Veranstaltungsbericht: eine fehlende Institutionalisierung. Von Bilal Erkin

Ausgabe 206

Im Gegensatz zu etablierten Einrichtungen der Seelsorge bei christlichen und anderen wohltätigen Verbänden befindet sich eine Seelsorge von Seiten der deutschen Muslime noch ganz in den Kinderschuhen.

(iz). Mit dem Titel „Islamische Seelsorge zwischen Herkunft und Zukunft – Von der theologischen Grundlegung zur konkreten Praxis in Deutschland“ veranstaltete das Zentrum für Islamische Theologie Münster gemeinsam mit dem Zentrum für Interkulturelle Islamstudien Osnabrück die erste Jahrestagung des ge­mein­samen Zentrums. Dabei ging es hauptsächlich um Fragen, welche Bedeutung die Seelsorge hat, wie die seelsorgerische Situation der Muslime aussieht und wie diese in der Zukunft gestaltet werden kann. Begleitet wurden diese Fragestellungen von Praxis­erfahrungen und Empfehlungen ehrenamtlicher muslimischer Seelsorger, die in verschiedenen Anstalten seit Jahren tätig sind.

Bereits zu Beginn der Tagung wiesen einige Vertreter muslimischer Verbände und Organisationen auf die jetzigen Probleme der Muslime in Deutschland hin und bekundeten ihre Erwartungen für die Zukunft. So sagte Avni Altiner vom Landesverband der Muslime in Niedersachsen, dass es sehr viele Menschen muslimischen Glaubens gibt, deren seelsorgerische Bedürfnisse nicht befriedigt werden können. Yilmaz Kilic von der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion (DITIB) und Ali Kizilkaya, Sprecher des Koordinationsrats der Muslime, konstatierten, dass die Generationen nicht mehr den familiären Zusammenhalt aufweisen, den sie zu der Zeit der Auswanderung aus ihren Herkunfts­ländern hatten. Dieses sei ein Problem, welches Muslime alleine nicht bewältigen könnten und daher auf die Unterstützung des Staates und der Universitä­ten angewiesen seien, so Kilic.

Prof. Dr. Mouhanad Khorchide vom Zentrum für Islamische Theologie in Münster versuchte nachzuzeichnen, was die islamische Theologie mit ihren Quellen zu dieser Thematik bereitstellt. Bevor man sich in die Tiefe der islamischen Tradition stürzt, solle man den Menschen mit seinen Ängsten, Bedürfnissen und Wünschen in den Mittelpunkt stellen, denn die Theologie der Seelsorge müsse sie in ihrer Lebenswirklichkeit wahrnehmen. Es gehe nicht um die Frage, was Gott dabei für sich möchte, sondern eher um die Frage, was er für den Menschen möchte, damit die Glückseligkeit den Menschen schon hier auf Erden erfasst. Eine überlieferte Prophetentradition konkretisiere diese Aussage und zeige, dass sich Gott „mit dem Leid, dem Hunger und dem Durst“ identifiziert. Prof. Khorchide fasst zusammen: „Menschendienst ist Gottesdienst und die Seelsorge ist ein Medium zur Verwirklichung der Intention Gottes auf ­Erden“.

Mustafa Cimsit von der Union muslimischer Theologen und Islamwissenschaftler in Deutschland ist ehrenamtlicher Seelsorger an einer Justizvollzugsanstalt, wo er alle drei Wochen das Freitagsgebet leitet und individuelle Seelsorge mit den Häftlingen betreibt. Zu der Frage, was Seelsorge im Islam nun zu bedeuten habe, betonte er die Dehnbarkeit des Begriffs und die Unbestimmtheit seiner Ausübungsmöglichkeiten. Dennoch blieb seine Überzeugung, Seelsorge sei im Islam und im Qur’an verankert. Wichtig sei es, dass Seelsorge nicht dann eingreift, wenn etwas Schlimmes passiert ist, sondern Maßnahmen aufstellt, die solche schlimmen Ereignisse präventiv zu minimalisieren versuchen. Am Ende plädierte Cimsit, der zu diesem Thema auch promoviert, für die wissenschaftliche Aufarbeitung der Seelsorge durch Muslime und die Entwicklung der ihren Bedürfnissen entsprechenden Konzepte in Zusammenar­beit mit den Religionsgemeinschaften.

