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Proteste gegen AfD: Demonstrationen gingen am Wochenende weiter

protest gemeinsam gegen rechts

Die Proteste gegen die AfD und Rechtsextremismus in der ganzen Republik wurden am Wochenende fortgesetzt. Hunderttausende Bürger nahmen teil.

Berlin (dpa, iz). Nach dem Demo-Wochenende mit Hunderttausenden Teilnehmern in ganz Deutschland soll am Montag in einigen Städten gegen Rechtsextremismus protestiert werden. Politiker zeigen sich unterdessen weiter beeindruckt von der großen Zahl an Demonstrierenden – und fordern Konsequenzen.

Am Wochenende waren in der ganzen Republik Hunderttausende Menschen auf die Straße gegangen, um sich gegen Rechtsextremismus und für die Demokratie stark zu machen.

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Proteste: In Hamburg und München wegen Überfüllung beendet

In München musste der Protest am Sonntag wegen zu großen Andrangs – die Polizei sprach von rund 100 000 Teilnehmern – abgebrochen werden. In Berlin kamen nach Schätzungen der Polizei ebenfalls bis zu 100.000 Demonstrierende zusammen. Auch in Städten wie Frankfurt, Hannover, Köln, Bremen und Leipzig gingen Zehntausende auf die Straßen.

Und: Auch in vielen kleineren Städten protestierten Tausende, etwa in Erfurt machten sich nach Angaben der Polizei 6000 Menschen gegen rechts stark, in Kassel 12 000, in Halle waren es 16 000.

Soziologe Hurrelmann: Beleg für „einen Stimmungswandel“

Der Soziologe Klaus Hurrelmann wertete die Demonstrationen als Beleg für einen Stimmungswandel in der Bevölkerung. „Die Proteste gegen rechts wirken auf mich wie ein Befreiungsschlag von Gruppen der Bevölkerung, die wegen Corona und der vielen anderen Herausforderungen sehr lange mit sich selbst beschäftigt waren und fast übersehen hätten, was alles auf dem Spiel steht“, sagte er der „Augsburger Allgemeinen“ (Montag).

Screenshot: X

Recherchen von Correctiv waren Auslöser

Auslöser für die Proteste sind die Enthüllungen des Recherchezentrums Correctiv über ein Treffen von Rechtsextremisten am 25. November, an dem AfD-Politiker sowie einzelne Mitglieder der CDU und der „Werteunion“ in Potsdam teilgenommen hatten.

Der frühere Kopf der rechtsextremen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, hatte bei dem Treffen nach eigenen Angaben über „Remigration“ gesprochen. Wenn Rechtsextremisten den Begriff verwenden, meinen sie in der Regel, dass eine große Zahl von Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang.

Überlebende des Holocaust zeigen sich dankbar

Das Internationale Auschwitz Komitee dankte den Menschen für ihren Protest. „Überlebende des Holocaust sind all denjenigen, die in diesen Tagen gegen den Hass und die Lügenwelt der Rechtsextremen auf die Straße gehen mehr als dankbar. Sie empfinden diese Demonstrationen als ein machtvolles Zeichen der Bürgerinnen und Bürger und eine Belebung der Demokratie auf die sie lange gehofft und gewartet haben“, teilte Exekutiv-Vizepräsident Christoph Heubner mit.

Reem Alabali-Radovan nannte Demonstrationen „gut und wichtig“

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Reem Alabali-Radovan, bezeichnete die Demonstrationen als „gut und wichtig“. „Wir brauchen ein gesamtgesellschaftliches Bündnis“, sagte die SPD-Politikerin „Zeit Online“ (Sonntag).

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Die Unzufriedenen – in Deutschland wird es ungemütlich

unzufriedenen bauern

Die Unzufriedenen: Lange war der soziale Frieden in Deutschland von einem breiten Wohlstand abhängig.

(iz). Glaubt man den Umfragen, sind viele Deutsche besorgt über die ökonomische und politische Zukunft des Landes und schauen pessimistisch in das neue Jahr. Lange waren revolutionäre Unruhen und Bürger, die sich gelbe Westen anziehen, eher in Frankreich als bei uns zu sehen.

Am heutigen Montag erinnern tausende Traktoren und wütende Bauern an die hier herrschende Unzufriedenheit. Sie bemängeln grundlegende Fehler der Agrarpolitik, fordern nachhaltige Subventionen und machen nebenbei deutlich, dass gesundes Essen nicht automatisch auf den Tisch kommt.

Bevölkerungszahlen Migration gesellschaft

Foto: Adobe Stock

Die Unzufriedenen: Unmut als Motivation

Mit den Demonstrationen kündigen sich neue Protestparteien an, die den Unmut in Teilen der Bevölkerung zum Programm machen: Neben dem Thema der spürbaren Inflation und der sozialen Ungerechtigkeit werden leider auch Flüchtlinge und Immigranten als Sündenböcke instrumentalisiert. Die im spöttischen Ton attackierten „Altparteien“ scheitern zunehmend daran, unpopuläre Maßnahmen zu erklären und zu rechtfertigen.

Der Kern des Problems ist schnell ausgemacht. Die alte Magie des Fortschrittes führt schon länger nicht mehr zu wachsendem Wohlstand in den Händen der Mehrheit des Landes. Wenn man Maßnahmen gegen die Klimaerwärmung und den Übergang zu alternativen Energien als wahren Fortschritt feiert, folgt die Ernüchterung in der Erkenntnis, dass diese Zukunftsprojekte bezahlt werden müssen.

krieg ukraine

Foto: Drop of Light, Shutterstock

Reflexionen der globalen Stimmung

Der Übergang zur multipolaren Ordnung in der Welt, schafft neue Empörung. Nicht nur die Kosten des Ukrainekrieges wachsen in den Himmel, der menschliche Blutzoll und Gefechtssituationen, die an den 1. Weltkrieg erinnern, lassen kaum günstige Prognosen zu und tragen zu einer pessimistischen Stimmung in Europa bei.

