Ein denkwürdiger Satz

Ausgabe 305

Foto: Michael Thaidigsmann | Lizenz: CC-BY-SA 4.0

Im aufgeheizten Herbst 2010 sprach Bundespräsident Wulff seinen berühmtesten Satz. Bis heute polarisiert er die Islamdebatte. Gehört die Religion zur Bundesrepublik Deutschland oder nur die Muslime?

(KNA/iz). Bundespräsident Christian Wulff war gerade drei Monate im Amt, schon deshalb wurde seine Rede zum 20. Jahrestag der Deutschen Einheit am 3. Oktober 2010 in Bremen mit Spannung erwartet. Überraschend deutlich widmete er sie dem Thema Integration. „Das Christentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland. Das Judentum gehört zweifelsfrei zu Deutschland“, stellte Wulff fest. Und dann: „Aber der Islam gehört inzwischen auch zu Deutschland.“ Der Satz des ansonsten eher glücklosen Wulff schlug ein und befeuerte die Islamdebatte. Zehn Jahre später scheidet er die Geister noch immer.

Bereits 2006 hatte der damalige Bundesinnenminister Wolfgang Schäuble (CDU) bei Eröffnung der Deutschen Islamkonferenz verkündet: „Der Islam ist Teil Deutschlands und Europas.“ Nun machte sich ein deutsches Staatsoberhaupt die Aussage in aufgeheizter Atmosphäre zueigen.

Er habe ein Signal für Vielfalt und gegen die Spaltung der Gesellschaft setzen wollen, erklärte Wulff später. Allerdings kam die Kontroverse dank seiner Rede erst recht in Fahrt. Hans-Peter Friedrich (CSU), Schäubles Nachfolger als Bundesinnenminister, hielt dagegen, es lasse sich „aus der Historie nirgendwo belegen“, dass der Islam zu Deutschland gehört. Andere Unionspolitiker schlossen sich an. Noch wich Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) einer klaren Positionierung aus. Laut einer „Yougov“-Umfrage war die Meinung der Deutschen dagegen eindeutig: Zwei Drittel lehnten Wulffs Aussage ab.

Dabei ging in der Verengung auf den einen Satz völlig unter, dass Wulff in Bremen durchaus Schattenseiten benannt hatte: „Und wir haben auch erkannt, dass multikulturelle Illusionen die Herausforderungen und Probleme regelmäßig unterschätzt haben: das Verharren in Staatshilfe, die Kriminalitätsraten und das Machogehabe, die Bildungs- und Leistungsverweigerung.“ Deutschland müsse sich von der „Lebenslüge“ verabschieden, kein Einwanderungsland zu sein. Grundlegend blieben aber die deutsche Sprache und gemeinsame Werte.

In den Folgejahren haderte die Politik auch weiter mit Wulffs Formel. Sein Nachfolger Joachim Gauck nahm sie 2012 quasi wieder zurück: „Der Islam ist nicht Teil unserer Tradition und Identität in Deutschland und gehört somit nicht zu Deutschland.“ „Die Muslime gehören aber sehr wohl zu Deutschland.“ Damit würdigte er die Tatsache, dass die große Mehrheit der hiesigen Muslime sich in Deutschland zuhause fühlt und Demokratie und religiöse Toleranz genauso wertschätzt wie alle anderen. Trotzdem wirkte die Unterscheidung zwischen ­Islam und Muslimen auf manche wie ein fauler Kompromiss.

Anfang 2015 drehte Merkel das Rad schon wieder in die andere Richtung, als sie Wulffs Diktum, wonach der Islam zu Deutschland gehört, beim Besuch des türkischen Ministerpräsidenten wörtlich wiederholte – „das ist so, dieser Meinung bin ich auch“, so Merkel. Die Ankunft Hunderttausender vorwiegend arabischer Muslime wenige Monate später und der Aufstieg der AfD gaben dem Thema dann zusätzliche Brisanz. Das zeigte sich auch im März 2018, als der neue Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) wiederum verkündete: „Der Islam gehört nicht zu Deutschland.“

Allen rhetorischen Karussellfahrten zum Trotz sind Ansätze dafür längst erkennbar. Der islamische Religionsunterricht an Schulen macht bundesweit Fortschritte; islamische Lehrer, Theologen und auch Imame werden vermehrt an deutschen Universitäten und Instituten ausgebildet. Der Staat kooperiert mehr oder weniger eng mit muslimischen Verbänden, auch wenn es bisher keine den Kirchen vergleichbaren Strukturen gibt. Am Ende dürfte die endlose Debatte sich von selbst erledigen: Laut einer Studie des Pew Research Center werden bis 2050 bis zu 20 Prozent der Bevölkerung in Deutschland islamischen Glaubens sein.