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Kurzmeldungen Inland (Nr. 363): von der Bildungskrise bis zum Religionsunterricht

Kurzmeldungen

Die Kurzmeldungen aus dem Inland (Nr. 363) reichen von Umfragen zum Nahostkrieg, über Bildung bis zu Deutsch als Muttersprache. Mehrheit lehnt bisherige Politik im Nahostkrieg ab BERLIN (IZ). Eine repräsentative […]

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Schaikh Muhannad Yusuf: Islamisches Wissen braucht Fundamente

wissen muhannad

IZ-Begegnung mit Schaikh Muhannad Yusuf über die wesentlichen Elemente des islamischen Wissens, notwendige Schritte in seinem Erwerb, warum dazu eine Reinigung von Charakters sowie Herzen gehört und welche Eigenschaften Gelehrte in der heutigen Zeit brauchen.

(iz). Schaikh Muhannad Yusuf erlernte und studiert seit seiner Kindheit die wesentlichen Wissenschaften des Islam. Seine Studien fanden unter Anleitung renommierter mauretanischer Schuyukh und ‘Ulama statt.

Zu seinen vielfältigen Aufgaben im In- und im Ausland gehört die Leitung der Madrassa der Nour Community in Deutschland. „Das Ziel seiner Lehrtätigkeit besteht darin, die klassischen islamischen Wissenschaften fundiert und praxisnah zu vermitteln“, findet sich auf der Webseite zu seiner Person. Darüber hinaus schloss er in seiner Jugend Schulungen für Management und TV-Journalismus ab.

Von 2017 bis 2020 war er Imam einer Moschee in Minden und übernahm sowohl die Rolle des zweiten als auch teilweise des ersten. Zu den Aufgaben gehörten unter anderem die Freitagsansprachen und alle traditionellen Pflichten dieses Amtes.

Er gründete den größten islamischen Discord-Server Deutschlands und erreichte weltweit Platz zwei. Dieser zählt heute über 6.700 Mitglieder und wurde initiiert, um Jugendliche auf ihrem digitalen Weg abzuholen und ihnen eine Plattform für Austausch und Bildung im Din zu bieten.

Die Schüler sind aktiv für die wissenschaftliche Arbeit in der Akademie zuständig, wodurch sie nicht nur ihr Wissen vertiefen, sondern auch Verantwortung übernehmen können. Es handelt sich um ein sehr erfolgreiches Projekt, das bis heute wächst.

In einem umfangreichen Hintergrundgespräch befragten wir ihn u.a. zu den Grundelementen des Wissens, was zu einer substanziellen Ausbildung gehört, warum die Nachfolge einer Rechtsschule so wichtig ist und wieso insbesondere unsere Gelehrten frei sein müssen, um ihre Aufgabe authentisch erfüllen zu können.

Islamische Zeitung: Lieber Schaikh Muhannad, Sie selbst sind engagiert in der Vermittlung von islamischen Wissenschaften. Welche Fragen und Themen sind für die hiesigen Muslime – insbesondere die Jugend – gerade am drängendsten bzw. relevantesten?

Schaikh Muhannad: Das drängendste Thema für die muslimische Jugend in Deutschland ist die Frage nach Orientierung. Diese entsteht nicht durch einzelne Schlagworte, sondern durch ein solides Fundament.

Damit meine ich das islamische Grundwissen, das in unserer Tradition als Fard ‘Ayn bezeichnet wird – also das Pflichtwissen, das jeder Muslim beherrschen muss. Dieses umfasst den Kern in ʿAqida, im Fiqh und im Tasawwuf – also Glaube, Handeln und Spiritualität. Wer dieses Fundament hat, besitzt eine gesunde Basis.

Zu diesem Grundwissen gehören heute aber auch die islamischen Antworten auf die Probleme der Zeit. Nur wenn beides zusammenkommt – klassisches Pflichtwissen und ein Verständnis der Gegenwart – entsteht eine realistische, gesunde und zukunftsorientierte muslimische Persönlichkeit.

Ohne dieses Fundament hingegen entsteht oft eine verwirrte, orientierungslose Haltung, die entweder zur Last für Familie und Umfeld wird oder sogar in extremistische Strömungen abgleitet.

Hier zeigt sich, wie zentral Bildung ist. Bildung, Bildung, Bildung – und Aufklärung – das sind die Schlüssel, um Jugendliche zu stabilisieren und ihnen die Möglichkeit zu geben, positiv zu wirken. Die Botschaft des Islam ist genau so aufgebaut: Das Grundwissen ist elementar und führt zu einer ausgewogenen Persönlichkeit. Vertiefende Wissenschaften sind ebenfalls wichtig, sollten aber denjenigen offenstehen, die sich aus eigenem Antrieb weiter spezialisieren wollen.

Darüber hinaus reicht es nicht aus, „nur“ in Deutschland zu leben. Man muss auch verstehen, wie dieses Land historisch, kulturell und politisch zu dem geworden ist, was es heute ist. Ohne dieses Wissen kann man sich nicht gesund einbetten. Ein Mindestmaß an Kenntnissen über Geschichte, Philosophie und die gesellschaftliche Ordnung ist daher unverzichtbar.

„Die Jugend darf sich nicht von Negativschlagzeilen lähmen lassen. Wer Pflichtwissen erwirbt, Chancen ergreift und seine Rolle erkennt, wird die Zukunft dieses Landes aktiv mitgestalten.“

Ein weiterer Aspekt ist der demografische Wandel, der Deutschland große Herausforderungen, aber auch enorme Chancen bringt. Dieses Land wird in den nächsten Jahren viele Arbeitskräfte brauchen. 

Wenn die muslimische Jugend ihre Zukunft aktiv mitgestalten will, muss sie sich ernsthaft mit Bildung, Berufsfeldern und gesellschaftlichem Engagement befassen. Denn wer die vorhandenen Chancen nicht nutzt, wird übersehen – und andere werden über die Köpfe hinweg entscheiden.

Hier liegt eine große Möglichkeit: Muslime können diese Lücken füllen, Verantwortung übernehmen und einen positiven Beitrag leisten – im karitativen Bereich, in der Wirtschaft, im Gesundheitswesen, in der Verwaltung. Das ist nicht nur eine Frage der Integration, sondern auch der Gestaltung.

Jugendliche sollten deshalb nicht in erster Linie auf die gegenwärtige Stimmung des Rechtspopulismus schauen und sich entmutigen lassen. Solche Strömungen sind zeitlich begrenzt und politisch wechselhaft. Was aber bleibt, sind die Fakten: der demografische Wandel, die Notwendigkeit von Arbeitskräften und die Realität, dass alle gebraucht werden. Früher oder später wird das auch zu einem Wandel im gesellschaftlichen Klima führen.

Wenn dieses Fundament gelegt ist – islamisches Grundwissen, Bewusstsein für die eigene Rolle und Blick auf die realen Chancen – dann stellen sich die wirklich relevanten Fragen: Welches Pflichtbewusstsein habe ich gegenüber Allah, meiner Familie und der Gesellschaft, in der ich lebe? Und wie kann ich meinen Auftrag als Khalifa erfüllen und nützlich sein?

Islamische Zeitung: Unsere Wissenschaften – von der Qur’anwissenschaft bis zum Tasawwuf – folgen ja inneren Denklogiken und ihren jeweils eigenen Methodologien. Muss man als Lehrer vor der Vermittlung vom konkreten Wissen seinen Schülern erst beibringen, welche Kenntnisse für sie geeignet sind und nicht?

Schaikh Muhannad: Ja – unbedingt. Bevor Wissen vermittelt wird, muss man dem Schüler beibringen, wie man Wissen trägt und welche Stufen für ihn geeignet sind. Nicht jedes Wissen ist für jeden in jedem Moment gut. Die islamischen Wissenschaften lassen sich – vereinfacht gesagt – in drei Ebenen gliedern:

Zielsetzung: Jede Wissenschaft hat nicht nur den Zweck, die göttliche Wahrheit von Qur’an und Sunna und die Praxis der ersten Generationen zu bewahren. Ebenso wichtig ist, dass wir ihre Methoden bewahren – also wie sie die Probleme ihrer Zeit verstanden, analysiert und gelöst haben.