Der ewige Krieg im Nahen Osten und die als unverhältnismäßig eingestufte Reaktion der israelischen Regierung auf den Terror im Oktober empören nicht nur Muslime. Die internationale Politik ist in beiden Fällen nicht in der Lage eine Friedensvision zu formulieren.

Wohin führt diese Stimmung? Die Bauernproteste geben hierzu Hinweise. Es ist ein denkwürdiges Signal, wenn die Unzufriedenen im Lande realisieren, dass man nur auf der Straße seine Ansprüche erfolgreich einfordern kann.

Hinzu kommen die Versuche der Rechten, alle negativen Stimmungen zu verstärken und mindestens als aktive Trittbrettfahrer am Geschehen teilzunehmen. Am Horizont taucht damit das alte Problem der Demokratie auf: die Übernahme der Institutionen durch demokratiefeindliche Kräfte auf demokratischem Wege.

Foto: Deutscher Bundestag, Tobias Koch

Gelten die alten Techniken noch?

Anhand dieser Entwicklungen wird man daran erinnert, dass die alte Technik der Politik, die Bevölkerung mit Mehrausgaben bei Laune zu halten, nur funktionieren kann, wenn die Bundesrepublik ökonomisch erfolgreich bleibt. Unser Wirtschaftssystem beruht auf der Idee des Wachstums und sieht nicht vor, mit dem Gewonnenen befriedigt zu sein.

Zufriedenheit, als existentieller Zustand, lässt sich in dieser Dynamik nur schwer halten. Dennoch gilt für uns ein Ausspruch des Propheten, überliefert von Abu Hurayra: „Reichtum bedeutet nicht, viel Besitz zu haben, sondern Reichtum ist ein Nafs, die zufrieden ist und kein Bedürfnis spürt.“

Spirituelle Weisheit und Dankbarkeit sind wichtig für soziale Gleichgewicht. Diese Eigenschaft der Gläubigen ist nicht mit Fatalismus zu verwechseln. Zumindest dann, wenn man die sozialen Medien als Temperaturmesser ernst nimmt, wächst auch bei Muslimen die Unzufriedenheit – sei es über geopolitische Themen oder die mangelnde Anerkennung im Staat.

Es ist geboten, sich gesellschaftlich zu engagieren, positive Vorschläge zu formulieren, aber eben auch sich über die Wahl der Mittel und den eigenen Zustand Gedanken zu machen. Wer hier Maß hält, und sich vor den Extremen und einer rein negativen Haltung schützt, wird auf Dauer als Stütze der Gesellschaft Zustimmung finden.

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Tunesien: Tausende protestieren gegen „Unterdrückung und Tyrannei“

Tunesien

Der Druck auf den Präsidenten Tunesiens wächst. Tausende protestieren, auch weil er die Not im Land nicht lindern kann. Der Staatschef versucht derweil von den Problemen abzulenken – und findet einen neuen Sündenbock. Von Cindy Riechau

Tunis (dpa). Während die Not im Land immer größer wird, setzt Tunesiens Präsident in der Krise auf Härte: Tausende Menschen haben deshalb am Wochenende erneut gegen den politischen Kurs von Kais Saied demonstriert. Immer drastischer geht der Staatschef gegen seine Kritiker – und neuerdings auch gegen Flüchtlinge – vor. 

Mehrfache Proteste in Tunesien

Am Samstag versammelte der einflussreiche Gewerkschaftsverband UGTT Tausende Menschen bei einem der größten Proteste seit Saieds umstrittenen Machtausbau auf Kosten anderer demokratischer Institutionen. Auch am Sonntag gingen Hunderte Gegner des Präsidenten auf die Straße, unter ihnen viele Anhänger der Ennahda-Partei, die im Land allerdings stark an Zuspruch verloren hat. Die Demonstranten ignorierten damit ein Verbot, das die zuständigen Behörden zuvor für die Kundgebung der Opposition erlassen hatten.

Trotz neuer Machtfülle bringt Saied das Land nicht voran, seine Beliebtheitswerte sanken Umfragen zufolge zuletzt stark. Für die Wirtschaftskrise im Land findet er keine Lösung, stattdessen widmet er sich dem Kampf gegen Kritiker. Seit Februar ließ Saied Dutzende Menschen festnehmen, darunter Oppositionspolitiker, Richter, ein Journalist sowie ein Vertreter der UGTT.

Ihnen werden etwa Korruption und „Verschwörung gegen die Staatssicherheit“ vorgeworfen. Human Rights Watch (HRW) kritisierte dagegen, es gebe keine stichhaltigen Beweise für die Anschuldigungen. Die Demonstranten am Wochenende forderten die Freilassung der Betroffenen.

Tunesien

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Polizeistaat soll ein Ende haben

„Unterdrückung und Tyrannei“ werde es in Tunesien nicht geben, sagte der UGTT-Generalsekretär Noureddine Taboubi am Samstag in der Hauptstadt Tunis. Mit den „Freiheiten des Polizeistaats“ habe es ein Ende, riefen einige Demonstranten. Gewerkschafter haben sich zu einem der wichtigsten Gegenspieler des Präsidenten entwickelt.

