Ein Mann, der polarisiert

Ausgabe 251

Foto: Präsidialamt der Türkei

(iz). Das Duell Jan Böhmermann gegen Recep Tayyip Erdogan geht in die nächste Runde. Weil Kanzlerin Angela Merkel das Strafverlangen des türkischen Präsidenten wegen der Schmähkritik des TV-Moderators zugelassen hat, darf sich nun die deutsche Justiz mit dem Fall beschäftigen. Manch einer wird sich fragen, warum Erdogan gegen satirische Beiträge in Deutschland vorgeht, die doch eigentlich keine Gefahr für seine Macht in der Türkei bedeuten dürften. Warum tickt dieser Erdogan so, wie er tickt?
Es ist in diesen Tagen nicht einfach, über Erdogan zu schreiben. Gerade ein türkischstämmiger Journalist wie ich kann eigentlich nur ins Fettnäpfchen treten. Entweder wird einem vorgeworfen, Propaganda für die türkische Regierungspartei AKP zu betreiben – oder man wird als Vaterlandsverräter verurteilt, wenn man zum Beispiel das Vorgehen von Erdogan gegen den Beitrag der Satire-Sendung „Extra 3“ oder Jan Böhmermann hinterfragt. Beide Seiten polarisieren. Ich stehe zwischen beiden Lagern und schüttle mit dem Kopf. Eigentlich nehme ich die Rolle eines Übersetzers ein und versuche, die Sorgen, Bedenken und die Kritik der einen Seite der anderen zu vermitteln – aber ich merke, wie schwer, ja vielleicht unmöglich dieses Unterfangen ist.
Er hat eine Ära geprägt
Für die einen ist Erdogan Symbol einer selbstbewussten Türkei, andere dagegen sehen in ihm einen Autokraten, der die Opposition verfolgt, den IS unterstützt und die Meinungsfreiheit unterdrückt. Wie unterschiedlich die Meinungen über Erdogan auch ausfallen, eines steht fest: Er hat eine ganze Ära geprägt und steht für einen tiefgreifenden Wandel der Türkei. Die politische Opposition in der Türkei und auch einige Politiker in Deutschland wie Cem Özdemir von den Grünen deuten immer wieder an, dass Erdogan und die AKP nur durch undemokratische Mittel an der Macht bleiben. Aber in der Türkei ist er so beliebt wie kein anderer Politiker, und das nicht ohne Grund, schließlich hat sich die Türkei unter seiner Führung seit 2002 ökonomisch und politisch entwickelt.
Erdogan ist eine Gestalt, die geprägt ist von den Schwierigkeiten der modernen Türkei. Der Zerfall des Osmanischen Reiches und die Gründung der modernen Türkei 1923 durch Kemal Atatürk haben in der Gesellschaft tiefe Spuren hinterlassen. Das Land hat diesen Bruch noch lange nicht verarbeitet, und dies belastet sowohl die politische Kultur als auch den Umgang mit gesellschaftlichen Fragen und Problemen. Denn Atatürk und das kemalistische Establishment haben mit allen Mitteln der Repression versucht, das Volk von der osmanischen Tradition zu trennen. Das hat über die Jahrzehnte Komplexe im Volk geschürt und eine gesunde Entwicklung erschwert.
Erdogan, Jahrgang 1954, ist eine schillernde Figur. Er wuchs in Kasimpasa auf, einem rauen Stadtviertel von Istanbul. Obwohl ein unbeschriebenes Blatt, gewann er 1994 überraschend die Wahlen zum Oberbürgermeister von Istanbul. Dass er ein Mann aus dem einfachen Volk ist, zeigt er immer wieder. Er besucht Bürger in Armenvierteln, trinkt mit ihnen Tee, hört sich ihre Sorgen an. Das tun auch andere Politiker. Aber anders als bei ihnen wirkt es bei Erdogan authentisch. Dafür haben die Menschen ein Gespür. Insbesondere bei den in Deutschland lebenden Türken ist er sehr beliebt, weil er sich anders als seine Vorgänger um sie kümmert.
Zu Beginn eine neue Hoffnung
Als politischer Ziehsohn von Erbakan – ein religiöser und konservativer Politiker, der vor allem in den 1980er und 1990er Jahren die türkische Politik prägte –, entwickelte er sich zum charismatischen und ehrgeizigen Politiker. Gerade seine Verdienste um die Entwicklung der Stadt Istanbul zu einer modernen Metropole wurden von allen politischen Lagern anerkannt. In den Jahren zuvor hatten Istanbul große Probleme geplagt, von einer desaströsen Wasserversorgung über eine mangelhafte Infrastruktur bis hin zu Korruption und Misswirtschaft.
