am Guten zu haben. Sittlich zu handeln sei nicht die Pflicht des Menschen, sondern, ein sittliches Wesen zu werden. Der Unterschied besteht darin, dass sittliches Handeln einzeln und für sich steht. Jede Handlung muss auf ihre Sittlichkeit hin geprüft werden. Ein sittliches Wesen an und für sich jedoch handelt aus Neigung und mit Lust sittlich, da es darin seine Freude und Erfüllung findet: „[D]er Mensch darf nicht nur, sondern soll Lust und Pflicht in Verbindung bringen; er soll seiner Vernunft mit Freuden gehorchen.“ Und ein Mensch, bei dem Neigung und Sittlichkeit übereinstimmen, sei das Ideal und werde schöne Seele genannt. Eine solche könne die Leitung des Willens gänzlich der Neigung übergeben, da diese nichts wollen werde, was mit der Sitte nicht zu vereinbaren ist. Doch dort, wo die Neigung etwas ausführen möchte, dass mit der Sitte nicht konform geht, dort habe die Vernunft wieder die Herrschaft zu übernehmen.

In Schillers Philosophie werden vom Menschen zwei Dinge gefordert: „So wie wir Anmuth von der Tugend fordern, so fordern wir Würde von der Neigung.“ Das heißt, ein Mensch, der gemäß der Vernunft – also tugendhaft – handelt, muss dahin kommen, dass er mit Lust und Freude so handelt. Das erst wird seinem Handeln Anmut und Schönheit verleihen. Und ein Mensch, dessen Neigung von ihm Handlungen fordert, die der Sitte widersprechen (der Muslim würde sagen, die Haram sind), der muss, selbst wenn es wehtut, mit Würde handeln. Würde ist es, auch dann, wenn es schwerfällt und sogar weh tut, vernünftig zu handeln, dies dennoch zu tun.

Ein Tänzer verbildlicht uns diese Gedanken: Am Anfang fallen ihm die Bewegungen schwer und er muss sich anstrengen, sie richtig auszuführen. Solch einen Tänzer würden wir nicht als anmutig bezeichnen. Doch irgendwann gelangt er an den Punkt, an dem er die Bewegungen instinktiv und mit Leichtigkeit vollbringt und wir empfinden seinen Tanz als anmutig und schwerelos: „Das sieht bei ihm so einfach aus“, würden wir ausrufen.

Ähnliche Gedanken lassen sich ebenfalls in der Gedanken- und Gefühlswelt der Sufis im Islam finden. Die Neigung, die Triebe oder auch das Ego werden in islamischer Terminologie als Nafs bezeichnet. Dieses Nafs zu erziehen, also sich selbst zu erziehen, ist das Ziel allen Strebens. Es soll auf eine solche Stufe erhoben werden, dass es Gefallen am Guten findet. So haben sowohl Kants als auch Schillers Ausführungen ihre Daseinsberechtigung. Sie bezeichnen lediglich verschiedene Stufen des Nafs.

Während es dem Nafs anfänglich schwerfällt, der Vernunft zu folgen, also das Gebet zu verrichten, zu fasten und auf Hass Liebe zu erwidern, so führt ein Nafs, das bereits gereifter ist, diese Handlungen mit Hingabe und Inbrunst aus und findet Leben darin. Und eine schöne Seele, wie sie Schiller nennt, wird bei den Sufis als „Nafs Mutmain“ bezeichnet. Eine vollendete Seele, in der Sinnlichkeit und Sitte harmonieren.

Diese Gedanken weckt Schiller in mir, einer der zwei Dichterfürsten aus dem damaligen Weimar. Ich sitze noch immer im Bus und denke an einen Ausspruch des einstigen Sultans Abdulhamid II.: „Es ist nicht die Geschichte, die sich wiederholt, es sind die Fehler, die sich wiederholen.“ Als Ottilie, Goethes Schwiegertochter, in Goethes Anwesenheit äußerte, dass Schiller langweilig sei, antwortete er: „Ihr seid viel zu armselig und irdisch für ihn!“ Ich stelle mir vor, wie dieser Ausruf bis in den Bus dringt, sodass alle Anwesenden ihn hören können, und ein Grinsen breitet sich in meinem Gesicht aus.