Nur so können wir heute auf gleiche Weise die Fragen unserer Zeit angehen. Es geht also nicht darum, bloß alte Antworten zu wiederholen, sondern auch ihre Art des Forschens lebendig zu halten.

Methodik: Jede Disziplin besitzt ihre Werkzeuge. Dazu gehören die Usul und Qawa‘id, die sich durch Jahrhunderte intensiver Diskussionen herausgebildet haben. Aber auch hier geht es nicht nur um das Ergebnis, sondern darum, wie diese Ergebnisse entstanden sind – welche Fragen gestellt wurden, welche Analysen vorgenommen wurden und wie man schließlich zu Lösungen gelangte. Diese Methodik gibt uns den Schlüssel, heutige Fragen mit derselben Tiefe und Präzision zu behandeln, wie es die Gelehrten mit den Problemen ihrer Zeit getan haben.

Praxis: Schließlich geht es um die Anwendung – sowohl das Beherrschen und Verstehen des bereits vorhandenen Wissens als auch das Erarbeiten neuer Antworten für die Herausforderungen der Gegenwart. Jede Zeit bringt neue Fragen hervor, und die Praxis islamischer Wissenschaft besteht darin, sie auf der Grundlage von Qur’an, Sunna, Usul und Tradition zu beantworten.

Diese Dreiteilung ist eine Vereinfachung, um die Struktur verständlich zu machen. In Wirklichkeit sind die Disziplinen noch vielschichtiger, doch alle greifen ineinander. Ein Gelehrter verbindet Qur’anwissenschaft, Fiqh, Tasawwuf und Methodologie, wenn er eine Fatwa gibt oder einen Rat ausspricht.

„Ein Lehrer vermittelt nicht nur Inhalte – er gibt Reihenfolge, Eignung und Erziehung vor. Nur so wird Wissen zum Licht und nicht zur Last.“

Das Problem unserer Zeit ist jedoch, dass diese Reihenfolge oft nicht eingehalten wird. Viele Jugendliche beschäftigen sich mit Hadith-Bewertungen, Überliefererkritik oder alten Streitfragen, die längst abgeschlossen sind – ohne die Grundlagen zu beherrschen.

Andere steigen sofort in Themen wie Takfir (das Ausschließen von Muslimen) ein, obwohl ihnen sowohl Wissen als auch Erziehung fehlen. Dadurch entsteht Verwirrung, Spaltung und im schlimmsten Fall Radikalisierung.

Noch gravierender ist, dass sich heute beinahe jeder im Internet zum Islam äußert – unabhängig von Bildung, Charakter und Eignung. Dabei geht verloren, dass islamisches Wissen auf kollektiven Ergebnissen beruht: den jahrhundertelangen Diskussionen und Konsensen der Gelehrten. Wer nicht in dieser Tradition verankert ist, verliert Respekt vor diesem Erbe und konstruiert eigene Wege.

Deshalb braucht es neben Wissen immer auch Erziehung (tarbiya), die den Charakter festigt und den Schüler befähigt, Wissen verantwortungsvoll zu tragen. Scharfe Werkzeuge dürfen nicht in unreifen Händen liegen.

Genau aus diesen Beobachtungen und Beratungen mit Gelehrten heraus ist die Nour Islam Akademie entstanden. Sie arbeitet präventiv, indem sie bei den Wurzeln ansetzt – nicht bei Symptomen. Wir vermitteln das islamische Grundwissen in der richtigen Reihenfolge und begleiten es mit spiritueller Erziehung.

Gleichzeitig halten wir an den Fundamenten der Tradition fest, entwickeln aber Lösungen für die heutigen Herausforderungen. Ziel ist es, eine Generation auszubilden, die die Werkzeuge der Gelehrten versteht, sie verantwortungsvoll nutzt und später selbst dieses Wissen an andere weitergibt.

„Alle Rollen im islamischen Wissen teilen ein Fundament. Unterschiede entstehen durch Spezialisierung, Verantwortung und die historische Entwicklung der Begriffe.“

Islamische Zeitung: Wenn es um das Wissen und seine Träger geht, fallen häufiger mal Begriffe wie Imam, ‘Alim, Faqih, Mufti oder Schaikh. Können Sie uns diese Aufgaben erläutern und worin deren Unterschiede bestehen?

Schaikh Muhannad: Im Islam ist Wissen zu einer Wissenschaft geworden, damit spätere Generationen immer wieder auf dieselben Quellen zurückgreifen und Antworten finden können. Wie in allen Wissenschaften gibt es auch hier ein Fundament, das alle teilen, und Spezialisierungen, die sich im Laufe der Jahrhunderte herausgebildet haben. Die wichtigsten Begriffe lassen sich unterscheiden.

Imam: Ursprünglich bezeichnete dieser Begriff große Vorbildgelehrte – Persönlichkeiten wie Imam Malik oder Imam al-Nawawi, die in nahezu allen islamischen Disziplinen herausragende Beiträge geleistet haben. Sie verbanden die Fachbereiche, schufen Grundlagen, auf die alle späteren Gelehrten aufbauten, und hinterließen Werke, die bis heute angewendet werden. Im späteren Sprachgebrauch hat sich der Begriff jedoch erweitert und bezeichnet heute meist den Vorbeter in der Moschee. In wissenschaftlichen Kontexten aber wird der Begriff Imam weiterhin in seiner ursprünglichen, hohen Bedeutung verwendet.

Alim: Wörtlich „der Wissende“. Damit ist ein Gelehrter gemeint, der über ein breites Fundament verfügt und oft auch wissenschaftlich forscht und publiziert.

Faqih: Ein Spezialist für Fiqh, also das islamische Recht. Nicht jeder Faqīh ist ein Muftī – aber jeder Mufti muss ein Faqij sein.

Mufti: Derjenige, der nicht nur Fiqh beherrscht, sondern auch befähigt ist, Fatwas – also Rechtsgutachten – zu aktuellen Fragen zu geben. Ein Mufti arbeitet oft interdisziplinär, zieht Experten hinzu (etwa bei medizinischen oder technischen Fragen) und verbindet deren Wissen mit den Grundlagen des islamischen Rechts.

Schaikh: ein Oberbegriff für Lehrer und Meister. In der arabischen Welt ist es die Sammelbezeichnung für Gelehrte.

Allen diesen Rollen ist ein gemeinsames Fundament eigen: die Grundausbildung im islamischen Pflichtwissen, die überhaupt erst befähigt, über den Islam zu sprechen. Danach folgen Spezialisierungen, die mit unterschiedlichen Aufgaben und Verantwortungen verbunden sind.

Natürlich ist diese Darstellung sehr vereinfacht. In einem wissenschaftlichen Rahmen ließe sich das noch viel detaillierter und fundierter erklären. Für den allgemeinen Überblick und die breite Leserschaft genügt diese Einteilung jedoch.

„Die Rückkehr zu den Rechtsschulen ist eine Chance für Klarheit und Stabilität – vorausgesetzt, sie wird nicht durch willkürliche Zitate oder politische Interessen missbraucht, sondern im Geist der Tradition und Methodik vermittelt. Die malikitische Schule ist dabei ein besonders starkes Beispiel, ohne die Bedeutung der anderen Rechtsschulen zu mindern.“

Islamische Zeitung: Jahrzehntelang haben ideologische Bewegungen starken Einfluss auf das geistige Klima von Muslimen nicht nur hier genommen. Seit mehreren Jahren schon wenden sich Junge und Interessierte von diesen ab und den Rechtsschulen zu. Auch, weil sie sich von diesen eine Rückbindung zum Vorbild Madina erwarten. Wie sehen Sie diesen Aspekt in Deutschland?

