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Soll Deutschland von England lernen?

Ausgabe 288

Foto: Autor

(iz). Was ist das Besondere an einem Foto eines britischen Supermarktregals? Prinzipiell nichts. Doch was auf der Insel ein stinknormales Supermarktregal ist, kann in Deutschland schon einen Skandal hervorrufen. Und es gibt nicht nur preis, wie unterschiedlich der Grad gesellschaftlicher Entwicklung zwischen Deutschland und Britannien ist, sondern zeigt auch einen von vielen Gründen auf, warum die Briten eigentlich froh sein sollten, endlich das sinkende Schiff der EU verlassen zu können.

Wovon rede ich da? Lasst mich erklären: Das oben abgebildete Foto zeigt das Innere einer Tesco-Filiale im Westen Londons, der Hauptstadt des heute nicht mehr so Vereinigten Königreichs – eigentlich war es nie so richtig vereint, wenn man Schotten, Waliser und die meisten Nordiren fragt, aber das ist eine Geschichte für einen anderen Tag und Beitrag. Das Foto habe ich gemacht während meines jüngsten Aufenthalts zu Beginn des diesjährigen islamischen Fastenmonats. Tesco ist einer der größten Supermarktketten Großbritanniens. Die auf dem Foto abgebildete Filiale im Borough Hounslow ist ein ganz normales Beispiel für einen britischen Mainstreammarkt. Sie wünscht ihren muslimischen Kunden mit speziellen Auslagen und Aktionen einen gesegneten Fastenmonat.

In England ist das nichts Besonderes. Als Berliner habe ich so etwas aber bis heute nicht gesehen in einem der großen deutschen Supermarktketten, nicht einmal im alten Kreuzberg oder Neukölln. Und schon gar nicht in solcher Deutlichkeit und Filialweite.

Während in England die gesellschaftliche Inklusion muslimischen Glaubens unaufgeregte Regel statt sensationalisierte Ausnahme ist, hat in Deutschland jeder zögerliche Schritt in Richtung religiöse Inklusion seitens progressiverer Kräfte – insbesondere, wenn es sich bei der Religion um den Islam handelt – einen korrespondierenden rassistischen Rückkoppelungseffekt sondergleichen: Der Vorstoß der Lebensmittelhandelskette Kaufland, letztes Jahr einen Ramadan-Kalender in ihr Sortiment aufzunehmen, nahmen wütende identitäre Kunden zum Anlass, soziale Medien mit ihrem Gebrechen der werkseingestellten Islamfeindlichkeit zu besudeln und mit Boykottaufrufen um sich zu werfen.

Obwohl einzelne Supermarktfilialen der großen deutschen Ketten mittlerweile durchaus Ramadanauslagen in ihren Ladenflächen haben, bleibt der Grad der Würdigung des islamischen Fastenmonats in Deutschland weit hinter England, wo die Berücksichtigung muslimischer Orthopraxie im Alltag schon lange DIN-genormter Standard ist. Und das bei einem relativ identischen muslimischen Bevölkerungsanteil – etwa 5 Prozent – in beiden Ländern. Woher also diese Diskrepanz in Sachen (alltags)gesellschaftlicher Inklusion von Muslimen – und von scheinbar Fremden im Allgemeinen?

Ein kurzer Exkurs: Man nehme wieder das Beispiel Berlin, die ach so bunte Hauptstadt und das kosmopolitische Aushängeschild Deutschlands im Land selbst und über dessen Grenzen hinaus. Doch wie oft sieht man in den Doppeldecker- und Gelenkbussen der Berliner Verkehrsbetriebe, die 24/7 von morgens bis morgens durch die Alleen und Kieze rollen, einen schwarzen Busfahrer? Oder begegnet man irgendeinem anderen People of Color in irgendeinem anderen sichtbaren Dienstleistungsberuf, sei es in der Verwaltung oder bei der Polizei, als TV-ModeratorIn oder LehrerIn, bei der Feuerwehr oder am Postschalter?

Was in UK und den USA, in den Niederlanden und Neuseeland, in Kanada und sogar im kolonialrassistischen Aus­tralien der Goldstandard ist, hat in Deutschland so großen Seltenheitswert, dass ein schwarzer Busfahrer in der größten Stadt Deutschlands mit über dreieinhalb Millionen Menschen die ungeteilte Aufmerksamkeit viel zu vieler ­identitärer Deutscher auf sich ziehen wird, die sich auch noch wahrscheinlich für liberal und progressiv halten, während sie einen solchen Fahrer angaffen, als sei er E.T.

