Bildersturm – über eine Reise nach Genf

Ausgabe 341

bildersturm genf Deutschland
Foto: Engin Korkmaz, Shutterstock

Bildersturm: Im Schweizerischen Genf drängen sich verschiedene Bilder ein. Hier ist Krieg und das Völkerrecht nie weit.

(iz). Vor meiner Abreise in die Schweiz besuche ich die Reiseabteilung einer Berliner Buchhandlung. Die Zeit drängt und ich wähle nach dem Zufallsprinzip den Titel „Fundstücke eines Bilderjägers“.

Auf dem Flug lese ich das Buch von Nicholas Bouvier; diesen Genfer Reiseschriftsteller kannte ich bisher nicht. Berühmt ist seine Reise von der Schweiz nach Afghanistan mit einem kleinen Fiat in den 1950er Jahren.

Bildersturm – in Genf mischt sich alles von Diplomaten bis Waffenhändlern

Seine Heimatstadt ist ein Eldorado der Ikonographen, die Bilder aus der Welt der Politik, Religion, Zoologie und Pflanzenkunde sammeln. Das Werk führt in einen Kosmos, erzählt langsam die Geschichten der Illustrationen, die der Sammler meist in alten Büchern gefunden hat.

Während das Flugzeug mit leichtem Zittern durch die Wolken gleitet, denke ich an den Bildersturm heute, der uns in den sozialen Medien überfällt, oft pornographisch Emotionen aufzwingt.

Anzeige:
Hier könnte Ihre Werbung stehen

Im Zeitalter der Reproduzierbarkeit – wie es Walter Benjamin formulierte – mangelt es vielen Photographien an einer Aura, an Distanz, an einem Geheimnis.

Genf ist zweifellos eine faszinierende Stadt. Hier mischen sich Einheimische mit Diplomaten, Touristen, Finanzjongleure, Menschenrechtler und Waffenhändler. Angezogen von der Idee einer Schweizer Neutralität siedelten sich hier zahlreiche internationale Organisationen an.

Es gibt eine lokale Debatte über die Zukunft dieser Parteilosigkeit. Man fragt in diesen Tagen, ob diese zeitgemäß ist. Oder es werden die Machenschaften diverser Banken kritisiert, die traditionell Geld aus trüben Quellen verwalten.

Mitten in der Stadt am Genfer See sehe ich in das klare Wasser und auf die Berge am Horizont, die im Wind klirrenden Flaggen – typische Elemente auf Schweizer Postkarten, eine Bilderbuchlandschaft. Am anderen Ufer thront das „Beau Rivage“, ein pompöses Hotel.

Ein Bild drängt sich auf. Ich sehe vor mir die Aufnahme des verstorbenen Ministerpräsidenten Uwe Barschel, der in einem der Hotelzimmer in der Badewanne tot aufgefunden und von einem Journalisten fotografiert wurde. Ein alter Medien-Skandal der 1980er Jahre, Mord oder Selbstmord, bis heute ungeklärt. Warum nur habe ich dieses Bild nicht vergessen?

Menschenrechtsrat Genf UNO

Foto: Ludovic Courtès, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Am Platz der Nationen

Mit dem Bus fahre ich zum Platz der Nationen. Dort ist ein Stand mit israelischen Flaggen aufgebaut. Ein Aktivist hebt ein Schild in den Himmel, auf dem steht „bring them home!“. An einer Wand Bilder von jüdischen Geiseln, Opfer des terroristischen Anschlages vom 7. Oktober: Männer, Frauen, Kinder. In den Gesichtern spiegelt sich die Verzweiflung.

Auf der anderen Seite des Platzes – direkt vor dem UN-Gebäude – stellen sich drei Jugendliche auf. Mädchen aus der Schweiz, denke ich. Sie werfen sich eine palästinensische Flagge über die Schultern, zeigen in Blickrichtung zum UN-Palast das Victoryzeichen.

Ein junger Mann macht ein Foto von ihnen. Ich bin sicher, dieser Moment der Solidarität wird in wenigen Minuten virale Aufmerksamkeit erregen.

Den Hügel hinauf gehe ich zum Museum des Internationalen Roten Kreuzes. In den Räumen wird die Entstehungsgeschichte der Organisation erzählt, Einsatzorte vergangener und aktueller Tragödien präsentiert.