Schaikh Muhannad: Ideologische Bewegungen haben meist keine lange Lebensdauer. Sie gewinnen oft in den jungen Jahren der Menschen an Einfluss – in der Pubertät, in der Suche nach Identität – und verlieren später an Kraft, wenn Menschen älter werden und mehr Lebenserfahrung sammeln.

Heute sehen wir, dass viele junge Muslime erkennen, dass diese Bewegungen keine tragfähigen Antworten bieten. Durch das Internet haben sie Zugang zu vielen Stimmen, können vergleichen und erleben, dass die Argumente der klassischen Tradition und der Rechtsschulen stärker und nachhaltiger sind. Das ist eine sehr positive Entwicklung.

Allerdings muss man wachsam sein: Es gibt politische Gruppen, die für ihre eigenen Ziele die Religion missbrauchen. Sie arbeiten ähnlich wie Parteien – sie sagen, was die Menschen gerne hören möchten, um sie zu binden.

Manche von ihnen geben sich heute den Anschein, „rechtsschulgebunden“ zu sein. Sie behaupten etwa, sie würden der hanbalitischen Schule oder sogar mehreren Rechtsschulen zugleich folgen. In Wirklichkeit vertreten sie jedoch nicht die Inhalte, die Methodik oder den Geist dieser Schulen. Es bleibt bei Etiketten, ohne Substanz.

Man erkennt diese Gruppen daran, dass sie Aussagen und Zitate einzelner Gelehrter willkürlich herausnehmen, ohne den gesamten Rahmen, die Methodik und die innere Logik der jeweiligen Rechtsschule zu respektieren. So entsteht ein Bild, das oberflächlich nach Rechtsschule aussieht, inhaltlich aber entweder wahhabitische oder salafistische Lehren transportiert – oder politische Programme.

Ein einfacher Muslim, der gerade erst die Rechtsschulen kennenlernt, kann das kaum durchschauen. Er denkt, er habe den Weg zum traditionellen Islam gefunden – nur um nach Jahren festzustellen, dass er in Wirklichkeit in einer politischen oder sektiererischen Struktur gelandet ist.

Gerade hier zeigt sich die besondere Stärke der malikitischen Schule, die seit jeher eng mit Medina und der Tradition des Propheten verbunden ist. Der große Gelehrte al-Hafiz as-Subki sagte über sie: „Und Allah hat die Malikiten rein bewahrt: Wir haben keinen Malikiten gesehen, außer dass er in seiner Glaubenslehre asch‘aritisch war.“

Dieses Zeugnis passt deshalb besonders gut, wenn es um die medinensische Schule geht. Gleichzeitig gilt: Auch die anderen Rechtsschulen können – wenn ihre Vertreter sich konsequent um die Wahrung der Tradition bemühen – davor bewahrt bleiben, von politischen oder ideologischen Strömungen vereinnahmt zu werden.

Wirklich fruchtbar wird die Rückkehr zu den Rechtsschulen nur dann, wenn sie rein religiös vermittelt werden – ohne politische Hintergründe, ohne ideologische Instrumentalisierung. In diesem Fall eröffnet sich ein großes Potenzial, auch hier in Deutschland.

„Online ist eine Tür zum Wissen – aber niemals der Raum selbst. Wirkliche Lehre braucht Nähe, Erziehung und den direkten Blick zum Lehrer.“

Islamische Zeitung: Lieber Schaikh Muhannad, Sie gehören zu denjenigen Gelehrten hier, die aktiv und erfolgreich verschiedene Online-Medien und Plattformen zur Wissensvermittlung nutzen. Hat der Einsatz solcher Mittel einen Einfluss auf die Form der Lehre?

Schaikh Muhannad: Natürlich hat der Einsatz von Online-Medien einen Einfluss auf die Lehre – und zwar einen sehr deutlichen.

Aus meiner Erfahrung ist Online-Unterricht in erster Linie Wissensvermittlung. Was dabei fast völlig fehlt, ist die Erziehung (tarbiya). Zwar habe ich erlebt, dass einzelne Menschen selbst über Online-Kanäle tief geprägt wurden – aber das sind seltene Ausnahmen.

Der klassische Unterricht vor Ort umfasst viel mehr: Erziehung, Begleitung, Adab, die geistige und seelische Verbindung zwischen Lehrer und Schüler. Im Hadith von Jibril sehen wir, dass die Überlieferung des Wissens direkt von Angesicht zu Angesicht geschieht. Online kann diesen Kanal nicht ersetzen.

Deshalb habe ich auch die Nour Islam Akademie von Anfang an als hybrides Modell aufgebaut: Online-Angebote ermöglichen Zugang und Flexibilität – etwa für Menschen, die reisen oder weit entfernt wohnen. Aber das Herzstück ist und bleibt der Unterricht vor Ort. Denn aus meiner eigenen Erfahrung ist das Lernen in direkter Nähe zum Lehrer wesentlich effektiver, tiefgründiger und nachhaltiger.

Online birgt zudem viele Gefahren: Ablenkung, fehlende persönliche Nähe und vor allem keine echte geistige Bindung. Eine gute Information, die in einem falschen Kanal aufgenommen wird, kann sogar Schaden anrichten. Deshalb kann Online-Unterricht niemals den direkten Kontakt ersetzen.

Wer es ernst meint mit islamischer Lehre, sollte online nur als ergänzendes Werkzeug nutzen. Für jene aber, die nur auf Selbstinszenierung und Reichweite aus sind, ist das Internet die perfekte Bühne – doch was bleibt, ist verbrannte Erde.

„Online-Wissen ist wertvoll – aber immer mit Vorsicht zu genießen.“

Islamische Zeitung: In der englischsprachigen Welt sind viele, international bekanntere ʿUlamā im Internet unterwegs. Hätten Sie Tipps & Ratschläge für den erfolgreichen und gleichzeitig sicheren Umgang mit dem Netz in Deutschland?

Schaikh Muhannad: Der englischsprachige Raum ist zahlenmäßig sehr viel größer, deshalb sind dort viele Gelehrte online sichtbarer. Im deutschsprachigen Raum ist die Zahl kleiner, aber das Interesse ist hier besonders konzentriert.

Das Internet kann ein wertvolles Werkzeug sein – aber es ist mit Vorsicht zu genießen. Inhalte sollten nicht Trends hinterherlaufen, sondern Maßstäbe setzen. Und man sollte sich bewusst sein: Im deutschsprachigen Raum gibt es weniger Gelehrte, deshalb können falsche Stimmen schneller Einfluss gewinnen.

„Solange die Wurzeln krank sind, bleibt jede Debatte ein Streit über Symptome. Erst wenn das Fundament gesund ist, können wir die wirklich relevanten Fragen angehen.“

Islamische Zeitung: Welche Fragen wären für Sie augenblicklich von vorrangiger Relevanz für die Muslime in diesem Land? Diskutieren wir über die falschen Dinge?

Schaikh Muhannad: Eine pauschale Antwort auf diese Frage gibt es nicht. Die Anliegen von Muslimen in einem Dorf unterscheiden sich oft von denen in einer Großstadt. Dennoch gibt es gemeinsame Belange, die uns alle betreffen.

Ich glaube, dass viele der heutigen Diskussionen nur Symptome sind – nicht die eigentliche Krankheit. Man kann endlos über Detailfragen streiten, aber ohne Fundament führen solche Debatten zu nichts. Die Wurzeln sind das Entscheidende: islamisches Pflichtwissen, richtige Führung und klare Maßstäbe.

Wenn diese Basis fehlt, ist keine Einigung möglich. Jeder hält sein eigenes Thema für das wichtigste, und am Ende wird mehr gestritten, als dass Lösungen entstehen. Viele, die heute als „Stimmen des Islam“ auftreten, sind in Realität nur Vertreter bestimmter Gruppen oder Parteien. Das verschärft die Verwirrung zusätzlich.

Die tatsächlich relevanten Fragen sind daher nicht die Schlagzeilen von heute, sondern: Wie stärken wir das Fundament der Muslime? Wie sichern wir Pflichtwissen, Erziehung und Verortung in dieser Gesellschaft? Wenn diese Basis gelegt ist, lösen sich viele Nebendebatten von selbst.