Das Land wies kürzlich auch die Generalsekretärin des Europäischen Gewerkschaftsbundes ETUC, Esther Lynch, aus. Vor wenigen Tagen wurde zudem ein Mitglied einer spanischen Gewerkschaft die Einreise verweigert. Saied ist nicht gut auf Gewerkschafter zu sprechen.

IWF hält Kredite zurück

Sein Streit mit dem UGTT gilt auch als Hauptgrund dafür, dass das nordafrikanische Land bislang noch immer keine Vereinbarung mit dem Internationalen Währungsfonds (IWF) erreicht hat. Tunesiens Führung hofft auf einen Milliarden-Kredit, um einen Staatsbankrott abwenden zu können. Die vom IWF im Gegenzug geforderten Reformen lehnt der UGTT jedoch ab, da sie für viele ohnehin unter der Wirtschaftskrise leidenden Tunesier wohl sehr schmerzhaft wären.

Der angeschlagen wirkende Präsident hat inzwischen einen neuen Sündenbock ausgemacht: Vor anderthalb Wochen warf Saied in einer Rede Migranten aus südlich der Sahara gelegenen afrikanischen Ländern vor, Gewalt und Kriminalität ins Land zu bringen.

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Saied macht Schwarzafrikaner zu Sündenböcken

Es gebe eine „kriminelle Vereinbarung“, Tunesiens demografische Zusammensetzung ändern zu wollen. Das Land drohe ein rein afrikanisches zu werden und seine muslimische und arabische Identität zu verlieren. Kritiker werfen Saied vor, mit dieser Hetze von anderen Problemen ablenken zu wollen.

Trotzdem nehmen seitdem Anfeindungen und rassistische Angriffe zu, Sicherheitskräfte haben Hunderte schwarze Menschen festgenommen, um zu kontrollieren, ob sie sich legal im Land aufhalten. Immer mehr Betroffene etwa aus der Elfenbeinküste, der Demokratischen Republik Kongo oder Guinea fühlen sich nicht mehr sicher und wollen das Land verlassen. Es mehren sich zudem Berichte, dass Betroffenen Jobs und Wohnungen gekündigt werden.

Die Afrikanische Union (AU) zeigte sich nach Saieds Rede „schockiert“. In der Hauptstadt Tunis gingen am Samstag vor einer Woche mehrere Hundert Menschen auf die Straße, um gegen Rassismus zu protestieren. Tunesien sei ein afrikanisches Land, skandierten sie.

Tunesien gilt als wichtiges Transitland für Migranten auf dem Weg nach Europa. Allerdings stammt ein Großteil der Menschen, die derzeit mit Booten in Italien ankommen, aus Tunesien selbst. Sie hoffen angesichts der Perspektivlosigkeit in dem nordafrikanischen Land auf ein besseres Leben in Europa.

„Ich bin enttäuscht, dass der Präsident nichts tut, um die Not der Menschen zu lindern“, sagte eine Demonstrantin, die namentlich nicht genannt werden wollte, der Deutschen Presse-Agentur am Samstag.

Kais Saied sichert sich immer mehr Macht im Land zu. Er löste dafür auch das Parlament auf und ließ eine neue, deutlich geschwächte Volksvertretung wählen. Der Staatschef führte außerdem eine umstrittene neue Verfassung ein, dank der er auch eigenmächtig Richter ernennen und entlassen darf.

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Expertin: Auch religiöse Schicht Irans wütend auf politische Führung

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Pennsylvania/Teheran (dpa). Nach dem gewaltsamen Vorgehen gegen Demonstranten im Iran ist nach Einschätzung einer Expertin auch ein Teil der religiösen Schicht wütend auf die politische Führung des Landes.

„Es gibt einen beträchtlichen Teil der Gesellschaft, der den Islam praktiziert. Aber selbst der größte Teil der traditionellen, religiösen Bevölkerung des Landes ist entsetzt über brutale Gewalt im Namen des Islam“, sagte Fatemeh Shams, Assistenzprofessorin an der University of Pennsylvania für Persische Literatur, im Gespräch mit der Deutschen Presse-Agentur.

Mehr als drei Monate nach Beginn der Proteste wird nach Ansicht der Professorin, die sich in ihrer Arbeit auf die Schnittstelle von Literatur, Politik und Gesellschaft konzentriert, immer deutlicher, wie gespalten die iranische Gesellschaft ist.

„Ich denke, dass wir dieses Mal auch einen Generationswechsel erleben, der Schulkinder und Schülerinnen in den Vordergrund der Proteste gebracht hat – und das ist ein völliges Novum. Diese Kinder haben nichts zu verlieren. Alles, was sie wollen, ist ein normales Leben, und sie sind bereit, ihr Leben dafür zu opfern.“

Auslöser der landesweiten Demonstrationen war der Tod der iranischen Kurdin Jina Mahsa Amini. Die junge Frau starb vor knapp 100 Tagen in Polizeigewahrsam, nachdem sie von den sogenannten Sittenwächtern wegen Verstoßes gegen die islamischen Kleidungsvorschriften festgenommen worden war. Die darauffolgenden Proteste entfachten sich wie ein Lauffeuer und stürzten die Islamische Republik in die schwerste politische Krise seit Jahrzehnten.

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Iran-Proteste: Zweiter Demonstrant hingerichtet. Amnesty spricht von getöteten Kindern

Währung

Teheran (dpa/iz). Im Iran ist nach Angaben der Staatsmedien ein zweiter Demonstrant im Zuge der systemkritischen Proteste hingerichtet worden. Der wegen „Kriegsführung gegen Gott“ angeklagte Madschid-Resa R. wurde am Montag in der Stadt Maschad im Nordosten des Landes öffentlich gehängt, wie die staatliche Nachrichtenagentur Irna berichtete.

