Debatte: Das falsche Versprechen der Identitätspolitik

Ausgabe 327

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Viele Sekten in der Geschichte des Islam wurden durch importierte Ideen beeinflusst. Das geschieht auch in Form einer metaphysischen Ontologie oder Weltanschauung, durch die sie Islam interpretieren und verändern, was ihnen widerspricht. Das markanteste Beispiel aus der Frühgeschichte ist die Mu’tazila. Diese waren „Rationalisten“, die sich aus dem Unterricht des großen Gelehrten der Nachfolgegeneration (arab. salaf), Hasan Al-Basri, zurückgezogen hatten. Sie waren von der griechischen Philosophie beeinflusst. Das war der Rahmen, den sie zur Entwicklung einiger heterodoxer Überzeugungen nutzten – insbesondere ihre Vorstellung von der Erschaffenheit des Qur’an. Von Justin Parrott

(Muslim Matters). Sie waren insofern „Rationalisten“, als dass sie ihre philosophischen Überlegungen über den Qur’an und die Sunna stellten sowie über deren Verständnis durch die Salaf oder Ahlu’l-Sunna. Die schlimmsten unter ihnen legten den Fehler des Spekulierens ohne Anbindung an die göttliche Offenbarung an den Tag. Sie schufen die erste einflussreiche Inquisition (arab. mihna) im Islam.

Während dieser inhaftierten, folterten und töteten sie sogar Imame, die ihre falsche Doktrin von der Erschaffenheit des Qur’an ablehnten. Sie wurden unter anderen durch Imam Ahmad ibn Hanbal aufgehalten, der die Verfolgung geduldig ertrug und andere Gelehrte um ihn herum ermutigte, bis zur endgültigen Beendigung der Mihna durchzuhalten.

Heute ist der aufsteigende Trend in Amerika, der von Politikern und Unternehmen unterstützt wird, eine Ansammlung von Ideologien, die wir als postmodernistischen Identitarismus bezeichnen könnten. Der Postmodernismus ist eine diffuse Denkschule, die den Fokus der westlichen Aufklärung auf die Behauptung und den Anspruch einer wissenschaftlichen Objektivität ablehnt. Aus ihr entstanden intellektuelle Nebenzweige wie der Dekonstruktivismus oder der Anti-Fundamentalismus.

Es ist schwierig, sie eindeutig festzulegen und zu definieren. Ihre Natur ist absichtlich formlos. Ihre Einstellung wurde vom Anti-Fundamentalisten Stanley Fish erklärt, der schrieb, dass Dekonstruktivismus „mich von der Verpflichtung befreit, Recht zu haben… und nur verlangt, dass ich interessant bin“ (Stanley E. Fish, Is There a Text in This Class?). Auf Politik angewandt vertreten Postmodernisten die Ansicht, dass Wahrheitsansprüche keine objektiven Realitäten sind, sondern vielmehr soziale Konstrukte zur Unterdrückung anderer.

Identitarismus als eine politische Bewegung

Auf der anderen Seite ist der Identitarismus eine politische Bewegung, die teilweise vom marxistischen Gegensatz von Ausbeuter und Ausgebeuteten inspiriert ist. Während Marx vom letztendlichen Sieg des Proletariats (der Arbeiterklasse) über das Bürgertum ausging, unterteilen Amerikas Identitäre ebenso die Bevölkerung in zerstrittene Fraktionen aufgrund von Ethnie und Gender. Das fundamentale Problem dieser Bewegung oder extremen Identitätspolitik ist die Tendenz ihrer Führer, ihre Identitäten als Basis für politische Ansprüche zu „essenzialisieren“. (Karel Sima, From Identity Politics to the Identitarian Movement)

Mit anderen Worten: Sie beanspruchen ein Monopol auf die von ihr gewählte Identität und schließen alle Andersdenkenden nicht nur aus ihren Reihen, sondern auch aus der Identität selbst aus. Sie behaupten beispielsweise, dass Schwarze, die ihre Identitätspolitik zurückweisen, „politisch nicht schwarz“ seien.

Solche Bewegungen beruhen nicht auf universalen Prinzipien; auch wenn ihre Rhetorik durch unaufrichtige Appelle an allgemein verbindliche Werte wie „Fairness“ eingefärbt sind. Das ist keine Vision für eine harmonischere und gerechtere Zukunft. Es handelt sich hier um eine militante Nutzung von Identität für politische Ziele.

Identitäre und radikale Mu’tazila

Die historischen Parallelen zwischen den Rationalisten und heutigen Bewegungen sind offenkundig nicht exakt vergleichbar. Erstere akzeptierten anders als Postmodernisten eine objektive Wahrheit. Trotz aller Fehler waren nicht alle Extremisten. Nichtsdestotrotz können wir einige Gemeinsamkeiten ausmachen. Die wichtigste Parallele zwischen ihnen ist, dass amerikanische Muslime, welche sich der Identitätspolitik verschrieben haben, Theorien und Ideologien von nichtmuslimischen Akademikern und Aktivisten übernommen haben. Sie nutzen diese als Maßstab, anhand dem sie Islam beurteilen und verändern wollen – ungeachtet ob bewusst oder unbewusst.

So gibt es muslimische Akademiker in den Fakultäten der Islamstudien, welche die Homo-Ehe unterstützen und ihre Vorstellungen unter der Jugend verbreiten, obwohl es dafür keine Unterstützung in den schriftlichen oder rechtlichen Quellen gibt. Feministische muslimische Führungsgestalten versuchen die Einführung neuer Rituale in die Anbetung unter der Annahme, Männer seien natürliche und historische Unterdrücker von Frauen. Selbst die sektiererische Theologie der Nation of Islam einer angeborenen Überlegenheit von Schwarzen über Weiße feiert dank des Einflusses der Kritischen Rassentheorie (CRT) auf den linken Aktivismus ein Comeback. In jedem Fall bildet ein reduktives, postmodern inspiriertes Narrativ die Grundlagen und Begründung für die Zurückweisung der Sunna.