„Wir brauchen Räume für echten Austausch – geschützt, neutral und inhaltsorientiert. Nur so können Gelehrte und Gemeinschaft einander erreichen.“

Islamische Zeitung: Muslime unterschiedlicher Herkunft oder Alters sowie ihre Gemeinschaften suchen einerseits bei drängenden, manchmal kontroversen Fragen tragfähige Antworten von der Lehre. Andererseits haben sich die meisten in der Bundesrepublik bekannten Gelehrten in den letzten 10–15 Jahren – aus Gründen – dazu entschieden, den öffentlichen Dialog oder die Debatte (nach negativen Erfahrungen) zu meiden. Brauchen wir in Deutschland mehr Gelegenheiten, auf denen sich die Leute des Wissens einerseits untereinander austauschen, und andererseits zugänglicher sind für den Dialog mit der muslimischen Community im Ganzen?

Schaikh Muhannad: Ja, wir brauchen solche Möglichkeiten dringend. Ein geschützter Rahmen, in dem Gelehrte miteinander und mit der Gemeinschaft diskutieren, ist viel wertvoller als die oft oberflächlichen Debatten in den sozialen Medien. Dort geht es zu schnell um Schlagzeilen und persönliche Egos, statt um Inhalte.

Solche Formate müssten gut moderiert und neutral begleitet werden – vielleicht könnte das auch eine Aufgabe für eine Zeitung wie die Ihre sein. Denn Gelehrte brauchen Räume, in denen sie sich austauschen können, und die Gemeinschaft braucht den direkten Zugang zu ihnen.

Gleichzeitig darf man nicht nur darauf warten, dass solche Formate entstehen. Jeder von uns trägt Verantwortung, Debatten lebendig zu halten – und zwar mit dem Grundsatz: Es geht nicht um Personen, nicht um Interessen, sondern um Inhalte.

Natürlich gibt es die Schwierigkeit, dass manche Gruppen sich selbst als „die Mitte“ darstellen, obwohl sie in Wahrheit eine parteiische Richtung vertreten. Genau deshalb ist es so schwer, wirklich neutrale Räume zu schaffen. Aber das sollte uns nicht abhalten, daran zu arbeiten.

Islamische Zeitung: Lieber Schaikh Muhannad, wir bedanken uns recht herzlich für das substanzielle Gespräch.

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Die Jugend braucht Vorbilder

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Welche Folgen haben u.a. soziale Medien für die Qualität der Bildung von muslimischen Kindern und Jugendlichen? Ein Essay über die Herausforderungen des Alltags.

(iz). Es ist spätabends in einem Hamburger Stadtteil. Wie in vielen Großstädten sitzen Jugendliche dicht gedrängt in stickigen Shisha-Cafés. Auf den Tischen stehen Energy Drinks, in den Händen Shisha-Schläuche, aus den Fernsehern werden vollaufgedrehte Musikvideos ausgestrahlt, die jegliche Unterhaltung unmöglich machen. Doch selbst wenn es leiser wäre: Es gäbe ohnehin wenig Gesprächsbedarf. Alle starren auf ihre Smartphones, die mittlerweile smarter sind, als die Jugend selbst. Von Abdelsamit Demir

Doch ich will weniger über die Cafés und das Rauchen an sich berichten als über die Jugend. Ich will darüber grübeln, weshalb soziale und religiöse Jugendzentren mit verschiedensten Beratungs- und Veranstaltungsangeboten inklusive professioneller Begleitung an Zugang abnehmen, während o.g. Locations jugendgewinnend sind.

Es gibt viele Ursachen für die geistige sowie soziale Abwesenheit, doch eines ist wohl sicher das Nichtvorhandensein von spirituellen und ethischen Vorbildern. Dazu kommt ein Kaleidoskop an weltlichen Entertainment-Konzepten.

Einen wichtigen Aspekt bilden dabei die sozialen Netzwerke, in denen jeder ein scheinbar hervorragendes Leben präsentiert. In jeder Ecke werden Posts und Snaps gemacht und auf verschiedenste Art posiert, immer darauf fokussiert, andere zu übertrumpfen, um besonders dazustehen und mehr Klicks und Likes zu erhalten. Ungesund und asozial ist der neue Hype.

Orte beispielsweise werden nicht nur ausgesucht, weil sie qualitativ gut, sondern eben angesagt sind. Seit Gründung und Verbreitung dieser sozialen Netzwerke wurde ebenso eine künstliche Parallelwelt geschaffen, in der jegliche moralische Normen und Regeln des freundlichen und friedvollen Miteinanders keine Rolle mehr spielen und diskriminierende, beleidigende Hasskommentare an der Tagesordnung stehen.

Vor nicht allzu langer Zeit hatte man Beispielsweise Aussichten und Momente genossen. Heutzutage werden sie nur noch auf sozialen Medien festgehalten. Ohne Geschmack, Feinfühligkeit und Vision gleitet die Jugend aus den Fugen. Bücher schmücken nur noch die Regale und nicht mehr das menschliche Hirn.

Nicht ein grammatikalisch korrekter Satz ist zu hören, ganz abgesehen vom Schreibstil und den Emojis auf WhatsApp. Dinge bestellt man nicht mehr, weil sie gut schmecken, sondern abstrakt präsentiert werden. Neologismen und kulturelle Begriffe werden entwickelt, aufgeschnappt und dem Wortschatz hinzugefügt, ohne zu wissen, in welchen Kontexten sie eigentlich verwendet werden und wofür sie stehen. Abstrakte und dekadente Lebensweisen und Gewohnheiten werden als Lifestyles verkauft.

Doch kommen wir zum Kernproblem: Wir verzeichnen einen enormen Verlust an motivierten, moralischen, gebildeten und kosmopolitischen Vorbildern. Persönlichkeiten, die Jugendlichen Orientierung geben – durch Vorleben, nicht nur durch Worte.

Diese Lücke wird zunehmend von digitalen „Idolen“ gefüllt, die oft fragwürdige Botschaften vermitteln. In einem solchen Vakuum übernehmen Algorithmen, Likes und ominöse Influencer die Kontrolle, doch im echten Leben benötigen Junge Menschen reale Bezugspersonen, an denen sie sich orientieren können.

In der Sichtung der Plattformen sind verschiedenste, heterogene Akteure zu erkennen, die islamisches Content präsentieren. Und das Geschäft boomt. Sie agieren oft autodidaktisch, nutzen ihre medialen Kompetenz und durch ihre Sprachwelt wie z.B. einfaches deutsches Sprachniveau, Jugendjargon und wiederkehrende Floskeln sind sie für das junge Publikum nahbar und für den Algorithmus relevant.

Sie sind aus dem „islamistischen“ Milieu heraus entstanden, die frühzeitig das riesige Potenzial dieser Plattformen erkannt haben, weshalb ähnliche bis identische Inhalte bis heute erhalten geblieben sind.

Dazu gehören die genannte vereinfachte Sprache für die leichte Konsumierbarkeit, Schaffung von einer „Wir und die Anderen“-Rhetorik und Feindbilder sowie Emotionalisierung. Hatte man damals noch auf Youtube stundenlange Vorträge angeschaut, sind es heute nur noch Sekunden auf Tiktok und Instagram, in denen Entertainment, Trash sowie „Koran und Sunna“ aufeinandertreffen. 

Klassische Jugendhäuser und Gemeinden wirken auf viele Jugendliche daher oft nicht mehr ansprechend. Was wir daher dringend brauchen, ist eine neue Generation von jungen, dynamischen, gut ausgebildeten und weltoffenen Vorbildern. Junge Menschen, die sichtbar attraktive und zeitgemäße Angebote anbieten und Verantwortung übernehmen.

