Ein Essay von Arif Agirbas

Ausgabe 207

(iz). Der Mensch muss das notwendi­ge Wissen beherrschen und das weni­ger Relevante nur soweit beherrschen, dass es ihn vom Erwerb des unverzichtbaren Wissens nicht abhält. Sich selbst kennen, heißt zu begreifen, dass man – wie jeder andere Mensch auch – mit Eigenschaften Allahs geschmückt worden ist. Wissenschaften dienen im Grunde dazu, dass der Mensch sich besser kennenlernt und durch Erkenntnis seines Selbst zu seinem Schöp­fer findet. Gemäß eines Hadith Scharif heißt es: „Wer sich selbst kennt, kennt seinen Schöpfer.“ (Quelle: Kaschfu’l-Khafa, 2/262)

In der Sure Ad-Dariyat (Vers 56) erfahren wir, dass Allah die Dschinn und die Menschen nur darum erschaf­fen hat, damit sie Ihm dienen. Mit dem Wissen, dass das (Er-)Kennen des Schöpfers einen zu gottesdienstli­chen Handlungen führt, hat ‘Abdullah Ibn ‘Abbas, einer der ältesten Qur’ankommentatoren, den Vers wie folgt ausgelegt: „Und Ich habe die Dschinn und die Menschen nur darum erschaffen, damit sie Mich kennen ­(sollen).“

Doch sollte der Mensch zunächst einmal sein eigenes Wesen kennenlernen. Maulana Dschalaluddin Rumi beschreibt jene, die nicht nach Erkenntnis von ihrem Selbst streben, wie folgt: „Welch ein Peiniger ist der, der hunderttausende Lehren beherrscht, aber nicht einmal sich selbst kennt. Selbst Hunderte von Edelsteinen weiß er mitsamt ihren Eigenschaften. Doch wenn es um sein eigenes Wesen geht, wandelt er sich zu einem Esel.“

Seine eigene Wesensart zu kennen bedeutet zugleich auch, „die Wirklichkeit des Menschen“ zu kennen. Doch wie kennen und beschreiben die großen Gelehrten des Islams den Menschen? Sajjid Muhammed El-Kayseri, ein Schaikh der Qadiri-Tariqat, beschrieb es wie folgt: „Auch wenn der Mensch nur eines von vielen Geschöp­fen zu sein scheint, ist er ein kleines Universum, welches das große Universum in sich birgt. Er wurde sowohl in seiner Gestalt als auch in seinem Wesen auf schönste Art erschaffen und gewinnt durch das Wissen über die göttlichen Weisheiten an Tugend und Würde. Er ist ein großes Exemplar der gesamten Erschaffung und der würdevollste Statthalter auf Erden. Wenn ein Mensch, mag er auch noch so gebildet sein, sich selbst nicht in dieser Weise kennt, weiß er nicht um den edelsten Diamanten, den er mit sich trägt.“

So sagte – der große türkische Dichter – Yunus Emre einst treffend:
„Wissen ist, Wissen zu erwerben.
Wissen ist ,sich selbst zu erkennen.
Wenn selber Du Dich nicht erkennst,
Was soll all das Wissen nützen?“

Wer sich mit den göttlichen Attributen, die sich in einem selbst ­offenbaren beschäftigt, findet auch einen Weg, der zum Schöpfer selbst führt. Er begreift, dass er allein durch Allah existiert, sich im tiefsten Inneren nach Ihm sehnt und durch Ihn spricht, hört und sieht. So führen alle Eigenschaften und Handlungen des Menschen im Grunde auf die Eigenschaften und Handlungen des Schöpfers zurück. Wer jedoch nicht lernt, seine eigene Beschaffenheit zu verstehen, entbehrt sich selbst die Chance, den Schöpfer verdientermaßen kennenzulernen.

In ‘Abdulqadir Al-Dschilanis „Futuh Al-Ghaib“ heißt es: „Ein kluger Mensch richtet seinen Blick zuerst auf seine eigene Beschaffenheit und seine Nafs (niederes Ego, Triebseele). Danach erst betrachtet er die weitere Schöpfung und findet darin Beweise für die Existenz und einzigartige Macht des Schöpfers.”

So ist der Schöpfer weder in Büchern noch in wissenschaftlichen Theorien zu finden. Der Ort, an dem man Ihn kennenlernt, liegt im eigenen Herzen. Ein Hadith Qudsi lautet: „Ich habe weder auf Erden noch im Himmel einen Platz gefunden, außer im Herzen des Menschen.” (Quelle: Kaschfu’l-Khafa: 2/256) Wer sich seinem Herzen zuwendet, wendet sich somit ­Allah selbst zu und nähert sich Ihm. Nach einer Erzählung Rumis, schickte eines Tages ein Sultan einen ­seiner Botschafter in eine ferne Stadt, in der er dem dortigen Sachwalter etwas zu überbringen hatte. Der Botschafter machte sich auf den Weg und erreich­te die Stadt nach einer anstrengenden Reise. Anstatt dem Sachwalter das Anvertrauen des Sultans zu überbringen, beschäftigte er sich anderweitig und nahm an wissenschaftlichen Versammlungen teil, horchte den Worten der Dichter und Denker, lief über den Markt, kaufte ein, führte anregende Gespräche und vergaß letztendlich die Erfüllung seiner Pflicht.

Als er schließlich in seine Heimat zurückkehrte und den Sultan besuchte, erzählte er was er alles erlebt habe, wie lehrreich die Reise für ihn war und wie sehr sie seinen Horizont erweitert habe. Erst als der Sultan nach der Übergabe seines Anvertrauens ­fragte, fiel dem Botschafter ein, was er vergessen hatte und entschuldigt sich darauf zutiefst beschämt. Die Antwort des Sultans dabei ist beachtenswert: „Ich habe dich für eine einzige Aufgabe in ein fernes Land geschickt. Du hast jedoch anstatt dieser einen Aufgabe zehn andere Dinge getan und bist wiedergekehrt, ohne den eigentlichen Zweck der Reise zu erfüllen. Nun bewerte dein Verhalten selbst!”