Der Mann soll während der Proteste im November zwei Mitglieder der berüchtigten paramilitärischen Basidsch-Miliz mit einem Messer ermordet haben. Das Gericht hatte ihm „Kriegsführung gegen Gott“ vorgeworfen und ihn gemäß islamischer Rechtsauffassung zum Tode verurteilt.

Bereits am vergangenen 8. Dezember war der Rap-Musiker Mohsen S. hingerichtet worden. Er soll ein Basidsch-Mitglied mit einer Waffe angegriffen, Schrecken verbreitet und eine Straße blockiert haben. Seine Hinrichtung wurde im In- und Ausland scharf verurteilt. Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International bezeichnete das Verfahren zum Todesurteil als „unfairen Scheinprozess“. Insgesamt stehen Medienberichten zufolge mindestens 25 Demonstranten auf der Todesliste der iranischen Justiz – zwei von ihnen wurden bereits hingerichtet.

Über die Entwicklungen im Iran beraten an diesem Montag in Brüssel die Außenminister der EU-Staaten. Es wird erwartet, dass bei dem Treffen weitere Sanktionen gegen Verantwortliche für schwere Menschenrechtsverletzungen beschlossen werden. Damit soll auf die anhaltend brutale Unterdrückung der Proteste in dem Land reagiert werden.

Amnesty: Sicherheitskräfte töteten mindestens 44 Kinder

„Neue Recherchen von Amnesty International belegen, dass die iranischen Sicherheitskräfte bei der Niederschlagung der landesweiten Proteste mindestens 44 Minderjährige getötet haben und die Behörden die Familien zum Schweigen zwingt“, erklärte die Menschenrechtsorganisation heute in Berlin. 34 der Kinder seien mit scharfer Munition ins Herz, in den Kopf oder in andere lebenswichtige Organe getroffen worden. In mindestens 13 Fällen hätten die Behörden die Angehörigen zu schriftlichen Stellungnahmen oder Videoaufnahmen gezwungen, in denen sie die Sicherheitskräfte von jeglicher Schuld am Tod ihrer Kinder freisprechen mussten.

„Informationen von Amnesty International deuten darauf hin, dass Angehörige willkürlich festgenommen wurden, dass ihnen damit gedroht wurde, die Leichname der Kinder an einem unbekannten Ort zu begraben, und dass den Eltern damit gedroht wurde, sie oder Geschwisterkinder zu töten, zu vergewaltigen, festzunehmen oder anderweitig zu schädigen.“

Katja Müller-Fahlbusch, Expertin für den Nahen Osten und Nordafrika bei Amnesty International in Deutschland, saget: „Den Familien wurden nicht nur ihre geliebten Kinder genommen, sondern ihnen wird weiterer unmenschlicher Schmerz zugefügt, indem sie gezwungen werden, über die wahren Hintergründe des Todes und die Täter zu schweigen oder zu lügen.“ Der jüngst beschlossene UN-Untersuchungsmechanismus müsse diese Fälle dokumentieren und aufarbeiten, um die Täter internationalem Recht entsprechend zur Rechenschaft zu ziehen.

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Bürgerrechtler: Warnschüsse bei Anti-Kriegs-Protest in der Republik Dagestan

Aggression Ukraine Geopolitik

Machatschkala (dpa). Bei einem Protest gegen die Mobilmachung von Reservisten sind Polizisten laut Bürgerrechtlern in der russischen Teilrepublik Dagestan im Kaukasus mit Warnschüssen gegen Demonstranten vorgegangen. Im Dorf Endirej blockierten Anwohner eine Straße, um so die von Russland Präsident Wladimir Putin angeordnete Teilmobilisierung zu behindern, wie die unabhängige Organisation OVD-Info am Sonntag, den 25.09.2022, mitteilte.

Auf Videos ist zu sehen, wie Polizisten Gewehre in die Luft richten, dann sind Schüsse zu hören. Auch Gerangel zwischen Anwohnern und Beamten ist zu sehen. Laut dagestanischen Medien war der Protest eine Reaktion darauf, dass aus dem Dorf 110 Männer in den Krieg gegen die Ukraine gezwungen wurden.

Später wurden in sozialen Netzwerken Videos geteilt, die Proteste auch in Dagestans Hauptstadt Machatschkala zeigen sollen. Auf einem ist zu sehen, wie ein Polizist einem bereits festgenommenen Mann ins Gesicht schlägt. Ein anderer Clip zeigt, wie Frauen vor einen fahrenden Einsatzwagen rennen, um ihn aufzuhalten.

Angesichts jüngster Niederlagen seiner Armee hatte Kremlchef Putin am vergangenen Mittwoch angeordnet, nun auch Reservisten zum Kampf in der Ukraine zu verpflichten. Seitdem herrscht bei vielen Russen große Panik. Der russische Angriffskrieg dauert bereits seit mehr als sieben Monaten an.

Das muslimisch geprägte Dagestan gehört zu den Regionen Russlands, aus denen Beobachtern zufolge besonders viele Männer eingezogen werden. Aktivisten beklagen, dass Angehörige ethnischer Minderheiten besonders stark von der Mobilmachung betroffen sind und sprechen deshalb teils sogar von „ethnischen Säuberungen“.

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Kasachstan: Palastrevolte im Schatten der Proteste?