Junge Imame, die digitale Räume mitgestalten, aber auch präsent sind in der Gemeinde. Junge Mediatoren, die die Jugendlichen mit all ihren Problemen, Fragen und Sehnsüchten ernst nehmen und ihnen neue Wege aufzeigen. Persönlichkeiten, die nicht nur über Werte sprechen, sondern sie leben – sichtbar in beiden Welten und so in der Lage sind, Brücken zu schlagen zwischen Tradition und Gegenwart, zwischen Spiritualität und Alltag, zwischen digitaler Präsenz und realen Begegnungen.

Denn die muslimische Jugend von heute lebt im Spannungsfeld zwischen Herkunft und Heimat, zwischen religiösem Anspruch und gesellschaftlicher Realität. Sie suchen krampfhaft nach Orientierung, nach Identität. Weil sie genau darin von Familie, Moschee und Gesellschaft allein gelassen werden, fliehen sie in die virtuelle Welt, in denen ihnen schnelle, einfache Antworten und klare Codes für das Leben erhalten.

Daher ist zu sagen, dass sie junge Vorbilder benötigt, die sie begleiten und ihnen auf Augenhöhe begegnen. Die muslimische Jugend ist nicht verloren. Sie wartet sehr dringend auf Lotsen. Diese sollen keine perfekten Menschen sein. Es sollen Menschen sein mit Haltung, Herz, Kreativität und Substanz.

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Harvard – Bildung in Trumps Amerika

harvard

Juden und Muslime fühlen sich in Harvard nicht wohl. Dabei ist die Eliteuniversität ein Aushängeschild der US-Wissenschaft. (KNA/IZ). Die Universität Harvard steht seit Jahrhunderten für herausragende akademische Leistungen, bahnbrechende Forschung […]

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Pirandello oder die Sehnsucht nach dem Süden

Pirandello

IZ-Reiseblog: Unserem Autor begegnet der Schriftsteller Pirandello auf dem Weg durch Sizilien.

(iz). Die Sehnsucht nach dem Leben im Süden, ist sie Teil des modernen Spiels mit den Identitäten? Wir besuchen einen Ort mit dem sinnreichen Namen „Caos“. Dort, am Stadtrand von Agrigent, wurde am 28. Juni 1867 der Nobelpreisträger Luigi Pirandello geboren. Wie kein anderer beschreibt er Sizilien und seine Menschen. Das Geburtshaus des Schriftstellers steht heute auf unserem Besuchsprogramm.

Pirandello schuf unvergessliche Bilder von Sizilien

Seine sizilianischen Novellen, wie zum Beispiel „Ciàula entdeckt den Mond“, schaffen unvergessliche Bilder und gehören zum besten, was je geschrieben worden ist.

Der Titelheld ist ein junger Mann, der als Lastenträger in einer Schwefelmine in Sizilien arbeitet. Sein Leben ist hart, von Armut und Missachtung von seinem eigenen Umfeld geprägt. Er fürchtet die Dunkelheit und gilt bei den anderen Arbeitern als einfältig. Nach einem anstrengenden Tag wird Ciàula gezwungen, noch einmal mit einem schweren Korb Schwefel zur Oberfläche zu steigen, obwohl es bereits Nacht ist. Der Weg aus dem Labyrinth verläuft durch enge, dunkle Stollen – etwas, das ihm große Angst macht.

Doch als er aus dem Schacht tritt, geschieht das Unerwartete: Er sieht zum ersten Mal bewusst den Mond. Dieser Anblick löst in ihm eine tiefe emotionale Erschütterung und ein Staunen aus. Er ist überwältigt von der Schönheit der Welt – eine Offenbarung, die fast wie ein spirituelles Erwachen wirkt: „Groß, ruhig, wie in einem frischen, leuchtenden Ozean der Stille stand ihm der Mond gegenüber“.

Ein anderes Beispiel für die erzählerische Meisterschaft des Autors ist die Novelle „Da sé“. Die Geschichte dreht sich um einen Mann mittleren Alters, der in seiner Jugend als wohlhabend und angesehen galt, nun jedoch verarmt ist und mit den Konsequenzen seiner gescheiterten Existenz zu kämpfen hat.

Der soziale Abstieg und die Verzweiflung über seine Situation treiben ihn zu dem Entschluss, sich das Leben zu nehmen. Er ist der Meinung, dass der Tod die einzige Möglichkeit ist, der Belastung für seine Angehörigen zu entkommen. Er wandert in die Berge, um allein und abgeschieden zu sterben – weit entfernt von seiner Familie und ohne dass jemand von seinem Selbstmord ahnt.

Im letzten Moment entscheidet er sich jedoch, selbst zum Friedhof zu gehen, um seinen Angehörigen weitere Kosten zu ersparen. Auf diesem Weg, innerlich losgelöst von den Bindungen an die Welt, erfährt er das ganze Wunder des Seins.

Zwischen Absurdität und profundem Nachdenken

Diese Novellen zeigen Pirandellos Fähigkeit, das Absurde des Lebens mit einer tiefen philosophischen Reflexion zu verbinden. Der tragikomische Moment – das Aufeinandertreffen von Verzweiflung und Hoffnung – ist typisch für den Denker, der in seinen Arbeiten immer wieder den inneren Konflikt des Menschen untersucht.

Jenseits der materiellen Verhältnisse – egal ob es sich um Bauern, Tagelöhner, Bürger, Adelige, Unternehmer, Notare oder Ärzte handelt –, alle Figuren des Schriftstellers verbinden die Tragik der Existenz. Und, es sind Menschen, die Teil ihrer Heimat sind und gleichzeitig als universelle Gestalten verstehbar sind. Die Idee des Nationalismus wird ihnen nicht gerecht.

Eine der philosophischen Grundfragen, die Pirandello behandelt, ist die Frage nach der Identität. Für ihn ist die Realität ein kontinuierlicher Fluss, und alles, was sich von diesem Strom löst, stirbt. Die Wirklichkeit hat eine Vielzahl von Aspekten und ist nicht rational zu erfassen.

„Ach, Sie glauben, Konstruktion hätte nur mit Gebäuden zu tun? Ich konstruiere mich andauernd, und ich konstruiere Sie, und Sie tun dasselbe. Und die Konstruktion hält so lange, bis das Material unserer Gefühle zerbröckelt und der Zement unseres Willens zerfällt. […] Es genügt, dass der Wille ein wenig schwankt und sich die Gefühle in einem Punkt wandeln, ja auch nur geringfügig verändern, und dahin ist unsere Wirklichkeit!“ (Einer, keiner, hunderttausend, 1925)

Was kommt nach den Masken?

Was bleibt vom Menschen, wenn alle Masken gefallen sind? Für Luigi Pirandello lautet die Antwort: nichts, oder – schlimmer – zu viel. Nicht der Kern tritt zutage, sondern ein Durcheinander aus Rollen, Blicken, Zuschreibungen. Das Werk stützt keine Ideologie, nicht einmal die des Zweifelns. Der Mensch ist eine Bühnenfigur – aber ohne Stück, Regisseur oder Bühnengestalt, die ihm wirklich gehört.

In einer Welt, die nach Haltung verlangt sowie Klarheit, Zugehörigkeit und Weltanschauung verlangt, ist das ein Affront. Pirandello erklärt keine Alternative, ruft nicht zur Revolution auf. Er stellt sich nicht in eine Linie, gründet weder eine Schule, noch bekennt er sich zu einer Partei.

Seine Figuren – selbst die, die handeln – glauben nicht an das, was sie tun. Sie spielen, weil es verlangt wird, ohne zu wissen, wer sie sind. In einer Zeit, in der alle etwas sein wollen – eindeutig, sichtbar, richtig –, flüstert Pirandello: „Du bist nichts. Du bist viele. Du bist ein Spiegel im Nebel.“

Nur, fragen wir uns, auf einer Bank im Garten des Dichterhauses, ist der in diesem Sinne „identitätslose“ Mensch am Ende nur ein Spielball der politischen Mächte? Was verstehen wir heute unter Identität?

