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Wer sind die Krimtataren?

Ausgabe 322

kurzmeldungen
Foto: Adam Jones, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY 2.0

Der gegenwärtige Krieg gegen die Ukraine wirft nach 2014 erneut ein Schlaglicht auf die Lage der ukrainischen Muslime – insbesondere der Krimtataren.

(iz). Seit geraumer Zeit wächst die Erkenntnis, dass Islam und die Anwesenheit von Muslimen ein wesentliches Element der Geschichte Europas und seiner vielfältigen Landschaft ist. Dieser Fakt wurde früher häufig ignoriert, wenn nicht gar absichtlich beiseitegeschoben.

Von der Atlantikküste bis zum Ural gibt es reichhaltiges Material zur Demonstration, dass unser Kontinent durch Islam – sowohl seinen Institutionen wie Muslimen – geprägt wurde. Hinweise darauf finden sich beispielsweise in den Arbeiten von Prof. Dr. Ferid Muhic. Im Raum und in der Zeit gibt es einen „muslimischen Halbmond“ in unserer Geografie und Geschichte, der sich vom historischen Al-Andalus im Südwesten zum nordöstlichen Bulgaren-Reich im Wolgabecken erstreckte. Während Islam und seine offenkundigen Leistungen in Spanien und auf dem Balkan wiederentdeckt werden, warten andere Beispiele auf ihre verdiente Anerkennung.

Unglücklicherweise gehören die Krimtataren sowie weitere muslimische Gruppen, die auf dem Gebiet des zaristischen und sowjetischen Osteuropas lebten, zu den Gemeinschaften, denen bisher wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde. Hinzukommt, dass sich ihre jüngeren Erfahrungen mit Beginn der russischen Expansion im 18. Jahrhundert in den düsteren Abschnitten der europäischen Geschichte ereigneten.

Die Geschichte des Islam und der Muslime auf dem Gebiet der heutigen Ukraine begann nicht mit den Krimtataren. Einige Hundert Jahre vorher gab es erhebliche Nomadenwanderungen, die aus dem Herzen Zentralasiens kamen. Schließlich ließen sich diese in dem nieder, was das größere ungarische Reich werden sollte, das ans jetzige ukrainische Territorium grenzte. Muslimische Angehörige von Stämmen wie Petschenegen oder Kipschaken wurden nach Westen getrieben und kontrollierten später die südlichen Teile des Landes sowie die Halbinsel Krim. Arabische Reisende wie Ibn Fadlan im 10. Jahrhundert bestätigen einen hohen Grad an islamischem Wissen, dass von der bulgarischen Herrschaft an der mittleren Wolga kam. Im Laufe der Zeit wurden diese frühmuslimischen Spuren verweht.

Vor der Annexion im Jahr 2015 waren 300.000 der ukrainischen Muslime Krimtataren. Ihre Siedlungen konzentrierten sich in der Südukraine, insbesondere auf der Krim. Nach dem russischen Angriff 2014 wurden viele gezwungen, die Halbinsel zu verlassen oder gingen freiwillig. Es gibt Reste anderer Tataren in Wolhynien oder Podolien. Wie andere großen Nationen waren auch die Tataren die Frucht der mongolischen Expansion, die durch China, den Subkontinent bis Ost- und Mitteleuropa fegte. Obwohl Dschingis Khans Krieger vieles von dem zerstörten, was auf ihrem Weg lag, schufen sie auch die Bedingungen für etwas Neues. Für einige Völker war das die Vorbedingung für die Entstehung stabiler und fruchtbarer Zivilisationen.

Die Khane der Krim schufen eine bemerkenswerte muslimische Kultur, deren Moscheen, Paläste und Zeugnisse auch heute Besucher der Krim verzaubern. Bevor die zaristischen Waffen die Hauptstadt Bachtschyssaraj in die Knie zwangen, hatte sie beinahe zwei Dutzend Moscheen und mehrere Einrichtungen für höhere Bildung.

Auch in diesem Fall stehen wir vor der Tatsache, dass ein geografischer Raum seine eigene Geschichte hervorbringt. Zu Beginn war das osmanische Interesse darauf gerichtet, das Khanat und andere als Schutzschild gegen die Steppe zu benutzen. Später waren die Ukraine und das Khanat, das selbst zeitweise die südliche Hälfte der heutigen Ukraine kontrollierte, der Brennpunkt von Interessen verschiedener Reiche (Osmanen, Russland und Polen-Litauen).

Das schuf Instabilitäten und wechselnde Loyalitäten; insbesondere, nachdem die Kosaken zu einem Werkzeug der Zaren zur Eliminierung von muslimischer Präsenz aus diesem Teil Osteuropas zu benutzen.