Nach dem Chaos einer blutigen Protestwoche geht es in Kasachstan um die Aufarbeitung der Geschehnisse. Immer klarer wird, dass die Sicherheitskräfte wohl nicht nur gegen gewöhnliche Bürger vorgingen. Der Präsident spricht von einem Putschversuch – doch stimmt das? Von Hannah Wagner

Nur-Sultan (dpa). In der kasachischen Millionenstadt Almaty wird aufgeräumt: Ausgebrannte Autos werden abgeschleppt, Verkäuferinnen kehren Scherben vor ihren geplünderten Geschäften zusammen. Eine Woche schwerster Ausschreitungen mit Gefechten zwischen Sicherheitskräften und Demonstranten hat Spuren hinterlassen. Langsam stabilisiert sich die Lage – und das Ausmaß wird auch auf den Straßen deutlich. „Die Bilder von der zerstörten Stadt sind wirklich schrecklich“, schreibt eine Einwohnerin der Deutschen Presse-Agentur.

Deutlich wird nun auch, dass die Zerstörung wohl keinesfalls nur eine Folge von Unmut durchschnittlicher Bürger über gestiegene Treibstoffpreise, Korruption und die autoritäre Staatsführung war. Die Machtverhältnisse in Kasachstan haben sich nach dieser Woche, die viele Menschen das Leben kostete, zumindest verschoben.

Anwohner berichteten von organisierter Gewalt

Kasachische Experten sind sich zunehmend einig, dass es neben vielen friedlichen Demonstranten offenbar auch organisierte gewalttätige Randalierer gab – insbesondere in Almaty, Kasachstans größter Stadt und ihrem wirtschaftlichen Zentrum. Diese beiden Gruppen gelte es streng zu trennen, betont die Soziologin Diana Kudajbergenowa, die an der Universität Cambridge lehrt, auf Twitter. „In Almaty wurden friedliche Proteste von organisierten kriminellen Gruppen geklaut.“

Anwohner berichteten von Schussgeräuschen und von randalierenden Mobs, die durch die Straßen zogen. Mehrere Waffengeschäfte wurden geplündert. Im Internet kursiert ein Video von Männern, die sich Gewehre aus dem Kofferraum eines Autos schnappen. „Ab dem 4. Januar spielten (…) im Vorfeld vorbereitete Sturmtruppen die Hauptrolle, die ohne irgendwelche Losungen auf gewaltvolle Konfrontation aus waren“, schreibt der kasachische Politologe Danijar Aschimbajew.

Als Indiz für ein koordiniertes Vorgehen sehen Experten vor allem, dass offenbar zielgerichtet strategisch wichtige Punkte wie Polizeidienststellen und Verwaltungsgebäude angegriffen wurden. Diese schnelle Radikalisierung des Protests sei nicht nur durch spontan eskalierte Wut junger Männer auf den Straßen zu erklären, heißt es in einer Analyse des Moskauer Carnegie Centre. Auch die russische Tageszeitung „Kommersant“ wundert sich über die Überforderung und Machtlosigkeit der kasachischen Behörden gegenüber den Randalierern.

Tokajew spricht von „Staatsstreich“

„Dies ist der Versuch eines Staatsstreichs“, sagt Präsident Kassym-Schomart Tokajew. Russlands Staatschef Wladimir Putin spricht auf einer Sitzung eines von Moskau geführten Militärbündnisses, das nun in Kasachstan im Einsatz ist, von „zerstörerischen Kräften von außen“. Belege dafür fehlen bislang.

Schon vor längerer Zeit habe sich – von der Öffentlichkeit weitgehend unbemerkt – ein Machtkampf zwischen Präsident Tokajew und seinem einstigen Ziehvater, dem 2019 zurückgetretenen Langzeit-Machthaber Nursultan Nasarbajew, entfacht, schreiben die Carnegie-Experten. Offenbar habe es Leute im Land gegeben, denen nicht gefiel, dass Tokajew mächtiger geworden sei, meint der Politologe Marat Schibutow. „Was auch immer es ist, es ist ein interner Kampf“, schreibt die Politologin Nargis Kassenowa während der Unruhen auf Twitter.

Einen Protegé Nasarbajews, Ex-Geheimdienstchef Karim Massimow, ließ Tokajew festnehmen. Entlassen hat Tokajew zudem zahlreiche weitere Nasarbajew-Vertraute, die gesamte Regierung und Nasarbajew selbst – vom Posten als Chef des einflussreichen Sicherheitsrates. Den übernahm Tokajew. Erst Tage später meldete sich Nasarbajew, der bis zum Beginn der Proteste noch als mächtigster Mann im neuntgrößten Land der Erde und als Strippenzieher im Hintergrund galt, zu Wort. Er habe den Posten freiwillig geräumt, ließ der 81-Jährige ausrichten.

Gibt es einen Putschversuch?

Es ist noch zu früh, um zu beurteilen, ob es sich wirklich – wie Tokajew sagt – um einen Putschversuch handelte. Und wenn ja, wer ihn angezettelt hat. Klarer hingegen ist, dass der frühere Diplomat die Krise ganz offensichtlich für den Ausbau des eigenen Einflusses nutzt. „Das Wichtigste ist offensichtlich: Die Ära Nasarbajews ist in Kasachstan zuende“, heißt es im Carnegie-Bericht.