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Foto: Adobe Stock

Schlussfolgerungen der Moderne

Es ist kein Zufall, sondern die logische Konsequenz der Moderne, dass uns Muslime in den letzten Jahrzehnten Identitätsdebatten beschäftigen. Dabei ist es klar, dass wir in spiritueller Hinsicht, sei es im Gebet oder auf der Pilgerreise, anstreben die Identität aufzulösen.

Auf der anderen Seite ist es ein Segen, dass uns der Islam eine konkrete Rechtsposition gewährt, wir nicht nur einzelne Träger unseres Schicksals sind, sondern auch Eheleute oder Vertragspartner werden können. Muslimisches Sein definiert sich nicht durch die Masse.

Die individuelle und kollektive Dimension des Menschen ist aus unserer Sicht eine Frage der Balance. Niemand erreicht heute die heiligen Stätten, ohne einen Reisepass zu besitzen. Muslime sind mit Rechten und Pflichten versehene BürgerInnen des Rechtsstaates und Akteure der Zivilgesellschaft. Wir benutzen Sprachen, die Erklärungsmodelle ermöglichen und wir sind in der jeweiligen geografischen Situation – auf unterschiedlichste Weise – kulturstiftend.

Zu verstehen, dass die Identitäten fließend sind, wir im Alltag verschiedene Rollen annehmen, dass sich unsere Persönlichkeit permanent auflöst, verändert und entwickelt, ist die Quintessenz dieses Verständnisses der Moderne.

Foto: alphaspirit.it, Shutterstock

Die Beschäftigung mit europäischen Schriftstellern zeigt uns, welche Fragen in dieser Zeit zu beantworten sind. Sie sind Vorlagen für einen Dialog. Überhaupt ist das Lesen etwas, das wie die Bildung mit unserer Unabhängigkeit konstituiert. Nur in der Auseinandersetzung mit anderen Sichtweisen gewinnen wir die Souveränität im Umgang. Timothy Snyder schreibt in seinem neuesten Buch über den Kontext von Lesen, Bildung und Freiheit: 

„Unsere derzeitige Laune, die Vergangenheit aus meist selbstgerechten Gründen zu verwerfen, hat mit unserer technisierten Unfähigkeit zu tun, uns zu konzentrieren und zu tolerieren. Wir werden von einer Social-Media-Nemesis darauf trainiert, der Herde zu folgen und die Herde zu keulen. Doch wenn wir uns dem Lesen verweigern, tauschen wir nicht die Vergangenheit gegen die Zukunft ein. Ohne Vergangenheit gibt es keine Zukunft. Wir tauschen die Vergangenheit gegen einen prekären Stillstand.“

Im Dichterhaus ist die Moderne eingezogen. Nach der Renovierung muss man eine App herunterladen, um das Gewirr von Schaubildern, Video-Präsentationen und alten Handschriften zu ordnen. Ein Chaos von Eindrücken auf engstem Raum. Nach dem Besuch der Ausstellung laufen wir über den Parkplatz zu einer Baracke, die mit der großen Aufschrift „Literaturcafé“ wirbt.

Vor dem Gebäude sitzen vier alte Männer und sonnen sich. Wir grüßen. Unsere Anfrage nach einem Cappuccino verneinen sie lachend. So etwas gibt es hier schon lange nicht mehr! Wir fragen, ob Bücher zum Verkauf stehen. Einer der Senioren steht auf, führt uns an die Tür des Cafés und zeigt auf einen Bücherschrank. Er ist leer.

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Den Propheten erfahrbar machen

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Bericht von einer Hamburger Ausstellung: Zum 9. organisierte die Al Manar Stiftung ein Wochenende über den Propheten.

(iz). Eine interaktive Ausstellung in der Hansestadt ermöglichte einen lebendigen Zugang zum Propheten Muhammad (s). Und bot Anknüpfungspunkte für eine positive Identifizierung.

Mit der Ausstellung „Eine zeitlose Reise der Barmherzigkeit“ bot die Hamburger Al Manar Stiftung am ersten Oktoberwochenende zum neunten Mal ein innovatives Angebot, insbesondere für Jugendgruppen, an. Damit wollte man den Propheten Muhammad, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und seine Botschaft in der heutigen Zeit verständlich machen. Wie die Stiftung mitteilte, plane man bereits die Ausstellung für das kommende Jahr.

Am 5. und 6. Oktober wurde den Besuchern die prophetische Biografie (arab. Sira) anhand von Workshops für Jugendliche, Vorträgen, Spielen und interaktiven Aspekten nahegebracht.

Der Träger (die Al Manar für islamische Bildung und Kultur in Hamburg) konzentriert sich unter anderem auf die Bildungsarbeit mit Kindern und Jugendlichen, so Moez Ben-Khemis. Der Hamburger war Ideengeber und Mitinitiator der Sira-Ausstellung bei ihrer Gründung. In diesem Zusammenhang wurden verschiedene Projekte entwickelt. Neben diesem Angebot organisiert die Stiftung schon seit Jahren den beliebten Hamburger Ramadan Pavillon. Wie dieser soll sie nicht nur Wissen über den Islam fördern, sondern auch als Plattform für den interkulturellen Austausch und das gegenseitige Verständnis stehen.

Zu diesen pädagogischen Aspekten gehörte der Einsatz von Miniaturmodellen. Mit ihnen konnten die Besucher und Teilnehmer entscheidende Stationen des Gesandten Allahs – wie seine Auswanderung aus Mekka oder die frühe medinensische Gemeinschaft – räumlich erfahren.

Bei den Modellen – und weiteren Medien – findet nach Auskunft der Organisatoren ein Austausch mit zusätzlichen Trägern im In- und Ausland statt. So wurden einige der Modelle außerhalb von Deutschland hergestellt, weitere speziell für die eigenen Bedürfnisse angefertigt. Sie würden in Deutschland von mehreren Moscheegemeinden genutzt. Die Mehrheit der Plakate erstellte die Stiftung selbst, andere wurden von Bildungsträgern wie dem Internationalen Islamischen Stiftungswerk (IISW) übernommen.

Ein weiteres Angebot waren die Workshops für Kinder- und Jugendgruppen. Sie waren dem Altersdurchschnitt der jungen Gäste angepasst und behandelten inhaltlich keine bloß abstrakten Fragen, sondern griffen Aspekte der prophetischen Biographie und Persönlichkeit auf, die den VeranstalterInnen für die heutige Zeit relevant erschienen.

Die Hamburger Ausstellung fand nicht im luftleeren Raum statt. Sie griff aktuelle Themen auf, die insbesondere junge Muslime bewegen. So wurden beispielsweise in einem Seminar palästinensische Kunst thematisiert und auf dem Kulturabend am ersten Tag der Opfer von Konflikten gedacht.

Die Ausstellungsmacherinnen hatten es sich zum Ziel gesetzt, den Emotionen jugendlicher Muslime Ausdruck zu verleihen und sie durch die Beschäftigung mit dem Leben des Propheten Muhammad (s) in etwas Konstruktives und Positives zu verwandeln.

Foto: Al Manar Stiftung Hamburg

Chiraz Chaieb, Vorstandsvorsitzende der Al Manar Stiftung, erläuterte bei der Eröffnung das Konzept und die Intention des Projekts, das zum neunten Mal in Hamburg stattfand. Die Sira-Ausstellung ist eines der größten Angebote des Trägers, der sich Bildung auf die Fahnen geschrieben hat.

Man wollte alle Menschen erreichen, die sich für die prophetische Biographie interessieren. Ein Schwerpunkt liegt dabei auf den Kindern und Jugendlichen in den Moscheegemeinden der Hansestadt. Sie sollten mittels innovativer Ansprache und Methodik „abgeholt“ werden.

Zu Beginn wurde verstärkt mit Miniaturmodellen über die mekkanische und medinensische Zeit des Propheten gearbeitet. Und in der Folge wurden interaktive Workshops selbst entwickelt, die sich mit verschiedenen relevanten Aspekten seiner Biografie und seines Lebens beschäftigten.