Ungeachtet dessen, ob die Trennungslinie Ethnie oder Gender ist, bemühen sich manche Muslime um Veränderung von grundlegenden islamischen Glaubensüberzeugungen und Praktiken, was von entscheidenden identitären Kreisen mitgetragen wird. Wie jene, die Imam Ahmad ibn Hanbal verfolgten, sind sie rücksichtslos und entschlossen. Sie wollen Macht. Und wenn sie diese haben, wird sie genutzt, um Widerspruch durch Einschüchterung, Verleumdung und Cancel-Kultur klein zu halten. Da sie nicht an absolute Wahrheit glauben, verschwenden sie nicht allzu viel Energie auf Überzeugungsarbeit von Öffentlichkeit und Kritikern.

Weil führende Identitäre jeden Wahrheitsanspruch als Machtspiel deuten, sind sie nachlässig bei Fakten. Das führte ihre PolitikerInnen und AktivistInnen auf einen Pfad der zynischen Unehrlichkeit. Diese Weltanschauung ist motiviert durch ein kosmisches Narrativ von Unterdrückung, und es muss um jeden Preis aufrechterhalten werden, selbst wenn dieser die Wahrheit ist. Es behauptet, eine essenzialisierte Identität wird immer unterdrückt und eine andere ist stets der Despot. Dann pickt man sich die „Rosinen“ unter den Fakten heraus oder verzerrt sie, um diese Erzählung zu stärken.

Das ist nicht Wahrheit, sondern „ihre“. In der Welt des etablierten Mainstreamjournalismus lässt sich beobachten, dass der narrative Rahmen feststeht, bevor die Fakten einer Geschichte überhaupt bekannt sind. Aus diesem Grund ist eine Mehrheit der Amerikaner mit einiger Berechtigung überzeugt, dass viele Journalisten unfähig sind, die Nachrichten „genau und fair“ zu berichten. Es wurde schon vor Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass Nachrichten nicht die Wirklichkeit sind. Und die Lage verschlimmert sich nur, seitdem der Identitarismus an Beliebtheit zunimmt.

Es sollte jetzt klar sein, dass das politische Bündnis der amerikanischen Muslime mit dieser Bewegung und ihren Köpfen ein erheblicher Fehler war. Er bestand nicht in spezifischen muslimischen Themen, um die sich dieses Phänomen angeblich sorgt, sondern in einer falschen Metaphysik in ihrem Kern. Es gibt keinen Weg, mit ihr zusammenzuarbeiten, ohne zumindest einigen ihrer Fehlannahmen und Narrativen über die Natur der Existenz zuzustimmen. Amerikanische Muslime haben diese vermeintlichen politischen Verbündeten so unterstützt, dass eine neue Generation junger Muslime so gründlich in die Bewegung hineingeführt wurde, dass ihnen der traditionelle orthodoxe Islam nur als weiteres rassistisches, patriarchalisches Unterdrückungssystem erscheint.

Islamfeindlichkeit und das falsche Schutzversprechen

Nach den Angriffen von 9/11 und dem Beschluss des Patriot Act gab es einen intensiven islamfeindlichen Druck auf amerikanische Muslime. Diejenigen, die in diesen furchteinflößenden Zeiten lebten, wissen, dass die Gemeinschaft nach einem Schutz vor der offenen Feindseligkeit suchte, die meistens vom rechten Rand kam. Diesen Hass gibt es bis zu einem gewissen Grad auch noch heute.

Dann kamen die Identitären mit dem Versprechen, die muslimische Identität vor der Fremdenfeindlichkeit der Rechten zu schützen sowie ihre religiösen Rechte angesichts einer drohenden Gefahr. Das war gelogen. Sie wollten niemals einen traditionellen orthodoxen Islam vor irgendetwas bewahren. Sie beabsichtigten, die amerikanische muslimische Identität in eine weitere unterwürfige Ethnie zu verwandeln – in einen weiteren permanenten blauen Wahlblock.

Wir sollten muslimische Gelehrte und Führungsgestalten nicht hart kritisieren, die auf das identitäre Versprechen eingegangen sind. Einsicht ist immer besser als Nachsicht. Politik ist eine chaotische, undurchsichtige Angelegenheit. Vielleicht waren sie naiv.

Aber wir können uns die Allianz mit dieser Bewegung nicht länger leisten. Sie wollen, dass unsere Kinder mit ihren nebulösen Werten aufwachsen und nicht unserem universalen Glauben und Prinzipien. Und sie werden sich gegen uns in dem Moment wenden, wenn es politisch passt; wenn in ihrer Basis der Angriff auf orthodoxe Muslime nicht mehr als „islamophob“ gilt. Sie werden niemals mit uns zufrieden sein, bis wir nicht genauso sind wie sie. (Muslim Matters)

Justin Parrott hat einen BA in Physik und Englisch von der Otterbein University, einen MLIS von der Kent State University und einen MRes in Islamwissenschaften von der University of Wales. Derzeit ist er Forschungsbibliothekar für Nahoststudien an der New York University in Abu Dhabi (NYUAD) und Forschungsbeauftragter des Yaqeen-Instituts. Bis 2013 war er ehrenamtlicher Imam für die Islamische Gesellschaft des Großraums Columbus. Derzeit ist er Fakultätsberater und ehrenamtlicher Imam für die die muslimische Studentenvereinigung der NYUAD.