Im Schatten von Erbakan entwickelte sich Erdogan in den 1990er Jahren auch landesweit zu einem wichtigen Politiker. 2001 brach er allerdings mit Erbakan und gründete die AKP. Schnell kam die Partei an die Regierung, weil sie es unter Erdogans Führung geschafft hatte, die tiefen ideologischen Gräben in der Bevölkerung zu überwinden. Trotz seiner religiös-konservativen Ausrichtung gelang es ihm, ganz unterschiedliche gesellschaftliche Schichten zu erreichen und die Kultur der Polarisierung und Feindbilder zu überwinden, die seit der Gründung der Türkischen Republik das Land lähmten.
Gerade in Europa und vor allem in Deutschland galten die AKP und Erdogan in den ersten Regierungsjahren als neue Hoffnung auf eine demokratische Entwicklung der Türkei, für eine Versöhnung mit der eigenen Vergangenheit. Erdogan stand für Reformen, wirtschaftlichen Fortschritt und vor allem für das Aufbrechen alter Tabus und die Überwindung von Konflikten wie etwa der Kurdenfrage, die als unüberwindbar galt. Um dies zu schaffen, musste Erdogan die Vorherrschaft der Armee brechen, die über Jahrzehnte die Politik in Ketten gelegt hatte.
Demokratische Defizite, die Verfolgung religiöser Menschen und Minderheiten, wurden in dieser Zeit vom Westen weitgehend ignoriert, weil die strategische Partnerschaft mit dem NATO-Mitglied Türkei Priorität hatte. Um diese tiefsitzende Vorherrschaft der Armee und eines kemalistischen Establishments zu brechen, das sich im Staat festgesetzt und keinen Bezug mehr zur Bevölkerung hatte, ging Erdogan eine Allianz mit der Gülen-Bewegung ein. Diese scientology-ähnliche religiöse Bewegung hatte in den vergangenen Jahrzehnten sowohl die Polizei weitestgehend unter Kontrolle, als auch die Bürokratie und die Justiz.
Nach Gezi
Diese Bewegung des Predigers Fetullah Gülen war schon immer bekannt für seltsame Allianzen. Die sektenähnliche Bewegung ging sogar Allianzen mit der kemalistischen und eher religionsfeindlichen Armeeführung ein. Sie erkannte früh das Potenzial der AKP und wandte sich der Partei zu, um ihre politische Macht zu sichern. Und Erdogan brauchte sie, um die verkrusteten Machtstrukturen der Türkei aufzubrechen. Doch diese Liaison verlief nicht lange harmonisch. Sie wollte mehr Macht und Einfluss, sammelte in Stasi-Manier Material von korrupten AKP-Politikern, nicht, weil sie wirklich gegen Korruption vorgehen wollte, sondern, um es als Druckmittel gegen die Regierung einzusetzen.
Heute kann man mit Recht das rigorose Vorgehen Erdogans gegen die Gülen-Bewegung kritisieren. Denn es werden nicht nur aus gutem Grund Gülen-Anhänger aus dem Staatsapparat entfernt, weil sie gegen die staatliche Souveränität arbeiten. Mittlerweile hat die Auseinandersetzung mit der Gülen-Bewegung Züge angenommen, die einer Hexenjagd gleichen. Wer einem Konkurrenten schaden will, braucht nur das Gerücht zu streuen, er sei ein Gülen-Anhänger.
Als ich in dieser kritischen Phase der Auseinandersetzung zwischen der Gülen-Bewegung und der AKP in der Türkei war, habe ich mit sehr unterschiedlichen Leuten darüber gesprochen. Mein Cousin, selbst ein linker Akademiker, hat mich mit seiner Einschätzung überrascht: Er vertrat die Meinung, dass Erdogan nicht anders könne, als – für unsere Augen – repressiv und mit aller Härte gegen diese Bewegung vorzugehen, weil sie nicht Erdogan, die Regierung oder eine bestimmte Partei ins Visier genommen hätten, sondern das türkische Staatssystem. Dies möge nicht den demokratischen Standards Europas entsprechen, aber in bestimmten Lagen müsse man Prioritäten setzen, denn ansonsten gäbe es nur Chaos und Anarchie.
Der Konflikt mit der Gülen-Bewegung und dazu noch die Unruhen während der Gezi-Park-Proteste haben Erdogan und die regierende AKP nachhaltig verändert. Zu Beginn waren die Gezi-Park-Proteste eine friedliche Bewegung, aber schnell sprangen extremistische marxistisch-kommunistische Bewegungen auf den Zug auf und okkupierten diese Protestbewegung. Das unverhältnismäßige Vorgehen der Polizei zu Anfang der Demonstrationen hat eben diese Eskalation heraufbeschworen. Die Gewaltexzesse, die darauf folgten, sind bekannt. Linke Extremisten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei und die Polizei ging ebenso hart gegen alle anderen Demonstranten vor. Dies alles spiegelt die Polarisierung und Zerfahrenheit der türkischen Gesellschaft seit der Republik­gründung durch Atatürk wieder. Immer wieder wird die Türkei durch heftige Auseinandersetzungen zwischen politischen, ethnischen oder religiösen Gruppen erschüttert.