„Interaktiv bedeutet“, so Chaieb, „dass wir den Kindern nicht nur einen theoretischen Teil anbieten, sondern dass sie sich aktiv in den Prozess einbringen können.“ Sie sollen die Möglichkeit haben, sich die Inhalte aktiv zu erarbeiten. Das würde am Beispiel der Prophetenmoschee in Medina deutlich. Neben einem theoretischen Teil des Workshops konnten die Kinder das damals bescheidene Bauwerk mit selbst hergestellten Arbeitsmaterialien nachbauen und so erleben.

Zuerst bauten die jungen BesucherInnen die Mauer des Gebäudes mit Pappmodulen nach, über die dann ein nachgebautes Dach aus Palmenzweigen gelegt wurde, wie es damals in Medina üblich war. „Und so erleben wir das Ganze wirklich. Alle haben so schöne Erinnerungen.“

Foto: Al Manar Stiftung Hamburg

Frau Chaieb sieht sich durch die Ausstellung und ihr Konzept bestätigt. „Dass das jetzt zum neunten Mal stattfindet, zeigt ja auch, dass es ankommt. Es gibt eine Nachfrage und wir haben positive Erfahrungen gemacht.“ Insbesondere die Sira-Ausstellung wurde und wird von den Moscheegemeinschaften und ihren MitgliederInnen positiv aufgenommen.

Wie um die positive Resonanz zu unterstreichen, trifft die Kinder- und Jugendgruppe einer somalischen Moschee während des Gesprächs ein und wartet auf ihre Anmeldung. Während des gesamten Wochenendes sind auf dem Gelände junge Besuchergruppen unterschiedlichen Alters zu sehen, die offensichtlich aus anderen Moscheen kommen.

Ein weiteres Beispiel für das Bildungsangebot der Stiftung Al Manar mit Ausstellung war der Workshop zur kleinen Pilgerfahrt (‘Umra). Im Gespräch erklärte uns Kursleiterin Marwa Maskawi, wie der Kurs aufgebaut war. „Wir beginnen mit einem Kennenlernspiel und gehen auf das vorhandene Grundwissen ein.“ Nicht alle Kinder hätten den gleichen Wissensstand.

Anhand der Behandlung von Textmaterial – in diesem Fall Hadithen – erfuhren die TeilnehmerInnen etwas über die religiösen und spirituellen Vorzüge einer ‘Umra. Mit dem Wissen aus dem Quiz und der Textarbeit konnten die Kinder und Jugendlichen ein Video erstellen. Den Abschluss des Workshops bildete ein großes Modell der Kaaba in Mekka, anhand dessen sie die Rituale räumlich einordnen konnten.

Für die Seminar- und KursleiterInnen war es wichtig, die Kinder nicht einfach „frontal“ mit Informationen zu überschütten. Der interaktive Aspekt sei entscheidend, damit die Heranwachsenden „eine Erfahrung machen können“. Deshalb sei es zum Beispiel bedeutsam, dass der Nachbau einer Kaaba in ihrer Körpergröße gezeigt werde.

Es gehe ihnen um den Moment des Anschauens, so Maskawi. Dabei habe geholfen, dass eine Gruppe junger Gemeindemitglieder vor einem Jahr selbst die kleine Pilgerreise unternommen habe. Man habe die Dinge, die man den Kindern vermitteln wolle, selbst „hautnah erlebt“.

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Gottes Reich im Cyberspace. Über KI als Herausforderung für islamische Bildung

Herausforderung

Themenausgabe über soziale Medien und ihre Folgen: Die KI stellt eine Herausforderung für die islamische Bildung dar.

(iz). Im 20. Jahrhundert war es der Einfluss von Ideologien, die die Präsenz der Muslime in der Welt veränderte. In dieser Epoche fordern technologische Innovationen das Selbstverständnis der islamischen Lehre grundsätzlich heraus.

Die Aufgabe der Politik und der Religionen wird es sein, möglichst zeitnah überzeugende Positionen im Angesicht einer technischen Revolution zu entwickeln.

Orientierungen im Dickicht der Herausforderung

Der Historiker Yuval Noah Harari bietet mit seinem neuen Bestseller „Nexus“ eine Orientierungshilfe an. In einer kurzen Geschichte der Informationsnetzwerke zeigt er die fundamentale Bedeutung von Narrativen auf, die in Büchern verfasst wurden und heute durch das Internet im Umlauf sind und aktualisiert werden.

Die künstliche Intelligenz ist die erste Technologie, die in der Lage ist, unser Geschichtsverständnis zu ändern, selbständig Entscheidungen zu treffen und autonom Ideen zu entwickeln. Welche dramatischen Konstellationen sich in diesem Zeitalter am Horizont zeigen, ist das Thema seines Buches.

Hararis Ausgangspunkt ist zunächst die Bestimmung des naiven Informationsverständnisses, das im Sammeln von Informationen einen direkten Weg zur Wahrheit, Weisheit und Macht sieht. Hierher gehörte das alte Versprechen des Internets, uns einen Zugang zu unbegrenztem Wissen zu gewähren.

Ein populistisches Informationsverständnis begreift in dem Potenzial, Fakten zu verbreiten in erster Linie eine Umsetzung von Machtoptionen. Der Informationsfluss der Spätmoderne ermöglichte dabei die Massendemokratie und den Massentotalitarismus.

kurzmeldungen

Foto: Drew Ditty Graham, Unsplash

Begreifen wir Information?

Das komplexe Informationsverständnis versteht den notwendigen Zusammenhang von Wahrheit und Ordnung, die die Macht jeder Weisheit relativiert. Der Historiker erinnert daran, dass „weil ihnen Ordnung wichtiger ist als Wahrheit, die menschlichen Informationsnetzwerke oft viel Macht, aber wenig Weisheit hervorgebracht haben“. Die Information informiert nicht unbedingt über die Dinge. Sie formiert sie.

Es sind vor allem die Algorithmen der sozialen Netzwerke, die unsere politische Landschaft fundamental verändert hat. Ein Beispiel für die destruktive Wirkung der Steuerung von Aufmerksamkeit ist für Harari die Vorkommnisse in Birma im Umgang mit der muslimischen Minderheit der Rohingya.

Negativität ist einflussreich

Eine UN-Untersuchungskommission kam 2018 zu dem Ergebnis, dass Facebook durch die Verbreitung von hasserfüllten Inhalten eine entscheidende Rolle bei der ethnischen Säuberungskampagne gespielt habe.

Mit dem Ziel der Steigerung der Nutzerbindung hat das Netzwerk vor allem negative Meldungen bevorzugt. Die Algorithmen fanden mittels Versuche an Millionen von Nutzern heraus, dass Empörung eben diese Bindung erzeugt. Die politischen Folgen dieser Firmenphilosophie sind und waren fatal.

Sie trägt dazu bei, ein neues Gesellschaftssystem zu schaffen, das die niedersten Instinkte fördert und uns davon abhält, das gesamte Spektrum unseres Potenzials auszuschöpfen. Und – will man hinzufügen – das Prinzip dieser abgründigen Effizienz der Negativität hat schon längst zahlreiche Nachahmer in den konkurrierenden Print- und Onlinemedien gefunden.

Auf der Ebene dieser Gefahr ist es immerhin noch der Mensch selbst, der Programme schreibt und steuert, aber auch beendet. Das Verbot von automatisierten Nutzern, die massenhaft fragwürdige Informationen streuen, ist dabei eine logische und umsetzbare politische Forderung.

Warum ist es nicht möglich, zu verlangen, dass nur reale Personen, mit entsprechender Verantwortlichkeit, ihre Meinungen in den Informationsstrom einfließen lassen?

Die Lösung der Probleme, die aus der Anwendung von künstlicher Intelligenz entstehen, ist deutlich komplexer und besteht darin, dass alle Möglichkeiten der Selbstkorrektur dieser Systeme schwieriger werden. „Ein Informationsnetzwerk, das von anorganischen Computern beherrscht wird,“ schreibt Harari, „wäre auf eine Weise anders, wie wir uns das kaum vorstellen können.

