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Die Spinne auf der Fensterbank: über Insekten im Qur’an

Ausgabe 315

Foto: tuanhafizi, Freepik.com

(iz). Jeden Tag schreibe ich eine neue Seite aus dem Qur‘an ab. In diesen Tagen, an einem warmen und sonnigen Sommertag, bin ich in meiner vierten Qur‘anabschrift am Vers 38 der sechsten Sure, genannt „das Vieh“, angelangt und schreibe auf Arabisch den Satz „Kein Tier gibt es auf Erden und keinen Vogel, der mit seinen Schwingen fliegt, die nicht eine Gemeinschaft bilden, wie ihr es seid.“

Während ich niederschreibe, beobachte ich, wie auf meiner Fensterbank kleine Schwärme von Eintagsfliegen umhertanzen. Anstatt wie sonst die lästigen Fliegen mit dem Taschentuch davonzujagen, fühle ich mich vom Qur‘an aufgerufen, einen Beitrag zur Erhaltung der Artenvielfalt zu leisten. Wenn ich schon keine Breitmaulnashörner retten kann, so will ich fortan die Fliegen ungestört fliegen lassen. Ich will sie künftig nicht mehr verscheuchen, sondern ihren Lebensraum auf der Fensterbank schützen. Dieses vermeintliche Ungeziefer soll für mich nicht länger lebensunwertes Leben sein und vor Insektiziden und chemischen Killerkeulen geschützt bleiben.

Ich lasse die winzigen Tierchen ein paar Tage gewähren, und sehe dann mit Staunen, dass über Nacht eine Spinne zwischen zwei Blumentöpfen ihr Netz ausgebreitet hat. Ich beobachte gespannt ihr Treiben und werde unversehens Augenzeuge, wie die Spinne sich ohne Hast eine Eintagsfliege nach der anderen einverleibt. Um die Entsorgung der Fliegen muss ich mir keine weiteren Sorgen mehr machen. Der Spinne kommt in der islamischen Heilsgeschichte eine besondere Bedeutung zu. Sie hat nicht nur einer ganzen Sure ihren Namen geliehen, sondern auch dem Propheten Muhammed – Friede sei mit ihm – das Leben gerettet. Als seine Todfeinde ihm nach dem Leben trachteten, hat er sich in einer Höhle versteckt. Eine Spinne ist ihm zur Hilfe gekommen und hat vor den Höhleneingang ein dichtes Netz gespannt. Wenig später standen seine Feinde vor der Höhle, sahen das Netz und dachten bei sich: Da drinnen kann er sich nicht versteckt haben! Die winzigen Fliegen leben meistens nur wenige Stunden und haben nur eine einzige Aufgabe, sich zu paaren und Nachwuchs hervorzubringen. Die Männchen sterben vor Erschöpfung, sobald sie ihre Arbeit getan haben. Die Weibchen legen sofort nach ihrer Befruchtung ihre Eier in die Blumentopferde ab und kehren danach, falls ihnen keine Spinne zuvorkommt, wieder zur Erde zurück, aus der sie Gott geschaffen hat. Das tun sie seit mehr als fünfhundert Millionen Jahren, bevor der Schöpfer uns Menschenkinder ins Leben gerufen hat. Ihm sei es gedankt, dass Er unserer Art zum Lieben, Zeugen und Gebären ungleich mehr Zeit und mehr Lust als unseren Mitgeschöpfen gegeben hat.

Der winzigen Fliege ist im Qur‘an gleichwohl eine große Aufgabe zugedacht. Sie zeigt den vermeintlich Allmächtigen die Grenzen ihrer Macht, wird doch von ihnen gesagt, sie seien trotz ihrer Prahlerei nicht in der Lage, auch nur eine einzige Fliege hervorzubringen. Die Fliege kommt im Qur‘an nur einmal vor, aber ebenso wie die Spinne hat auch die Ameise einer ganzen Qur‘ansure ihren Namen gegeben. Darin wird berichtet, dass der Prophet und König Salomon einmal sein ganzes Heer umgeleitet hat, um einer Ameisenkarawane nicht den Weg zu versperren.

An diesem salomonischen Beitrag zum Schutz der Insektenkulturen nehme ich mir ein Beispiel. Ich gehe einen Schritt weiter, öffne die Tür nach draußen und schaue, was ich auf dem Balkon für unsere kleinsten Mitbewohner tun kann. Mir fallen die auf dem Boden hin und her laufenden Ameisen ins Auge und bringen mich augenblicklich ins Schmunzeln. In meiner Kindheit galt es als Mutprobe, sich splitternackt in einen Ameisenhaufen zu hocken. Ich habe diese Probe aufs Exempel öfter bestanden, weil mich die Millipatzen nie richtig gepeinigt, sondern nur gekitzelt haben. Wenn die Chinesen schon eine neue Seidenraupenstraße bauen wollen, dann will ich auf meinem Balkon wenigstens den Ameisen ihre Straße frei machen. Sie sollen von nun an ungestört zwischen ihre Kolonie unter den Abfallkörben und ihren Blattlauskulturen auf den Blättern meines Feigenbaums hin und her pendeln. So kann ich zu guter Letzt auch noch die viel geschmähten Läuse mit in mein Mini-Artenrettungsprogramm holen.