Die Mehrheit der Referenten sprach über die seelsorgerische Praxis. Sie ­teilten ihre Erfahrungen mit den Gästen der Tagung, um einen Beitrag zur Etablierung der islamischen Seelsorge in Deutschland zu leisten. Die oft nicht leicht zu erschließenden Unterschiede zwischen der Seelsorge und der Psychotherapie erarbeitete Dr. Ibrahim Rüschoff, Therapeut und Arzt für Neurologie und Psychiatrie. Die gängige Meinung von muslimischen Theologen in islamischen Ländern, das „ein wahrer Gläubiger“ gar nicht psychisch krank werden könne, widerspreche oft der gängigen Meinung der muslimischen Bevölkerung, dass Dschinnen (Geisteswesen und Dämonen) einen Einfluss auf die Psyche des Menschen ­haben können. Der Seelsorger solle sich daher nicht fragen „Woher kommt das Böse?“, sondern eher „Wie gehe ich mit dem Bösen um?“. Dabei müsse er zwar psychologische Methoden anwenden, aber den Betroffenen dennoch per oculas Dei, also mit dem Auge Gottes als ein Teil der Umma sehen, um seine Krise zu lösen. Der wohl größte Unterschied zwischen einem muslimischen Seelsorger und einem Psychotherapeuten sei es, dass der Seelsorger die beruhigte Seele des Patien­ten beabsichtigt, wo Gottes Wille und der Wille der Seele eins wird. Der Psychotherapeut hingegen setze sich zum Ziel, keine neurotischen Verzerrungen mehr zu beobachten.

Großes Interesse erntete die Initiative von Imran Sagir, Leiter des Muslimischen Seelsorgetelefons in Berlin, der das Konzept der telefonischen Seelsorge seit der Entstehung der Idee bis zur Gründung des Projektes darstellte. Das Konzept des Muslimischen Seelsorgetelefons präsentiert sich als eine der erfolgreichen Formen der Islamischen Seelsorge in Deutschland. Weitere Praxisberichte aus Altersheimen, Gefängnissen, Krankenhäusern und aus der Notfallseelsorge ­rundeten die erste Jahrestagung des Zentrums für Islamische Theologie Münster/Osnabrück ab.

Am Ende der Tagung stand fest: Die Institutionalisierung der Islamischen Seelsorge steckt nicht in den Kinderschu­hen, nein, vielmehr gibt es sie in dieser Form nicht. Der Dank geht an die interreligiösen Pilotprojekte, Bemühungen Einzelner und an die Bestrebungen der Ehrenamtlichen, die die ersten Formen der öffentlichen islamischen Seelsorge in Deutschland präsentierten. Für den ­einen oder anderen Betroffenen sind sie bis heute eine Hilfe. Dennoch sind viele muslimische Menschen von der Inanspruchnahme solcher Dienstleistungen ausgeschlossen.

Am Ende dieser Veranstaltung blieben die Fragen offen, wer das Potenzial hat, diese Aufgabe als Organisation zu übernehmen, wie die Bereitstellung der seelsorgerischen Dienstleistungen finanziert werden kann und welche Ausbildung die zukünftigen Seelsorger durchlaufen sollten.

Weiterhin wird es interessant sein, zu sehen, ob die Absolventen der akademischen Zentren der islamischen Theologie in Deutschland dazu befähigt werden, eine professionelle, zeitgemäße und den Bedürfnissen der Betroffenen zugeschnittene, vor allem aber eine „islamische“ Seelsorge anbieten zu können.

Bilal Erkin (25) ist Islamwissenschaftler und Master-Student der Islamischen Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Zudem ist er wissenschaftliche Hilfskraft am Zentrum für Islamische Theologie Münster.