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Von Stadt, Markt und Handel. Die Ökonomie in Medina

Ausgabe 272

Foto: Imago

„Oh, die ihr Iman habt, gebt von den guten Dingen, die ihr erworben habt, und von dem, was die Erde für euch erzeugt.“ (Al-Baqara, 266)

„Reichtum wächst nicht durch Niedertracht, genauso wenig wie er durch Wohltätigkeit abnimmt.“ Imam Al-Ghazali

(MFAS). Einmal kam ein Mann von den Ansar (den Muslimen aus Medina) zum Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, und bat um Almosen. Der Prophet fragte ihn: „Habt ihr nichts in eurem Haus?“ Er entgegnete: „Ja, Gesandter Allahs, eine Satteldecke, die wir als Decke nutzen sowie eine Schale zum Trinken.“ Der Prophet wies den Mann an, ihm beide zu bringen, was auch geschah. Er nahm beide in die Hand und sagte: „Wer kauft sie?“ Ein Mann bot einen Dirham, worauf der Prophet ausrief: „Wer wird zwei oder drei Mal mehr bezahlen?“ Jemand anderes bot zwei Dirham und nahm die Sachen an sich. Der Gesandte Allahs wies den Hilfesuchenden an: „Kauf mit einem Dirham Lebensmittel für Deine Familie; mit dem anderen ein Seil und bringe es mir.“ Das geschah und der Mann brachte es zum Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben. Dieser band es an einen Gehstock und wies den Mann dann an: „Geh, sammle Feuerholz und verkaufe es. Und lasse dich fünfzehn Tage lang nicht blicken.“ Der Bittsteller tat wie geheißen und kehrte mit zehn Dirhams zurück, die er verdient hatte. Mit einigen Münzen kaufte er Lebensmittel und mit anderen Kleidungsstücke. Der Prophet sagte dann zu ihm: „Das ist besser für dich, anstatt dein Gesicht am Tag der Auferstehung durch Betteln zu verunstalten.“

Dieser interessante Bericht bietet uns Stoff zum Nachdenken über die allgemeine Einstellung gegenüber dem Lebensunterhalt (arab. Kasb) im Din. Die Armen sollten nicht betteln, wenn sie körperlich zur Arbeit in der Lage sind. Bevor sie Spenden erhalten, sollte man vorher ihre Arbeitsfähigkeit feststellen und sie entsprechend beraten. Allgemein wird Handel der Hilfe vorgezogen. Die Armen sollen in die Lage versetzt werden, sich selbst aus entwürdigender Armut und Bettlerei zu befreien hin zu einem würdigen, eigenen Unterhalt. Dafür brauchen sie eine Mindestchance auf einen vollwertigen Verdienst und einen rechtmäßigen Lebensunterhalt. Der eingangs zitierte Qur’anvers zeigt recht deutlich, dass unsere Versorgung (arab. Infaq) und die der allgemeinen Gemeinschaft durch Verdienst (arab. Kasb) erfolgen sollten und nicht durch Betteln (arab. Su’al).

In der Geschichte können wir sehen, dass in Medina die Auswanderer (arab. Muhadschirun) Spenden von den einheimischen Helfern (arab. Ansar) ablehnten. Vielmehr entschieden sie sich für Handel und Arbeit, obwohl viele verarmten, nachdem einige von ihnen wegen der Auswanderung nach Medina ihren Besitz in Mekka zurückließen. Vom Gelehrten Al-Kattani wurde hierzu ein Bericht überliefert. Der Prophetengefährte ‘Abdarrahman ibn ’Auf warf ein Licht auf die Entwicklungen, als sich die neue muslimische Gemeinschaft nach der Auswanderung in Medina etablierte. Er berichtete: „Nachdem wir als Auswanderer nach Medina kamen, stiftete der Prophet, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, eine Brüderschaft zwischen mir und Sa’d ibn Al-Rabi‘. Dieser sagte zu mir: ‘Ich bin der reichste unter den Ansar. Also werde ich dir die Hälfte meines Besitzes geben. Und du kannst dir meine beiden Gattinnen anschauen. Von derjenigen, die du auswählst, lasse ich mich scheiden, und du kannst sie nach Vollendung der Warteperiode (arab. ‘Idda) heiraten.’“ ‘Abdurrahman ibn ‘Auf entgegnete auf das Angebot: „Das brauche ich nicht. Gibt es hier einen Marktplatz, auf dem gehandelt wird?“ Sa’d sagte ihm: „Der Markt der Banu Qainuqa (ein jüdischer Stamm).“ Am nächsten Tag ging Ibn ‘Auf zum Markt. Das ging einige Tage so und nach einer Weile waren Spuren eines gelben Duftes auf ihm zu sehen. Der Gesandte Allahs fragte, ob er heiraten wolle, was sein Gefährte bestätigte. (…) ‘Abdarrahman ibn ‘Auf wurde schließlich zu einem der wohlhabendsten Prophetengefährten. Neben anderen wurde er zum Kassenführer bestimmt.