Es sind weniger die autonom handelnden Roboter der Science-Fiction-Literatur, die uns hier Sorge machen sollten, sondern eher die subtile Verdrängung jeder menschlichen Eingriffsmöglichkeiten“.

Die künstliche Intelligenz eröffnet zum Beispiel völlig neue Dimensionen der Überwachung. In der Quantenmechanik verändert der Akt der Beobachtung subatomarer Teilchen deren Verhalten, das Gleiche gilt für den Akt der Observation von Menschen. Je leistungsfähiger die Beobachtungsinstrumente sind, desto größer ist ihre potenzielle Wirkung auf unsere Aktionen in einer – angeblich – freien Gesellschaft.

Gefahren für die Demokratie

Paradoxerweise ist für das Überleben der Demokratie eine gewisse Ineffizienz der Überwachung ein Vor- und kein Nachteil. Um die Freiheit des Einzelnen und die Privatsphäre zu schützen, ist es am besten, wenn weder die Politik noch mein Arbeitgeber alles über mich weiß. Unter den Bedingungen der Möglichkeiten von künstlicher Intelligenz wird diese Realität für BürgerInnen in weite Ferne rücken.

Eine der größten Neuerungen, die sich aus der Anwendung der KI ergibt, ist zweifellos ihre Fähigkeit der Mustererkennung in der Analyse gigantischer Datenmengen. Viele Technologien und Systeme, die gesellschaftlichen Verhältnisse an sich, werden so komplex, dass sie von einem Einzelnen nicht mehr verstanden werden.

Schon heute entscheiden Computerprogramme über die Kreditwürdigkeit von Bankkunden, erfinden neue Finanzprodukte, bestimmen in den USA das Strafmaß von Verbrechern oder ermöglichen die Massenüberwachung des Verhaltens von Passanten mit Videokameras. Die Pointe ist dabei, dass die Anwender dieser Intelligenz selbst nicht mehr erklären können, wie ihr Computer, der die verbindlichen Ergebnisse produziert, zu seinen Resultaten kommt.

Was bedeuten KI und soziale Medien für den Glauben?

Im Feld des Glaubens deuten sich ebenso atemberaubende Visionen an. Es könnten attraktive und mächtige Religionen entstehen, deren Schriften von KI verfasst werden. Die neuen Gläubigen – im Sinne einer vollkommenen Leib-Seele Trennung – genießen so die unbegrenzten Möglichkeiten einer digitalen Welt, ein Reich Gottes, dass potenziell von den Gesetzen der Biologie und sogar der Physik befreit ist. Aber auch die Wirklichkeit der etablierten Religionen wird unter den Bedingungen der Computerwelt nicht stillstehen.

Schon heute wirkt eine Heerschar religiöser, „allwissender“ Influencer, die in den sozialen Netzwerken tausende Fragen der Nutzer beantworten und den Einfluss der Imame in den Moscheegemeinden bereits weit übertreffen. Die selbsternannten ReligionslehrerInnen verkörpern nicht selten ein hypermoralisches Wertesystem und fördern ein populistisches Informationsverständnis.

Werden Muslime künftig die künstliche Intelligenz nutzen, um ihre eigene Religion besser zu verstehen? Wie die Religionsgemeinschaften ihren Bildungsanspruch, herausgefordert von der virtuellen Welt, bewahren, ist eine offene Frage. Ein Ziel wird sein, in dieser Hinsicht ist der allgemeine Ansatz Hararis fragwürdig, philosophische Erkenntnis und religiöse Offenbarung nicht zu einer bloßen Information zu degradieren.

Im Kontext der Praxis ist die Publikation des Sozialpsychologen Jonathan Haidt „Generation Angst“ eine Pflichtlektüre für Eltern, Erzieher und Religionslehrer. Die Verlagerung der Energie und Aufmerksamkeit junger Menschen von der physischen Welt in die virtuelle hat aus seiner Sicht katastrophale Folgen. Die zwischen 1997 und 2012 geborene Generation Z kennt eine Wirklichkeit ohne Internet und Smartphones nicht.

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Foto: marino, Adobe Stock

Eine Generation im Netz

„Der hohe Anteil der Kinder und Jugendlichen, die soziale Medien, digitale Spiele und Streaming-Dienste in einem die Gesundheit gefährdenden Ausmaß nutzen, ist besorgniserregend. In jeder vierten Familie äußern Eltern Unsicherheiten und Unterstützungsbedarf bei der Anleitung ihrer Kinder“, erklärt Prof. Dr. Rainer Thomasius vom Universitätsklinikum Hamburg.

Eine aktuelle Studie der DAK zeigt, dass inzwischen mehr als sechs Prozent der Minderjährigen abhängig von Computerspielen und sozialen Medien sind. Als mediensüchtig gilt nach Kriterien der Weltgesundheitsorganisation (WHO), wer in einem Zeitraum von einem Jahr die Kontrolle über sein Nutzungsverhalten verloren hat, sich aus anderen Lebensbereichen zurückzieht.

Jonathan Haidt zeigt in seiner Untersuchung die ganze Palette der psychologischen Probleme, von Depressionen bis zu Konzentrationsstörungen, die das Leben junger Menschen erfasst hat. Das Erziehungsmodell der Moderne sieht er in einer grundsätzlichen Krise.

Auf der einen Seite werden Kinder und Jugendliche behütet, mit dem Ziel sie von allen realen Gefahren und Risiken des Alltags zu schützen. Andererseits kümmern wir uns zu wenig um die Abgründe der virtuellen Welt, auf die sie mit Hilfe ihrer Smartphones treffen.

Diese „paranoide Erziehung“ ist eine Folge des Zusammenbruches der Solidarität unter Erwachsenen. Die Bildung unserer Kinder wird zunehmend eine Privatsache oder zur Staatsaufgabe. „Wenn aber Erwachsene sich heraushalten und einander nicht mehr bei der Kindeserziehung unterstützen“, schreibt Haidt „sind alle Eltern auf sich allein gestellt“.

Das Erziehungsproblem ist für den Wissenschaftler eine solidarische Aufgabe mit dem Ziel, den Einfluss der virtuellen Welt, insbesondere auf junge Menschen, zurückzudrängen. Die langfristigen Gefahren der Transformation von Jugendlichen zu Nutzern und Konsumenten sind offensichtlich: „Social-Media Plattformen sind die effizientesten Konformitätsmaschinen, die jemals erfunden wurden“ urteilt der Autor.

Neben konkreten Forderungen zum Schutz der Nutzer gegenüber den Netzwerkangeboten sieht er in der Einübung von Spiritualität ein echtes Gegengewicht. Entsprechende Lehren fördern eine Gegenwelt zu dem Erfahrungsraum sozialer Medien.

Im Mittelpunkt dieser existentiellen Erfahrungen stehen weder die Angst oder ein permanenter Informationsfluss, sondern das Vertrauen. Die Dimension der Ehrfurcht bewirkt neurophysiologische Veränderungen, einen geringeren Fokus auf das Selbst und ein gesteigertes Empfinden von Sinnhaftigkeit.

Die Frage ist klar: Vermitteln die realen, muslimischen Gemeinschaften weiterhin derartige Erfahrungshorizonte? Die Lage ist ernst. Arno Kleinebeckel beschreibt sie auf Telepolis: „In den internetbasierten Parallelwelten wandelt sich die Conditio humana unserer Jugend auf beängstigende Weise. Die schillernde Utopie einer gigantischen Leere, das ist ihr neues Zuhause. Ein verpixeltes, de-realisiertes Zuhause, eines, das den Anschein von Sein erzeugt, aber in Wahrheit unsere Kinder zu Phantomen macht.“

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„Deutsch und muslimisch zu sein ist kein Widerspruch“

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DITIB als relevanter Bildungs-Akteur

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Saba-Nur Cheema zu Muslimfeindlichkeit: „Bildungsbereich hat Bekämpfung nicht auf dem Schirm“

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