Der Preis für Tokajews neue Machtfülle könnte groß sein: ein erhöhter russischer Einfluss etwa – und das ausgerechnet rund 30 Jahre nach der Unabhängigkeit von der Sowjetunion. In den Wirrungen der ersten Protesttage hätten zudem Geschäftsleute aus Angst vor einem Umbruch scharenweise das öl- und gasreiche Land verlassen, schreibt der Experte Schibutow. „Jeder, der konnte, ist weggeflogen.“ Für Tokajew geht es nun darum, möglichst viele Investoren im Land zu halten.

Für die Bevölkerung hingegen geht es nun um eine Aufarbeitung der Ereignisse – gerade für diejenigen, die friedlich für Verbesserungen in ihrem Land auf die Straßen gingen. „Die kasachische Regierung schuldet uns die Wahrheit, vollständig und ungekürzt“, schreibt Politologin Kassenowa. „Die Leute sind nicht dumm, sie sind sauer.“

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Ukraine: Mehr als 50 Krimtataren auf Halbinsel Krim festgenommen

Krimtataren

Kiew/Moskau (dpa). Auf der von Russland einverleibten Schwarzmeer-Halbinsel Krim sind nach ukrainischen Angaben mehr als 50 Krimtataren festgenommen worden. Sie seien teilweise mit roher Gewalt in Polizeibusse gedrängt worden, schrieb die Menschenrechtsbeauftragte des Parlaments in der Hauptstadt Kiew, Ljudmila Denissowa, in der Nacht zum Sonntag im Nachrichtenkanal Telegram. Die Krimtataren hätten in der Stadt Simferopol gegen „illegale Durchsuchungen und Festnahmen“ durch den russischen Inlandsgeheimdienst FSB protestiert.

Zuvor seien fünf Aktivisten der muslimischen Minderheit von russischen Sicherheitskräften festgenommen worden, sagte Denissowa. Die Hintergründe waren zunächst unklar. Präsident Wolodymyr Selenskyj forderte bei Twitter die Freilassung aller Festgenommenen. Angaben von russischer Seite lagen zunächst nicht vor.

Denissowa rief die internationale Gemeinschaft auf, Druck auf Russland auszuüben, damit die Repressionen gegen die Krimtataren ein Ende hätten. Zuletzt hatten die Vereinten Nationen Moskau vorgeworfen, mit willkürlichen Verhaftungen und Razzien gegen Vertreter der Religionsgemeinschaft vorzugehen. Russland hatte sich 2014 die ukrainische Halbinsel einverleibt.

Unter der muslimischen Volksgruppe der Krimtataren sind die Vorbehalte gegen Russland nach wie vor groß. Hauptgrund ist ihre Deportation im Zweiten Weltkrieg. 1944 waren etwa 200.000 Menschen wegen angeblicher Kooperation mit den deutschen Besatzern per Zug vor allem ins heutige Usbekistan gebracht worden.

Die Beziehungen zwischen Russland und der Ukraine sind seit Jahren zerrüttet – nicht zuletzt wegen des Konflikts in der Ostukraine. Zu dessen Lösung hatte Selenskyj ein Treffen mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin vorgeschlagen. Der Kreml zeigte sich am Sonntag abermals zwar grundsätzlich dazu bereit. „Aber bis jetzt sehen wir nicht den gleichen gemeinsamen politischen Willen aus Kiew“, sagte Sprecher Dmitri Peskow im Staatsfernsehen. Anders als die Ukraine werde Russland nicht über die Frage der Krim diskutieren.

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Wutbürger und Ex-Eliten haben in den Herausforderungen unserer Zeit wenig anzubieten

(iz). Gewiss, Jugend ist vor allem auch eine Frage des Herzens und des Geistes. So mancher im Herbst seines Lebens ist im Inneren jung geblieben, während nicht wenige 20-jährige schon […]

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Ein Theaterstück rund um die Dresdner Oper sucht noch nach ihrem Autor. Hintergründe von Abu Bakr Rieger

(iz). „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“, dichtete einst Heinrich Heine in seinen berühmten Nachtgedanken. Noch immer steht unser Land unter dem Eindruck des furchtbaren nationalistischen Rassenwahns vergangener Tage. Eine Erinnerung, die in Deutschland, mehr oder weniger erfolgreich, bis heute rechtsradikale Parteien klein gehalten hat. Das Gefühl der Sicherheit vor der Verbreitung neuen Ressentiments sollte man daraus lieber nicht ziehen und wenn die deutsch-jüdische Gemeinde wieder vor der Bewegung der Straße warnt, ist dies durchaus ernst zu nehmen.

Die neuen Schweigemärsche in Dresden, mit immerhin 15.000 Teilnehmern, repräsentieren zwar keine parteiähnliche Struktur und betreiben, neben einem in technokratischer Sprache abgefassten „Forderungskatalog“, keine klare politische Agenda, dennoch sind die Demonstrationen Sinnbild von Ängsten geworden. Es ist natürlich nicht undenkbar, dass Teile der Deutschen sich wieder von einem offenen Weltbild hin zu einem dumpfen Nationalismus wenden könnten.

Natürlich gilt es auch bei diesem ernsten Thema die Verhältnismäßigkeit zu wahren. Die Deutschen gibt es so wenig wie die Ausländer. So engagieren sich, um nur ein Beispiel zu nennen, mindestens 50.000 Deutsche bereits in der ehrenamtlichen Flüchtlingshilfe. Für ein grobes Deutschland-Bashing gibt es angesichts verbreiteter Hilfsbereitschaft und der breiten Akzeptanz für ein humanitäres Engagement der Bundesrepublik insofern keinen Grund. Es gilt vielmehr anzuerkennen, dass ein breiter Konsens in der deutschen Gesellschaft, möglichst vielen in Not geratenen Menschen im In- und Ausland zu helfen, nach wie vor trägt.