Was hierzulande wohl los wäre, wenn turbantragende Sikhs Linienbusse fahren würden (in London ein weiterer Standard) möchte ich mir nicht ausdenken in einer germanozentrischen Kultur, die zwischen polytheistischem Hinduismus und monotheistischem Sikhismus nicht unterscheiden kann, Sikhs entweder durch die Bollywoodlinse orientalisiert oder für radikale Muslime hält, und der Begriff Turban regelmäßig von deutschen Sportkommentatoren ohne jegliche interkulturelle Kompetenz und religiöse Sensibilisierung für die Kopfverbände bei verletzen Fußballern missbraucht wird.

Doch zurück zum Ramadan: Ich bin mir sicher, dass die vereinzelten Supermarktfilialen hierzulande, die sich dann doch nicht zu schade sind, ihre muslimische Kundschaft zu würdigen, nicht so weit gehen würden wie Tesco, das jenseits der Grenzen automatisierten Floskeltums gegangen ist und tatsächlich auch noch Schilder mit „Here for you this Ramadan“ in ihre Läden platziert hat: „Wir sind da für Sie während des Ramadans“.

Simple Worte, jedoch mit großem Symbolcharakter, in denen sich die empathische Spreu vom gleichgültigen Weizen trennt. Sie zeigen, wie gesellschaftliche Inklusion wirklich geht, und dass echter Multikulturalismus bedeutet, über bloße Toleranz hinauszuwachsen. Sie setzt eine proaktive Handlungsbereitschaft der Mehrheitsgesellschaft voraus. Ganz egal, welches kapitalistische Gewinndenken hinter Tescos Inklusionsgebaren stecken mag.

Darüber hinaus sind die strategisch platzierten Ramadan-Mubarak-Glückwünsche in der Hounslower Tesco-Filiale in der Bath Road nicht versteckt, sondern befinden sich an gleich drei neuralgischen Punkten innerhalb der Ladenfläche. Ob PR-Aktion oder authentische Anerkennung einer Glaubensgemeinschaft oder beides: Das liefert mir in diesen Tagen jene kulturelle Validation, die einem in Deutschland zu dieser Jahreszeit stets verwehrt bleibt.

Denn wenn große deutsche Supermarktketten die Frechheit hätten, ihren muslimischen Kunden einen gesegneten Ramadan zu wünschen, insbesondere mit der Intensität, die Tesco (und die anderen britischen Ketten wie Sainsbury und Asda bestimmt auch) an den Tag gelegt hat, dann wäre hierzulande die diskursive Hölle los und reflexartig von schleichender „Islamisierung“ die Rede.

Dabei ist Cranford, jener Teil von Hounslow, in dem sich die beschriebene Tesco-Filiale befindet, nicht einmal eine exklusiv muslimische Gegend. Gelegen in unmittelbare Nähe zu Heathrow, dem zweitgrößten Flughafen der Welt nach Passagierzahlen, machen die relativ neuen Einwanderer aus Polen oder Rumänien – neu bedeutet mittlerweile auch schon ein bis zwei Jahrzehnte – einen deutlich sichtbaren Anteil der einheimischen Bevölkerung aus, neben den alteingesessenen „alten Briten“ vom indischen Subkontinenten, wovon viele Hindus und Sikhs sind.

Sind sie etwa alle beleidigt wegen der „Zugeständnisse“ Tescos an ihre muslimischen Mitbürger? Schreit irgendeiner von denen „Islamisierung“, wie es in solchen Fällen in Deutschland schnell getan wird? Nein. Warum sollten sie auch? Ob Osteuropäer oder Südasiaten nichtmuslimischen Glaubens: Ihre kulturelle/religiöse Identität ist so gefestigt, dass sie durch solche Lappalien wie Ramadan-Mubarak-Schilder nicht ins Wanken gerät. Auch sind sie realpolitisch genug, um zu verstehen, dass Muslime – wie alle ehemaligen Subjekte der britischen Krone – inhärenter Bestandteil der britischen Geschichte und Gesellschaft sind. Und schlau genug, um zu raffen, dass das Entgegenkommen in Richtung einer Kultur nicht zwangsläufig die Abwendung von einer anderen bedeutet, wie die Regeln des kosmischen Nullsummenspiels aller Kulturkämpfer ja lauten.