Es gibt ein Zimmer, in dem man auf ein Meer von Karteikarten stößt; eine Art Ordnung, die versucht, das Schicksal von Millionen Kriegsgefangenen und Verschollenen aus dem 1. Weltkrieg zu verwalten.

Foto: Time Life Pictures | gemeinfrei

„Mindeststandard von menschlicher Würde“

Hoffnung vermittelt hier eine andere Erzählung, die Lehren aus verschiedensten Kulturen und Religionen integriert, die sich alle um einen Mindeststandard von menschlicher Würde drehen – gerade im Krieg. Die islamische Welt präsentiert ein Zitat aus einem andalusischen Rechtsbuch im Jahr 1280: „Die Vernichtung von Frauen, Kindern und Kranken ist verboten!“ 

Ich kaufe ein Buch von Henry Dunant, dem Gründer des internationalen Komitees des Roten Kreuzes im 19. Jahrhundert und setze mich in das Museumscafé. Ich lese seine Erinnerungen an Solferino.

Der Ort in Italien war Schauplatz einer Schlacht zwischen Franzosen und Österreichern am 24. Juni 1859. Auf einer touristischen Reise gerät der Autor zufällig in diesen Krieg mit abertausenden Toten, ein furchtbares Gemetzel voll barbarischer Brutalität.

Einer der wenigen Standards, die beiden Seiten akzeptierten, war es, keine Lazarette zu bekämpfen. Durant kümmert sich mit einigen Helfern um die Sterbenden, Verletzten, organisiert Krankentransporte und tröstet Verwundete. Die Schilderungen sind so realistisch, der Schrecken so eindrucksvoll, ganzheitlich beschrieben, wie es – wie ich finde – keine Bildersprache vermag.

Von diesen Erfahrungen wird später die erste Genfer Konvention geprägt und der Versuch gewagt werden, Meilensteine der Humanität zu setzen.

Gaze Krieg Bomben

Screenshot: YouTube

Sprachlosigkeit angesichts der Ereignisse

Ich habe die Zeit vergessen und begebe mich auf den Weg ins Hotel. Am Abend schalte ich die Nachrichten an. Ein Krankenhaus im Gazastreifen wurde von einer Rakete getroffen. Die Aufnahmen zeigen Verwundete, Tote, Männer, Frauen und schreiende Kinder. Es ist empörend. Unrecht. Man ist sprachlos. Das Schweigen dauert nur einen Moment.

Ich wechsle das Medium. In den sozialen Medien herrscht Wut. Es folgen Anschuldigungen und Theorien. Jeder fügt das Geschehen sofort in seine Deutung der Lage ein. Und Bilder lügen nicht – oder doch?

Später schaue ich mir Analysen an, begleitet von Endlosschleifen der furchtbaren Eindrücke. Welten: Welt 1 = ZDF, Welt 2 = BBC-News, Welt 3 = Al Jazeera. Auf welchem Planeten leben wir, denke ich? Spät am Abend bezahlt der Zuschauer den Preis für den Konsum der Bilderflut: Schlaflosigkeit. Es ist eine dunkle Nacht.

Am Morgen beschließe ich, das Leben fortzuführen. Was sonst? Die Fahrt in die Stadt führt wieder am Platz der Nationen vorbei. Er ist leer. Regen. Ich denke über die aktuellen Stellungnahmen des UN-Generalsekretärs nach.

Einerseits, die Verurteilung des Terrors der Hamas, andererseits, der Aufruf zur Wahrung des internationalen Rechts. Das Mindeste, was zu erwarten ist: die klare Unterscheidung zwischen Palästinensern und Terroristen. Sie ist, wie ich im Museum des Roten Kreuzes gelernt habe, die Basis für alle Zivilisationen. Dann regiert die Politik.

Was meine Identitäten angeht, bin ich flexibel und mutiere zum Touristen. Die Genfer Altstadt ist ein Besuch wert. In den Geschäften gibt es Schokolade und teure Uhren. In einer Gasse fasziniert mich das kleine Büro „zur Lösung internationaler Konflikte“. Der Blick durchs Fenster: Zwei Männer in Anzügen sitzen an ihren Laptops und arbeiten an wichtigen Problemen, immerhin.

