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Wie komme ich praktisch zu einem realen Abbild der Wirklichkeit?

Ausgabe 274

Foto: Pexels.com

Seit geraumer Zeit sind Begriffe für „Fakenews“, „kontrafaktisch“ oder „alternative Wahrheiten“ in aller Munde. Internationale Forscher haben das Phänomen nicht nur in ideologischer, politischer und medientechnischer Hinsicht untersucht. Sie beziehen in ihre Betrachtungen auch neurologische Erkenntnisse ein. Im folgenden Text der US-Autorin Anya Kamenetz geht es darum, was gerade junge Mediennutzer und Studenten beim nötigen Fakten-Check tun können.
(MV Media/IZ). Welche dieser Aussagen scheint für die Leser vertrauenswürdiger zu sein: „Amerikaner versinken in einem Tsunami der Unwissenheit! Es gibt eine Verschwörung auf höchster Ebene, um alles Wissen mit Propaganda und Desinformation zu ersetzen“, oder „ein Bericht der Stanford Universität ergab kürzlich, dass 80 Prozent aller [amerikanischen] Mittelschüler nicht verstehen, dass die Formel ‘gesponsorter Inhalt’ eigentlich ‘Werbung’ bedeutet“?
Für die meisten Nutzer von öffentlich-rechtlichen Medien sollte das keine schwierige Frage sein. Die erste Aussage ist eine überladene, falsche Meinungsäußerung, die eine nicht nachweisbare, verallgemeinerte und ideologische Behauptung aufstellt. Die zweite ist maßvoll im Ton und eingeschränkt im Umfang. Und sie erstellt einen Bezug zur Originalquelle: die Presseerklärung einer respektablen Universität.
Aber in diesen Tagen werden wir über die konventionellen und sozialen Medien mit den unterschiedlichsten Behauptungen bombardiert. Der Trick dabei ist, korrekt einzustufen, bevor wir sie schlucken und bevor wir auf „gefällt mir“, „teilen“ oder „retweet“ klicken. Das ist das Ziel einer Bildungsinitiative, die von zehn Universitäten in den USA in diesem Frühling angestoßen wird.
Dieser neue Ansatz will, dass Studenten wie Faktenchecker denken und dabei lernen, wie diese arbeiten. „Wir haben uns der Medien- und Nachrichtenkompetenz bisher wie Rhetoriker genähert“, sagt Mike Caulfield. Er ist Direktor für vernetztes Lernen an der Washington State University im US-Bundesstaat Washington. In anderen Worten – Studenten lernen genaues Lesen und die Analyse von Elementen wie etwa den Ton einer Aussage. „Faktenchecker gelangen zum Kern einer Sache in 60 bis 90 Sekunden.“
Caulfield zufolge würden Faktenchecker „seitwärts“ lesen. Sie bewegten sich schnell vom Originaltext und öffneten eine Reihe von Tabs in einem Browser, um die Glaubwürdigkeit des Autors und der erwähnten Quellen zu beurteilen. Ein neues Arbeitspapier der Stanford Universität unterfüttert diese Prämisse. Die Forscher verglichen professionelle Faktenprüfer mit Historikern und Studenten im Vorstudium. Wenn sie Webseiten bewerteten und online nach Informationen suchten, „erlangen Faktenprüfer verbürgte Schlussfolgerungen in einem Bruchteil der Zeit“.
Mike Caulfield konzentrierte diesen Ansatz zu dem, was er „vier Bewegungen und eine Gewohnheit“ nennt. Hierzu veröffentlichte er kürzlich ein frei zugängliches Lehrbuch im Internet. Es zielt auf Hochschulstudenten ab, ist aber relevant für jeden.
Suche nach vorherigen Arbeiten: Man sollte danach suchen, ob jemand anderes eine vorliegende Behauptung bereits geprüft oder eine Zusammenstellung des Forschungsstandes vorgelegt hat. In Deutschland kann man das etwa bei Wikipedia, Correctiv oder stimmtdas.org tun.
Stromaufwärts zur Quelle gehen: Die meisten Inhalte im Netz sind keine Originale. Am besten geht man zur Originalquelle, um die Vertrauenswürdigkeit der Information zu verstehen. Handelt es sich um eine respektable wissenschaftliche Zeitung? Ist es ein Originalbeitrag eines anerkannten Mediums? Wird das nicht unmittelbar klar, folgt der dritte Schritt.
Seitwärts lesen: Sobald man zur Quelle der Behauptung gelangt ist, sollte man lesen, was andere über sie sagen (Publikation, Autor etc.). Die Wahrheit liegt in der Vernetzung.
Zurückgehen: Sobald man sich verliert, in eine Sackgasse gerät oder ganz woanders landet, sollte man zurückgehen und noch einmal beginnen.
Schließlich, so Caulfield, komme eine der wichtigsten Waffen der Faktenprüfung aus dem Inneren der LeserInnen: „Fühlen Sie starke Emotionen – Glück, Ärger, Stolz, Rechtfertigung – und dieses Gefühl treibt Sie dazu, eine ‘Tatsache’ mit anderen zu teilen, dann ist es an der Zeit innezuhalten.“ Sein Argument lautet: Alles, was die unteren Gehirnebenen (in den USA „Echsengehirn“) erreiche, diene der Umgehung unseres kritischen Denkens. Und diese Art der Anreize werde sehr oft von aktiven Wirkmechanismen der Täuschung geschaffen. „Wir bemühen uns, Studenten davon zu überzeugen, starke Gefühle als mentale Auslöser zur Faktenprüfung zu benutzen“, sagt Caulfield.