Der Markt des Propheten
Dieser Bericht veranlasst zu einem tieferen Blick auf die sozio-ökonomische Bedeutung des „Marktes des Propheten“. Es ist allgemein bekannt, dass zu den ersten Dingen nach seiner Ankunft in Medina die Schaffung einer Moschee und eines Marktes gehörte. Er wollte einen eigenständigen Handelsplatz für die entstehende muslimische Gemeinschaft. Dieser war eine wohltätige Stiftung für das Allgemeinwohl. Hier gab es keine Steuern und es galt der Grundsatz: „Der Markt der Muslime ist wie der Ort der Niederwerfung für den Betenden. Wer einen Platz findet, behält ihn, bis er wieder geht.“ (Al-Hindi, Kanz Al-Ummal)

Der Markt ist eindeutig ein Analog zur Moschee, denn die Mu’amalat, die zwischenmenschlichen Transaktionen, unterliegen in der Analogie vergleichbaren Regeln wie die Anbetung. Im Din ist es nötig, dass das angemessene Verhalten bei Handel und Wirtschaft zur Anwendung kommt. Dafür braucht es autonome Räume für Handel und Wirtschaft, in denen wucherische, monopolistische und heimtückische Praktiken verboten sind. Gleichermaßen müssen Gerechtigkeit, Gutwilligkeit und Fairness herrschen.

Genauso wie die Moschee als allgemeiner Raum der Anbetung galt, wurde der Markt als der öffentliche Raum für den Austausch betrachtet. Die Moschee stand allen unbeschränkt offen. Gleichermaßen galt dies für den Handelsplatz. Alle, insbesondere die Armen und Mittellosen, konnten jederzeit auf den gemeinschaftlichen Markt, um dort ohne Gebühren zu arbeiten oder zu handeln. Dies wurde als eine Wirtschaft der Markt-Wohlfahrt bezeichnet, in der die ökonomischen Aspekte von Markt und Wohlfahrt als Teile einer integrierten Wirtschaft begriffen wurden. Verkörpert wurde dies beispielsweise durch die Institution der Stiftung (arab. Waqf oder Habous).

Moschee und Markt sind die Zwilllingssäulen der muslimischen Gemeinschaft. Wir können die Fragmentierung unseres Dins nicht erlauben. Das heißt, eine Art von Ethik in der Moschee praktizieren, aber dann eine ganz andere in unserer Ökonomie. Wir müssen Taqwa (Bewusstsein von der ständigen Anwesenheit des Schöpfers) aufrechterhalten, wo immer wir sind. Daher haben die klassischen Gelehrten umfassende Bände über die Regeln der Moschee (arab. Ahkam al-Masdschid) aber auch über die Märkte (arab. Ahkam al-Suq) geschrieben.

Din, Medina und wirtschaftliche Bemühungen
Imam Muhammad Asch-Schaibani (Schüler der Imame Malik und Abu Hanifa sowie Lehrer von Imam Asch-Schafi’i) sagte sinngemäß: Die Beziehung zwischen der Anbetung (arab. ‘Ibada) und den Transaktionen (arab. Mu’amalat) ist wie die zwischen Gebet (arab. Salat) und ritueller Reinheit (arab. Tahara). Das eine kann nicht ohne das andere existieren. Daher besteht der Din aus der persönlichen Beziehung in der Anbetung zum Schöpfer sowie aus dem Verhalten gegenüber den Mitmenschen (und in Erweiterung dem Rest der Schöpfung). In Medina wurden diese beiden wesentlichen Dimensionen des Dins voll realisiert und manifestiert – im privaten wie im öffentlichen Leben. Oder, um es mit den Worten des Philosophen Muhammad Naquib al-Attas zu sagen: „Die Stadt des Propheten bezeichnet den Ort, an dem der wahrhaftige Din unter seiner Autorität praktiziert wurde (…). Die Stadt wurde für die Gemeinschaft gleichbedeutend mit der sozio-politischen Ordnung der Muslime.“

Der malaysische Denker sagte auch: „(…) das Konzept Din reflektiert die Idee eines Königreiches – eine Kosmopolis. Mit Wirtschaft und Handel als die ­Lebensart dieser Kosmopolis. Es ist daher kein Wunder, dass das weltliche Leben im Edlen Qur’an so beharrlich in den angemessenen Metaphern der Ökonomie beschrieben wird. Der Mensch ist unausweichlich am Handel beteiligt, in dem er gleichermaßen das Subjekt wie das Objekt ist. Er ist sein eigenes Kapital. Verlust und Gewinn hängen von seinem eigenen Sinn für Verantwortung und der Ausübung seiner Freiheit ab. Er kauft, verkauft und tauscht. Und es ist das Selbst des Menschen, das gekauft, ­verkauft oder getauscht wird. Abhängig von der individuellen Neigung zur Ausübung des Willens und den Taten wird sein Handel entweder florieren (…) oder Verluste erleiden.“