An der Kathedrale entdecke ich das Museum der Reformation und entschließe mich zu einem spontanen Besuch. An der Kasse werden Bücher verkauft: „Luther und die Juden“ zum Beispiel. Die revolutionäre Idee des Protestanten: Gläubige lesen die Bibel künftig selbst; lobenswert, finde ich. Allerdings werden sie in seinen eigenen Reden herben antisemitischen Aussagen begegnen.

Die Nationalsozialisten werden sich Jahrhunderte später auf die ökonomischen Theorien Luthers berufen, in ihrer Gottlosigkeit komplett pervertieren und die schlimmste Judenverfolgung aller Zeiten organisieren. Nach der Verfolgung ist es für viele Juden nicht mehr denkbar, in Deutschland zu leben. Sie finden einen Fluchtort: Israel.

Das Museum ist sehenswert und zeigt – neben der Geschichte der Religionskriege in Europa – das humanitäre Engagement der AnhängerInnen dieses Glaubens. Auf Schaubildern sieht man die Expansion der evangelikalen Lehre in alle Welt. Im 19. Jahrhundert findet diese Verbreitung im Rahmen der Kolonialisierung statt: in Südafrika, im arabischen Raum, in Amerika und in China.

Ich denke wieder an den Gründer des Roten Kreuzes, Henry Dunant. Der Unternehmer betrieb damals ein Geschäft in Algerien, der Kolonie Frankreichs. Der Glaube an die Gültigkeit universeller Werte ist seit den Zeiten der Kolonialpolitik erschüttert.

Wie in jedem Glaubenssystem kämpft man gelegentlich gegen Zweifel an. Sicher ist, das Leben schafft  Widersprüche. Sie zu ertragen, gehört dazu.

Foto: A-One Rawan, Shutterstock

Nüchternheit ist schwierig

Am frühen Nachmittag treffe ich mich mit ein paar Juristen aus Europa und dem arabischen Raum. Normalerweise gehört zur Rechtswissenschaft, bevor ein Urteil gefällt wird, das nüchterne Studieren der Argumente der Anklage und der Verteidigung. Im Fall des israelisch-palästinensischen Konfliktes lassen sich politische Überzeugungen, Behauptungen, Emotionen und juristische Sachverhalte nur schwer trennen.

Der Streit um Begriffe, die Anwendung und Macht der internationalen Normen, die Grenzen des Widerstandsrechts und so weiter – all das gehört zum Geschäft. Und: die Politisierung des Rechts ist schon lange ein allgemeines globales Problem. Das Gespräch gipfelt in einer Bemerkung eines Kollegen: „Die Bilder des Konfliktes sprechen doch eine eindeutige Sprache!“

Hm, ist das so? Zum Glück beherrschen die Beteiligten die Kunst der Deeskalation. Eine Prügelei wäre aus Sicht der ehrwürdigen Profession trostlos. Man trennt sich – ernüchtert, aber freundlich.

In der Nacht fliege ich zurück nach Berlin. Auf den Straßen der Hauptstadt wird demonstriert. Dabei herrscht Gott sei Dank Konsens, dass jüdisches Leben in dieser Stadt beschützt wird. Was mir in den Sinn kommt, ist die Ironie der Geschichte:

Es war Bundeskanzlerin Angela Merkel, die in einer Rede vor der Knesset im Jahr 2008, die Sicherheit und Existenz Israels zur deutschen „Staatsräson“ erklärte. Die gleiche Politikerin wurde später von ihren konservativen Kollegen zerrissen, von uns bewundert, im Jahr 2015 eine Million Flüchtlinge ins Land gelassen zu haben. Ich erinnere mich nicht, dass die Kanzlerin, die zweifellos für beide Seiten der Medaille steht, von Muslimen je kritisiert wurde.

Die Gesellschaft, deren Teil wir alle sind, diskutiert heute, was diese Verpflichtung für das Existenzrecht des Landes faktisch bedeutet. Ich verstehe Angela Merkels Position nicht im Sinne eines Freibriefes für beliebige Reaktionen des israelischen Militärs oder der Regierung, sondern lese darin ein Bekenntnis zum internationalen Recht der UN und zu den Besonderheiten unserer Geschichte. Darum geht es in Deutschland.