,

Ein Land im gesundheitspolitischen Ausnahmezustand

Foto: MQ-Illustrations, Adobe Stock

Bei Beginn der lange erwarteten Impfkampagne könne es „ruckeln“, sagte der deutsche Gesundheitsminister vor wenigen Wochen und erweckte den Eindruck, er wisse bereits, dass der Schub seines Amtes die Verwaltungsbehörden auf Trab bringen werde. Es ist derselbe Minister, der vor genau einem Jahr, als die ersten Berichte Besorgnis auslösten, überlegen auftrat: Ein Virus in China werde den Deutschen nichts anhaben können. Es sei alles im Griff. Kommentar von Hans-Rüdiger Minow

Berlin (GFP.com). Wir wissen erst heute, dass das Virus bereits in Italien grassierte, schon seit November 2019, und der überlegene Auftritt des Gesundheitsministers in der Sache naiv, in politischen Worten: Inkompetenz und Showgeschäft war. Dieses schlechte Theater setzt sich Tag für Tag fort. Nach der kurzen Erholung im vergangenen Sommer, die Pfleger und Ärzte mit Erschöpfung bezahlten, hat die deutsche Regierung die Hoffnung genährt, sie werde die Seuche durch Impfungen drosseln.

Aber nun sind wir Zeugen eines völligen Scheiterns der „Impfstrategie“, nicht nur in Deutschland. Die Exekutive jener tollen EU, die Berlin dominiert, ist nicht in der Lage, dem historischen Auftrag, der ihr Dasein begründet, Genüge zu tun: Lebensvorsorge zum Schutz der Gesellschaft.

Es kann nur bestürzen, dass die EU, unter deutscher Ägide, mit Pharmakonzernen, die sie alimentiert hat, um Impfstoffe streitet: um Verträge und Preise, um geschwärzte Passagen und Mehrdeutigkeiten über Liefertermine, während Millionen, die geimpft werden wollen, die zeitliche Spanne ihrer Hoffnung auf Schutz Tag für Tag dehnen. Dieses Versagen macht aggressiv. Es reduziert das Versprechen, Leben zu schützen, das die Exekutive als die einzig berechtigte Ordnungsgewalt am Polizeiknüppel trägt, auf eine staatliche Drohung: Wut und Empörung in den nächtlichen Straßen niederzuhalten, wie kürzlich in Holland.

No reply

Wut und Empörung entladen sich ziellos oder werden Verzweiflung, wenn die Exekutive das zu schützende Leben auflaufen lässt: in den Ansageschleifen nicht erreichbarer Ämter. Drücken Sie 2, ersatzweise 3, Sie erreichen uns später. Hier wird die Hoffnung auf Schutz des gefährdeten Lebens zu einem einsamen Wunsch von betagten Senioren und von Vorstadtbewohnern „mit Migrationshintergrund“, die bei der Internetsuche im Englischen schwach sind: Automatische Antwort. Please don’t reply. Man ist dies gewöhnt, wenn es den Alltag und den banalen Verkehr mit Behörden betrifft. Aber jetzt geht es um mehr. Es geht um Leben und Tod.

Grundwidersprüche

Wie die Exekutive ihre eigene Verpflichtung zum Leben einschätzt, ihre tiefere Bindung, zeigt ein Blick an die Grenzen der formidablen EU. Ihr ist das Leben der Menschen, die im Mittelmeer sterben oder in Lagern ohne Wasser und Dächer, in Kälte und Schnee den Winter verbringen, kein wirkliches Schutzgut, das sie zwingend verteidigt. Sie behandelt die Rufe der verzweifelten Menschen mit Ansageschleifen nach hiesiger Art: Automatische Antwort. Please don’t reply. Dies führt zu dem Schluss: Die Inkompetenz der Exekutive bei der Abwehr der Seuche entspringt keinem Mangel an fachlichem Wissen oder ethischem Rat. Davon hat sie genügend. Genau wie beim Scheitern der Lebenserhaltung in den südlichen Lagern entspringt ihr Versagen den Grundwidersprüchen im Ordnungssystem.

Freie Marktkonkurrenz

Eine Exekutive, die die staatliche Ordnung als den sichernden Rahmen freier Marktkonkurrenz und für „Wachstum“ versteht, muss das Anrecht auf Leben mit dem Anrecht des Marktes auf „Wachstum“ abgleichen. Sie muss balancieren. Das geht solange gut, wie das Leben besteht und das Leben am Markt Proviant nehmen kann.

Geht der Ausgleich verloren, wie prekär er auch sein mag, wird die staatliche Ordnung in Zwänge geraten. Sie wird den Rang, der dem Leben vor allem anderen gebührt, deutlich bestimmen und aufgrund des Versprechens, das Leben zu schützen, als die einzig berechtigte Ordnungsgewalt festlegen müssen. Gelingt ihr das nicht mit den rechtlichen Mitteln der Normalität, muss sie bereit sein, im Ausnahmezustand die bestehende Ordnung neu zu justieren – oder aufgeben müssen.

Taumeln und Zögern

Man kann den Eindruck gewinnen, dass der Exekutive ihre eigene Lage nicht völlig bewusst ist. In den südlichen Lagern überlässt sie Leben und Tod der Wohltätigkeit, in den Zentren der Seuche versucht sie dem Tod entgegenzutreten, aber lässt einen Spielraum, den der Markt abverlangt, ohne das Leben als ein endliches Schutzgut kompromisslos zu sichern.

Ihr Taumeln und Zögern in den Grundwidersprüchen des Ordnungssystems lässt nicht erwarten, dass in diesem System die Bewahrung des Menschen und seiner Natur aussichtsreich wäre, ja man könnte fast meinen, dieses Ordnungssystem befände sich längst im Ausnahmezustand, bevor es aufgeben muss.