Das Verständnis von „Stadt“, wie es in dem Wort „Medina“ verkapselt ist, führt uns zur Bedeutung von Gemeinschaft (arab. Dscham’a). Sie ist nur dann ein menschliches Gemeinwesen, im Gegensatz zur bloßen Menge, wenn sich die bildenden Individuen an eine gemeinsame Ethik (arab. Adab) und an das Recht (arab. Fiqh) für den den formellen und informellen Austausch untereinander ­halten. So wie sie sich an die allgemeinen Regeln für die kollektive Anbetung des Schöpfers in der Moschee halten, tun sie das auch bei den gemeinsamen Trans­aktionen auf dem Markt. Ohne diese übergreifende Ethik und das Recht gibt es keine integrierte Gemeinschaft. Sie fundiert dann nicht auf Taqwa, sondern auf einer verstreuten Menge, die sich am gleichen Ort zu einer bestimmten Zeit einfindet.

Daher beruhen Handel und Wirtschaft auf der Grundlage von Gottesfurcht, und nicht auf bloßer egoistischer Gefälligkeit, als ein Aspekt der gemeinschaftlichen Verpflichtungen des Islam (arab. Fard al-Kifaja). Durch rechtmäßigen, ganzheitlichen und bedeutsamen Handel, Wirtschaft und Arbeit, hilft man der ­gemeinschaftlichen Versorgung, indem man für sich selbst sorgt. Daher auch der Vers: „Oh, die ihr Iman habt, gebt von den guten Dingen, die ihr erworben habt.“ (Al-Baqara, 266)

Wir können unsere Reflexion noch ausweiten und zur Ansicht gelangen, dass eine persönliche Anbetung nicht ausreicht, damit eine Person ein ganzheitlich islamisches Leben führen kann. Gleichzeitig muss man sich um die Mu’amalat sorgen, die ebenso dafür nötig sind. Es gibt unlösbare Verbindungen zwischen den individuellen und den kollektiven Verpflichtungen.

In seinem Buch „Kitab Adab al-kasb wa’l-Ma’asch“ schrieb hierzu der bekannte Gelehrte Abu Hamid Al-Ghazali: „Der zweite Aspekt ist Erledigung einer der notwendigen Verpflichtung durch das eigene Handwerk, Handel oder Arbeit. Würden die Leute von ihrem Handwerk oder ihren Geschäften ablassen, dann würde ihr Lebensunterhalt unterbrochen. Die meisten würden vergehen. Daher wird die gut funktionierende Anordnung der Angelegenheiten aller durch die Beschäftigung aller gewährleistet, wobei jede Gruppe ihren Anteil daran hat. Würden sich alle nur einer Beschäftigung widmen, dann bliebe der Rest unbeachtet und die Leute wären zerstört. Einige Gelehrte haben die prophetischen Worte ‘Die Vielfalt meiner Gemeinschaft ist eine Barmherzigkeit’ in Hinblick auf diesen Aspekt der Wirklichkeit verstanden. Soweit es die Gewerke betrifft, gibt es einige wichtige sowie einige weniger wichtige. Denn diese dienen der Suche nach Bequemlichkeit und Schmuck in dieser Welt. Daher sollte man sich mit einer wichtigen Profession beschäftigen, sodass deren Praxis sich um etwas Wichtiges in der Religion der Muslime sorgt.“

Einer der wichtigsten, immateriellen Faktoren für die Blüte von Handel und Wirtschaft im frühen Medina war das allgemeine gegenseitige Vertrauen, das zwischen den Teilnehmern der Transaktionen herrschte. Wucher und wucherische Verträge waren verboten, während gleichwertige Formen der Partnerschaft und entsprechende Verträge ermutigt wurden. Tatsächlich war der Markt des Gesandten Allahs, möge Allah ihn segnen und ihm Frieden geben, eine „Freihandelszone“, wie Heck ihn beschrieb. Hier gab es weder Steuern, noch Preiskontrollen. Monopole, Horden, Bestechung, Betrug, Täuschung, Fälschung und so weiter waren hier untersagt. Verträge waren verbindlich und mussten respektiert werden. Alle diese substanziellen, ethischen Vorschriften sowie ihr objektiver Ausdruck in formellen Vertragsinstrumenten dienten zur „Aufrechterhaltung der Integrität der Marktfunktionen“. So wurde ein sozio-ökonomischer Austausch gewährleistet, der das persönliche Interesse in den größeren Kontext des Allgemeinwohls einbettete.