Die in Dresden Versammelten lassen aber bewusst Raum für andere Spekulationen und dienen so Freund und Feind als willkommene Projektionsfläche. Für die Einen sind sie an sich brave Wutbürger, die aus einer Art politischer Notwehr zum letzten Mittel des Protestes greifen, für Andere sind sie gleich allesamt „Nazis im Nadelstreifenanzug“. Seit Tagen hat sich an diesen Fragen eine ganze Heerschar von Kommentatoren abgemüht, meist ziemlich eindeutig in ihrem Urteil. In Dresden manifestieren sich, so die meisten Beobachter, „diffuse Ängste“ und eine „latente Fremdenfeindlichkeit“. Das Ressentiment sei nur mühsam versteckt hinter dem skurrilen Titel der „europäischen Patrioten“, die gegen die angebliche Islamisierung des Abendlandes kämpfen. Ein Arbeitstitel, der wohl nicht zufällig an Spenglers Vision des „Untergang des Abendlandes“ erinnert, eine These, die in Deutschland zum Begriff der konservativen Revolution gehört.

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Natürlich ist die Angst vor dem angeblichen „Kampf der Kulturen“, wie es einst bei Huntington hieß, nicht nur in Sachsen verbreitet. Es ist eine Angst der Älteren, die spüren, dass die Bedeutung von Kulturen unter den Bedingungen der Globalisierung stetig abnimmt. Es ist auch mangelnde Bildung, die glaubt, der Islam sei selbst eine Kultur. Auch in Dresden gilt aber die Einsicht: Wo immer der Ruf nach Kultur erschallt, ist sie meist schon untergegangen. Viele jungen Sachsen, deren Eltern nun demonstrieren, würde es wohl schwer fallen, zu erklären, was es denn mit der „sächsisch-abendländischen Kultur“ genau auf sich hat. Längst hat die Kultur neuer Medien die alte Folklore der Regionen abgelöst.

Nebenbei erwähnt, sollten wir Muslime hier ein wenig vorsichtig mit Spott sein. Gibt es nicht auch in unserer Gemeinschaft ein Klientel, dass sich aus Angst vor Identitätsverlust in der Idee verlorener heimatlicher Kultur verbarrikadiert?

Rückt man ein wenig weg von dem aktuellen Geschehen rund um die Dresdner Oper, kommt man nicht umhin, sich allerdings wenig überrascht zu zeigen von der Rebellion der Straße. Sie war nur eine Frage der Zeit. Die Bewegung kommt nicht aus dem Nichts, zum Ersten, weil es in Deutschland immer Fremdenfeindlichkeit gab, die allerdings in das Stichwort „Kampf gegen den Islamismus“ politisch korrekt integriert wurde, zum Zweiten weil die Pegida-Welle ihren Ausgangspunkt auch in deutschen Redaktionsstuben hat. Leider gibt es bei letzterem Punkt noch wenig Neigung zur Selbstkritik.

Über Jahre erschienen deutsche, politische Magazine, wenn es um den Islam ging, zuverlässig in Trauerflor. Hunderte Artikel zelebrierten wilde Assoziationsketten zu einigen der schlimmsten Verbrechen der Welt und immer erschien dabei der Islam als „unheimlich, gefährlich oder dumpf“. Die Muslime in Deutschland wurden in eine Position kollektiver Verantwortung gedrängt. Der veröffentlichte Muslim erschien nun im radikalen Modus des Entweder-Oder, als fanatischer Fundamentalist oder als harmloser Esoteriker. Im besten Fall wurde im Feuilleton noch auf das Paradox verwiesen, der Islam sei allerdings in seiner Geschichte weder verantwortlich für Weltkriege, noch müsse er sich über seinen jahrhundertelangen Umgang mit Minderheiten schämen.

Natürlich kann man hier einwenden, heute ist heute. Muslimische Terroristen und Gewalttäter sind wahrlich keine Erfindung deutscher Medien. Es gibt hierzulande de facto eine sehr kleine Minderheit, im Promillebereich, die sich mit den Zielen des IS identifizieren. Es gibt, deutlich größer im Umfang, eine Sympathie für die reaktive Ideologie der Hamas. Wichtiger als diese Phänomene ist aber die Überzeugung der absoluten Mehrheit aller praktizierenden Muslime, dass die Wortkombination „Islamischer Terrorismus“ unmöglich ist.

Nur, genutzt hat dieses klare Bekenntnis in der Öffentlichkeit wenig. Die Bildersprache läuft eindeutig gegen die Muslime. Die Definitionshoheit über wichtige Begriffe der islamischen Terminologie ist längst nicht mehr bei den Muslimen selbst. Der verbreitete Begriff des „Islamisten“ hat zudem eine unbestimmte Schnittmenge ermöglicht, die Orthodoxe, Schwerverbrecher, Funktionäre, aber auch Andersdenkende in ein Lager zusammenfasst. Oft gleiten die Debatten dabei ins Irrationale ab, so wenn ein desperates Grüppchen von „Scharia-Polizisten“ zur Staatsbedrohung hochgeschrieben wird und das politische Feuilleton in dieser Art der Feindbeobachtung zur Hochform aufläuft. „Wir sind so gut, wie sie so böse sind!“, ist das Motto der schöngeistigen Überheblichkeit.

