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Früherer Verfassungsrichter Mahrenholz gestorben

Foto: Bundesarchiv, via Wikimedia Commons | Lizenz: CC BY-SA 3.0

Das Grundgesetz hielt er für robust. Zu seiner Auslegung hat Ernst Gottfried Mahrenholz viel beigetragen. Jetzt wird der frühere Vizepräsident des Bundesverfassungsgerichts im Alter von 91 Jahren gestorben.

Hannover (KNA) Auf das Grundgesetz ließ Ernst Gottfried Mahrenholz nichts kommen. Auf die Frage, was er an der deutschen Verfassung ändern würde, antwortete er vor wenigen Jahren im Interview des „Göttinger Tageblatts“: „Wohl nichts. Es hat sich bewährt.“

Der Staatsrechtler hielt die Freiheiten des Grundgesetzes hoch – auch gegen den Mainstream. Auch seine Partei, die SPD, konfrontierte er mit unbequemen Meinungen. Beobachter beschrieben ihn als bis zuletzt neugierigen, wachen Geist. Jetzt – bereits am 28. Januar – ist der Staatsrechtler im Alter von 91 Jahren in Hannover gestorben, wie die „Hannoversche Allgemeine“ unter Berufung auf seine Familie berichtete. Von 1981 bis 1994 war der gebürtige Göttinger Richter am Bundesverfassungsgericht, von 1987 an als dessen Vizepräsident. „Gegenrede“ hieß die Festschrift, die 1994 bei seinem Ausscheiden veröffentlicht wurde.

Der Titel umreißt treffend sein Denken und Wirken. Mit Sondervoten hat Mahrenholz oft seine abweichende Position formuliert: bei heiklen Themen wie der Stationierung von Mittelstreckenraketen oder der Parlamentskontrolle der Nachrichtendienste etwa. In den umstrittenen Entscheidungen über Kriegsdienstverweigerung, Parteienfinanzierung und den Paragrafen 218 war er ebenfalls auf der Seite der Minderheit. Beim Urteil von 1993, das einen Schwangerschaftsabbruch für rechtswidrig, aber für nicht strafbar erklärte, plädierte er für die Letztverantwortung der Frau und stellte skeptisch fest, dass sich der Gesetzgeber „an der Grenze der Regelungsfähigkeit eines Lebensbereichs“ bewege.

Abweichende Meinungen kennzeichnen auch das Auftreten von Mahrenholz nach seiner Zeit in Karlsruhe. Mehrfach sprach er sich dafür aus, dass der Bundespräsident direkt vom Volk gewählt werden sollte. Im „Kopftuchstreit“ erklärte er, ob eine Lehrerin muslimischen Glaubens im Unterricht Kopftuch tragen dürfe, sei im Einzelfall zu entscheiden. „Religionsfreiheit ist ein hart erkämpftes deutsches Kulturgut, wir sollten es nicht aufs Spiel setzen.“

Der Spross eines hannoverschen Bauern- und Pastorengeschlechts studierte in Göttingen und in Tübingen Jura, nebenbei Theologie und Philosophie. Anschließend wurde der Jurist Referent des damaligen niedersächsischen Ministerpräsidenten Hinrich Wilhelm Kopf. Als Fachmann für Kirchenrecht bereitete der Protestant 1964 das niedersächsische Konkordat mit dem Vatikan vor, worauf ihn Papst Paul VI. zum Ritter des Silvester-Ordens ernannte. Danach folgten fünf Jahre als Direktor des NDR-Funkhauses Hannover. 1970 wurde er Staatssekretär und Chef der Niedersächsischen Staatskanzlei unter Ministerpräsident Alfred Kubel, der ihn 1974 ins Amt des Kultusministers berief. 1976 wurde er als Abgeordneter in den Landtag gewählt.

Kennzeichnend für sein dreizehnjähriges Wirken in Karlsruhe wurde sein Eintreten für die Rechte von Straftätern, für die unbedingte Aufrechterhaltung der Unschuldsvermutung. In einer seiner letzten abweichenden Voten forderte Mahrenholz eine Begrenzung der lebenslangen Freiheitsstrafe auf 20 oder 25 Jahre. Auch ein Mörder sollte wissen, wie lange „lebenslang“ dauere.

Im Interview erinnerte er sich vor wenigen Jahren des ersten Falls, mit dem er in Karlsruhe befasst war. Es ging um einen Mann, der wegen Beihilfe zum 9.000-fachen Mord an Juden zu lebenslanger Freiheitsstrafe verurteilt worden war. Nach 24 Jahren hatte er eine oder zwei Wochen Urlaub begehrt, um seine Familie zu besuchen. Das wurde von den unteren Instanzen abgelehnt. „Wir haben nach schwierigen Abwägungen entschieden: Trotz all seiner Vergehen verdient auch er, in seinem Mensch-Sein behandelt zu werden und einen Hafturlaub zu bekommen.“ 

Auch nach seiner Karlsruher Zeit blieb der Jurist Spezialist für durchdachte Gegenreden. Als Präsident der Deutsch-Israelischen Juristenvereinigung, Präsidiumsmitglied der Deutschen Sektion der internationalen Juristenkommission und Vorstandsmitglied der Gottfried-Wilhelm-Leibniz-Gesellschaft war er auch nach der Pensionierung ein gefragter Mann. Die Befassung mit dem Holocaust war ein Lebensthema. Obwohl er einerseits die umfassende Verantwortung der Deutschen für Auschwitz und die Shoah betonte, hat er anderseits etwa die Siedlungspolitik der Israelis im Westjordanland mit deutlichen Worten kritisiert.