Bevor wir zu schnell zum Schluss kommen, dass die muslimische Präsenz von Gewalt getrieben wurde, müssen wir uns einiges bewusst machen. Ein erheblicher Teil des Landes gehört zur eurasischen Steppe. Die Herrschaft von Nomaden dauert niemals lang und verläuft meistens unruhig. Das Gleiche gilt für Grenzländer von Großreichen. Beutemachen mag eine historische Tatsache sein, aber es gibt auch Handel. Je stärker die Bauern der polnischen und russischen Nachbarn neue Ackerflächen erschlossen und sie bearbeiteten, desto wichtiger wurde die Krim für den Getreideexport. Darüber hinaus war das Nordufer des Schwarzen Meeres ein kleinerer Endpunkt der Seidenstraße. Ein Beweis dafür war der lange Bestand von italienischen Häfen in dem Raum.

Das erste und leider nicht letzte historische Trauma der krimtatarischen Muslime war die schrittweise Übernahme ihrer Gebiete in die russische Herrschaft. Moskau eignete sich immer mehr Territorium der Ukraine an. Strategische Ziele waren das Schwarze Meer, die Krim und schließlich die warmen Gewässer des Mittelmeers. Insbesondere der Krimkrieg sowie der russisch-türkische Krieg (1877-78) verursachen später einen weiteren Exodus. Viele starben auf der Flucht oder ertranken in der See. Die Nachkommen der Geflohenen leben heute in den Anrainerländern Rumänien, Bulgarien und der Türkei verstreut.

Für Osteuropa und seine Menschen war die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts ein besonders schrecklicher Albtraum. Insbesondere die Zeit zwischen 1917 und 1945 ist durch enormes Blutvergießen gekennzeichnet, das sich häufig in Handlungen verschiedener Akteure überlappte. Für eine weitere Einführung empfehle ich Timothy Snyders wegweisendes Buch „The Bloodlands“ über die Gewaltgeschichte der Region. Osteuropas Muslime – nicht nur Krimtataren – wurden von Weißen und Roten, nationalistischen Guerillas, dem leninistischen und später stalinistischen Staat sowie schließlich im Zweiten Weltkrieg verfolgt.

Zur Zeit der Russischen Revolution 1917 machten Muslime ein Drittel der Einwohner auf der Krim aus. In den meisten Städten gab es eine bedeutende muslimische Bevölkerung. Nach Lenins Politik gab es einen kleinen Aufschub, der die Illusion von Autonomie für die Krim schuf. Diese wurde jedoch in den 1920er Jahren drastisch beendet.

Unter der zaristischen russischen Politik hatten die Tataren bereits eine Russifizierung erlebt, auf die eine Sowjetisierung folgte. In der Folge kam es zu einer zunehmenden Säkularisierung, die 1930 ihren gewaltsamen Höhepunkt erreichte – eine Zeit, in der fast alle islamischen Gelehrten unterdrückt, Moscheen und Medressen geschlossen und viele muslimische Einrichtungen zerstört wurden.

Wie Ukrainer oder Polen unter Moskaus Herrschaft erlebten die Krimtataren die Schrecken der „Säuberungen“ sowie die willkürliche Hungersnot der Zivilbevölkerung im Holodomor. Keine andere Nation der Sowjetunion erfuhr solch einen Bevölkerungsniedergang, wie sie ihn zwischen 1917 und 1933 erlebten. In dem Zeitraum wurde die Hälfte der krimtatarischen Bevölkerung getötet oder deportiert.

Das größte Unrecht, das diesem muslimischen Volk angetan wurde, war ihre vollständige Massendeportation, als Stalin sie zu Unrecht als „Nazi-Kollaborateure“ beschuldigte. 1967 wurden sie von dieser Anklage entlastet. Dabei wurde die wichtige Tatsache ignoriert, dass die Rote Armee ihren endgültigen Sieg dem Beitrag muslimischer Kämpfer verdankte. Und wie in anderen Teilen Europas auch taten die wenigen, die sich den Nazitruppen anschlossen, dies oft nicht freiwillig. Für andere bedeutete die Rekrutierung ein Mittel, um die zügellose Brutalität und den Hunger in den berüchtigten deutschen Kriegsgefangenenlagern zu überleben.

Das gesamte Volk wurde im Mai 1944 nach Zentralasien verschleppt. Es wird geschätzt, dass alleine zwischen 1944 und 1945 um die 45 Prozent (nach krimtatarischen Angaben) an Hunger und Krankheit starben. Ihr Besitz und ihre Heimat wurden mehrheitlich an ethnische Russen übergeben. Einige Stimmen sind der Ansicht, dass die Ursachen für die Deportationen ein Vorwand waren, da auch Angehörige anderer Völker verschleppt wurden. Diese Forscher machen die geopolitische Lage der Halbinsel Krim dafür verantwortlich. Die Sowjetunion könnte demnach auf die Möglichkeit eines Zugangs zu den Dardanellen und des türkischen Gebiets spekuliert haben.

Auch wenn sie 1967 von der sowjetischen Führung rehabilitiert wurden, unternahm diese nichts, um die Krimtataren zu repatriieren. Es sollte weitere Jahrzehnte dauern, bis dieses Volk 1989 mit der Rückkehr auf die Krim beginnen konnte. Diese Heimkehr ereignete sich während des Zerfalls der ehemaligen Sowjetunion und der Formation einer unabhängigen Ukraine.