Und schaut man sich all die osteuropäischen Supermärkte und Spätis in dieser traditionell südasiatischen Gegend an, stellt man schnell fest, dass anders als in Deutschland, wo es (rechter und linker) völkischer Volkssport ist, Parallelgesellschaften als den Ursprung allen Übels auszumachen, in England die verschiedenen migrantischen Milieus wunderbar nebeneinander her existieren können. Jeder macht sein eigenes Ding; wer will, kann interagieren, aber niemand ist beleidigt, wenn man es nicht tut.

Nicht nur die Koexistenz innerhalb migrantischer Milieus, sondern auch die zwischen Menschen mit ausländischer Migrationsbiographie und derer, die keine haben, funktioniert in Hounslow wunderbar: Zwischen all den „ethnischen“ Läden und Restaurants, people of color und Weißen aus der osterweiterten EU findet sich der ein oder andere von weißen Engländern frequentierte Pub mit BT Sports und/oder Sky Sports Abo: Keiner der hooliganesk ausschauenden angetrunkenen Weißen, die in der Halbzeitpause draußen Zigaretten rauchen und sich gegenseitig halbgrölend auf Cockney unterhalten und lachen, scheint sich darüber zu echauffieren, dass die Luft geschwängert ist von indischen Gewürzen, aus einem vorbeifahrenden aufgepimpten Kleinwagen laute panjabische Bhangra-Mucke dröhnt, und vorbeigehende junge working-class-Paare in Jogginghosen sich auf slawischen Sprachen unterhalten.

Im Gegensatz zu England, wo alte Pakistanis und neue Polen ihre Kultur nicht nur behalten dürfen, sondern durch den Konsens einer Live-and-Let-Live-Mentalität sogar ermutigt werden, sie in all ihrer Fülle auszuleben, verfolgt Deutschland einen ganz anderen Ansatz in Sachen Diversity Management: Es betreibt rigoros Migrantenshaming (insbesondere gegenüber denen, die Namen haben wie Muhammad oder Mutombo), und zwar bis zum Grad der Unterwerfung und Selbstaufgabe, so dass irgendwann alles Fremde von einer deutschen Leitkultur verschlungen wird, die sich ausschließlich von der Assimilierung ethnokultureller Minderheiten ernährt.

Rassistische Reaktionen in Deutschland – egal ob vom rechten Rand, aus der gesellschaftlichen Mitte oder von links – gegenüber allem, was stolz und muslimisch ist, sollten nicht verwundern: In einem bestenfalls agnostischen, schlimmstenfalls neoatheistischen Land wie dem unseren (Neoatheisten wie Richard Dawkins unterscheiden sich ja von Standardatheisten – wovon die meisten ohnehin Agnostiker sind – gerade durch ihre vollfokussierte Abneigung zum Islam, auf den sie ihre ganze antireligiöse Energie verwenden, was dann auch noch als „säkularer Humanismus“ durchgeht), in dem die Repräsentation von Minderheiten kriminell schwach ausgeprägt ist, entsteht zwangsläufig ein gesellschaftliches Klima, in der Islamophobie wuchern kann wie Unkraut.

Deutschland versucht sich stets vielfältig, tolerant und weltoffen zu zeigen: dabei hat auf den Vielfaltsbegriff die LGBT-Community scheinbar ein unangefochtenes Monopol, denn er meint meistens nur die sexuelle Orientierung und immer seltener Hautfarbe, Religion oder Kulturkreis. Und ist Toleranz nicht lediglich ein Mindestmaß menschlichen Anstandes? Ist es wirklich etwas, das zum Angeben reicht? Und zählt zur Weltoffenheit nicht auch die gesellschaftliche Inklusion eines Glaubens, dem 1/6 der Weltbevölkerung folgen, und zwar in all ihren orthopraktischen Formen und ­Facetten?

De facto Berufsverbote für hijab­tragende Muslimas etwa widerlegen mit Leichtigkeit das deutsche Gute-Nacht-Märchen der eigenen Weltoffenheit, mit das sich liberale identitäre Deutsche allnächtlich in ihren postdemokratischen Schlaf der Gerechten wiegen. Die eigenen Unschuldslämmer auf biodeutschen Weiden zählen, bis man glückselig einschlummert.