Aus diesem Sud aus Vorurteilen, Fakten und Begrifflichkeiten zieht auch das Ressentiment der Pegida-Bewegung seine Energie. Die vage Formulierung, man sei gegen die Islamisierung des Abendlandes, ist nicht nur schräg, gerade angesichts der Geschichte des europäischen Islam, sie soll vor allem als Klammer hin zur bürgerlichen Gesellschaft dienen. In einer Umfrage der BILD-Zeitung zeigen sich 58 Prozent der Bevölkerung verängstigt über den wachsenden Einfluss des Islam in Deutschland. Eine Statistik, die in den Ohren der Muslime merkwürdig klingt, kämpfen sie doch vergebens für eine profane Gleichberechtigung ihrer Religionsgemeinschaft. Die Angst der Bürger vor der „Islamisierungs-Welle“ nimmt davon wenig Kenntnis. Auch deswegen fordert kaum jemand zumindest die sofortige Umbenennung der Dresd­ner Aktion, denn, so die abgründige Logik, die zumindest im konservativen Lager verbreitet ist, sind wir nicht alle gegen die Islamisierung?

Bewusst offen bleibt in dieser Logik, was genau gemeint ist, mit dem Phantasiegebäude eines „islamischen Europa“. Ist es der Islam im Alltagsbild, sind es die Moscheen, bereits abgedrängt in die Trostlosigkeit unserer Gewerbegebiete, die Minarette, die praktizierenden Muslime? Gerade weil Pegida zu diesen Dingen schweigt und sich der politischen Vermittlung entzieht, ist hier scharfer Argwohn absolut berechtigt. Das Desaster für die Muslime und ihre Vertreter ist gleichzeitig, dass die Straße zunehmend das Klima und die Lebenswirklichkeit der Muslime definiert. So droht, dass Begriffe, Terminologie und schließlich die Rechte der Muslime, im Wege der Mehrheitsfindung definiert werden.

Die Folgen für die islamische Lebenspraxis sind fatal, wenn künftig ahnungslose Dresdner erklären wollen, was noch legitime Religionsausübung ist. Hierher gehört auch die wachsende Unkenntnis über verfassungsrechtliche Garantien, die wir Muslime als deutsche BürgerInnen, nicht etwas als Fremde, völlig zu Recht in Anspruch nehmen. Die These gar, dass die Kombination von Muslim- und Bürgersein sich ausschließt, ist nichts anderes als offener Rassismus.

Auch eine weitere Schlussfolgerung aus dem Phänomen der Pegida kann abgeleitet werden. Es wäre falsch, ähnlich wie es die Pegida versucht, als Muslime ein ebenso abgeschottetes politisches Lager zu bilden. Natürlich ist eine Querdiskussion mit anderen, auch islamkritischen Bewegungen, geboten. Durchaus denkbar, dass auf diese Weise auch das eine oder andere Vorurteil aus dem Diskurs gedrängt werden kann. Natürlich kann diese Diskussion nur auf der Grundlage unserer eigenen Überzeugungen geschehen, sodass eine „Querfront“ mit jeder rassistischen Gruppierung sich schon aus Glaubensgründen verbietet, zumal diese Gruppen wohl auch kaum gesprächsbereit wären.

Thema wäre bei der „Rettung des Abendlandes“ insofern zusammenzuwirken, als dass es uns Deutschen um die Stiftung neuer Kultur, neuer sozialer Solidarität, neuer ökonomischer Gerechtigkeit in Zeiten totalen Konsums gehen muss. Überhaupt sollte man die eigentlichen Themen unserer Zeit nicht aus den Augen verlieren. Bei aller Hysterie und verständlicher Empörung über ­Pegida lohnt es sich, hier kurz inne zu halten.

Wir leben natürlich im vorgegeben Takt der „Breaking News“, erleben auch eine inszenierte Gesellschaft, mit inszenierten Konflikten. Ohne den Strom der Medien und den Techniken der kanalisierten Aufmerksamkeit, könnte kaum eine politische Bewegung in Deutschland sich auf Dauer halten. Es gilt daher, unbeeindruckt den Fokus und die Aufmerksamkeit auf die richtigen Fragen zu lenken. Vergessen wir also nicht die Konstellation der künftigen Verteilungskämpfe, die uns alle im Kern betrifft. Sie finden rund um das kollabierende Finanzsystem statt, dem eigentlichen Bezugspunkt unserer Zeit.

Hier wurzeln auch gleichzeitig die berechtigten Ängste vor der Dynamik eines drohenden Straßenkampfes. Was passiert mit den bieder wirkenden Wutbürgern von Dresden in Zeiten echter wirtschaftlicher Verwerfungen? Wer gibt der stummen Bewegung am Ende die Sprache? Was werden pseudo-konservative Postillen wie die „Junge Freiheit“, eines Tages schreiben, fordern, wenn sie weniger entschiedenen Widerstand, als vielmehr Rückenwind verspüren?

Rudolf Augstein hat in einem Kommentar auf Spiegel-Online zu Recht darauf hingewiesen, dass Sarrazins medialer Aufstieg „zum dunklen Stern einer Philosophie des Ressentiments“ mit der globalen Finanzkrise zusammenfiel. Der Sieg des Finanzkapitalismus führt bereits zur Krise der parlamentarischen Demokratie, ohne dass die Straße dabei groß aufmuckt. Die These, der Islamismus in Deutschland sei die künftige Schlüsselgefahr für die Existenz der Demokratie, konnte nie wirklich überzeugen, sie ist eher Teil eines Ablenkungsmanövers. Alle Formen des radikalen politischen Islam, so bedrohlich sie agieren mögen, sind schlussendlich nur Garanten für die Etablierung des starken Staates unter den Augen der paralysierten Öffentlichkeit.