Insbesondere Muslimen wird de facto verwehrt, ihr Grundrecht auf Religionsfreiheit, wie es durch das Grundgesetz garantiert ist, vollumfänglich auszuüben: Der öffentliche Druck gesamtgesellschaftlicher rassistischer Mehrheitseinstellungen zwingt sie, sich in Hinterhofmoscheen zurückzuziehen, wenn sie ihre religiöse Identität irgendwie halbwegs problemlos ausleben wollen. Oder zwingt sie in eigenen Supermärkten wie Bolu oder Eurogida einkaufen zu gehen, weil die deutsche Mehrheitsgesellschaft sich bis heute vehement dagegen weigert, die religiösen Essvorschriften deutscher Muslime in deutsche Supermarktsortimente zu inkorporieren – Stichwort halalgekennzeichnete Lebensmittel.

Und während der britische Innenminister Sajid Javid vergangene Woche sein „Ramadan Package“ bekannt gab, ein umfassendes Sicherheitspaket zum Schutz von Moscheen und ihren Gläubigen in England und Wales während des gesamten Fastenmonats (eine Reaktion auf die islamophoben Anschläge von Christchurch und auf mögliche Vergeltungsaktionen nach den islamistischen Anschlägen in Sri Lanka, wo zur Zeit rachsüchtige buddhistische Mobs auf Muslimjagd gehen und bereits die ersten Toten gemeldet werden), sieht Deutschland keinerlei Handlungsbedarf zum Schutz deutscher Muslime und ihren Einrichtungen.

By the way Sajid Javid, wie auch der Londoner Bürgermeister Sadiq Khan, ist ein britischer Muslim. Bis heute hat es im angeblich so vielfältigen Deutschland noch nie einen muslimischen Bundesminister gegeben. Im angeblich bunten Berlin, Heimat der größten türkischen Bevölkerung außerhalb der Türkei, übrigens auch noch keinen türkischstämmigen Regierenden Bürgermeister. Ein Araber hat es nach dem Abgang von Klaus Wowereit mal versucht, doch wurde Raed Saleh schnell von seiner eigenen Partei (SPD) nach allen Regeln der rassistischen Kunst daran gehindert: Unter anderem, weil er angeblich kein Deutsch könne, was Sprachwissenschaftler einhellig wiedergebt haben. In Deutschland dürfen CSUler und grüne Ministerpräsidenten frei von Diskriminierung ihren unverständlichen Dialekt in die Kameras brabbeln, aber wehe ein Berliner hat einen arabisch angehauchten Akzent: dann spürt er die volle Wucht des strukturellen Rassismus und islamfeindlichen Konsenses, der zu Deutschland gehört wie Spargel aus Beelitz und Waffenschmieden aus Baden-Württemberg.

All das sind deutliche Hin- bis Beweise dafür, dass in England Islam Normalität ist, egal was die islamfeindliche English Defense League und diverse Brexiteers und ihre Rattenfänger dagegen sagen und tun mögen. Britishness und Islam stehen sich nicht Gegenüber, sondern sind synonym – anders als bei uns, wo nach letztem Stand der Islam nicht zu Deutschland gehört, Muslime aber schon, oder irgend so ein ähnlicher Bierzeltstammtischquatsch.

Und die Tatsache, dass die britische Gesellschaft – egal wie gespalten sie in diesen stürmischen europapolitischen Zeiten sein mag – zu dieser gesellschaftlichen Übereinkunft gekommen ist und muslimische Kabinettsmitglieder und Bürgermeister, hijabtragende Verwaltungsbeamtinnen und halalzertifizierte internationale Fast-Food-Ketten wie Nando’s und Quiznos nicht Seltenheitscharakter haben, sondern nonchalanter Alltag sind, zeigt darüber hinaus, wie inklusiv und fortgeschritten sogar ein anal-retentives Prä-Brexit-Britannien ist gegenüber einem vom Rechtspopulismus infizierten Kontinentaleuropa, das in keiner Position ist, die Moralkeule zu schwingen und andere zu kritisieren.

Die dauerzankenden Briten sollten endlich zusammenkommen und Nägeln mit Köpfen machen, damit sie ihre robuste multikulturelle Gesellschaft, in der es echte Glaubensfreiheit und echte religiöse Inklusion gibt, und wo Minderheitenrepräsentation schon lange Realität ist statt tabuisierter Verrat am Volkskörper, schnellstmöglichst vor jenem Pulverfass in Sicherheit bringen können, das nur noch dem Namen nach eine Europäische Union ist.

Der Text wurde erstmals am 16. Mai auf der Webseite migazin.de veröffentlicht. Timo Al-Farooq, B.A. in Regionalstudien Asien/Afrika, Humboldt-Universität Berlin, freier Journalist in Berlin. Mehr von ihm kann man auf torial.com lesen.