Die PKK nutzte die Friedensgespräche
Insbesondere mit den mutigen Schritten in der Kurdenfrage ist Erdogan aber der Politiker, der versucht hat, die Zerfahrenheit zu überwinden. Während die kemalistisch-säkularen Regierungen vor Erdogan in der Kurdenfrage auf Konfrontation gesetzt und sogar die Existenz der Kurden geleugnet hatten, hat Erdogan in den ersten Regierungsjahren dieses Tabu gebrochen. Das ging sogar so weit, dass indirekte Gespräche mit der Terrororganisation PKK geführt wurden, die seit den 1980er Jahren verantwortlich für Tausende Tote ist und in Europa verboten ist. Die kurdische Sprache wurde anerkannt, kurdische Medien zugelassen. Dies alles war zuvor untersagt.
Nach dem Bruch mit Gülen war das Scheitern dieser Friedensgespräche mit der PKK ein zweiter Dämpfer für Erdogan. Heute wissen wir, dass die PKK die Friedensgespräche dazu genutzt hat, sich neu zu organisieren und Waffen zu horten. Die monatelangen Kämpfe im Südosten der Türkei haben große Waffendepots zum Vorschein gebracht.
Erdogan weiß, dass dieser Konflikt militärisch nicht zu lösen ist. Und dennoch geht der Kampf der türkischen Sicherheitskräfte gegen die PKK noch immer weiter. Dabei muss sich Erdogan auch die Frage gefallen lassen, ob die Einsätze von Seiten der Regierung immer verhältnismäßig sind. Die Notleidenden sind in jedem Fall die Bewohner dieser Viertel, die vor diesen monatelangen Kämpfen flüchten mussten. Was nicht bedeutet, dass die AKP gerade im Südosten auch unter den Kurden noch immer zahlreiche Wähler hat, und auch im Kabinett Ministerposten mit Kurden besetzt sind. Gerade bei den vergangenen Wahlen hat die vermeintlich kurdische Partei HDP eine Million Stimmen an die AKP verloren – die Quittung für die fehlende Distanzierung.
Ein Paranoiker?
Nach diesen Rückschlägen haben Erdogan und seine AKP paranoide Neigungen entwickelt. Wenn man sich die Rhetorik Erdogans heute anschaut, ist der Elan der ersten Regierungsjahre nicht mehr da. Er erzeugt das Gefühl, die Türkei sei in einem Belagerungszustand, und jeder, der Kritik übt, wolle das Land zerstören. Erdogan und die AKP-Führung glauben, hintergangen worden zu sein, und flüchten sich selbst in eine Politik, die eben nicht die Polarisierung in der türkischen Gesellschaft überwindet. Diese Entwicklung fällt auch vielen AKP-Politikern auf, sie scheuen sich aber, ihre Kritik in der Öffentlichkeit zu teilen. Zu groß ist die Wahrscheinlichkeit, als verkappter Gülen-Anhänger politisch vernichtet zu werden. Dieser wahnhafte Zustand droht aber das zunichtezumachen, wofür die AKP stand. Die mittlerweile weitverbreitete Beratungsresistenz und Realitätsferne des Regierungschefs spielt eben jenen Kräften in die Hände, die immerzu davon reden, dass Erdogan das Land schleichend islamisieren und zu einem neuen Iran machen wolle.
Eine weitere Erklärung für das Verhalten von Erdogan, das einige als selbstherrlich ansehen, ist die schwache Opposition. Das hat nicht etwa damit zu tun, dass Erdogan oder die AKP die Opposition unterdrücke. Diese kritisiert zwar die Regierung, legt aber viel zu häufig keine eigenen Konzepte vor. Längst entwickelt sich innerhalb der Regierung ein opportunistischer Flügel – Nebenerscheinungen einer Partei, die lange an der Macht ist. Es ist ein offenes Geheimnis, dass nicht wenige Berater um Erdogan nur das sagen, was er gerne hören will. Gerade die klugen Köpfe ärgern sich darüber am meisten. Es wird Zeit, dass Erdogan den Rat dieser Leute, die es gut meinen, anhört. Ansonsten läuft er Gefahr, das bereits Erreichte nachhaltig zu schädigen.
Dünnhäutig
Das gilt auch für seine Reaktion auf den Beitrag von „Extra 3“ und das Schmähgedicht von Böhmermann. Aus dem Affekt heraus unüberlegt zu poltern, bestätigt manchmal die Feindbilder, durch die man sich unfair behandelt fühlt. Erdogan und sein Umfeld reagieren auf derartige Kritik oder Angriffe immer dünnhäutiger und realisieren nicht, dass dadurch das Problem nur größer wird. Man mag bei der eigenen Klientel vielleicht als unerschrocken und mutig gelten, aber ein Staatspräsident muss auch im Blick haben, wie dieses Auftreten von außen wahrgenommen wird.
Trotzdem dürfen jene in Europa, die schnell von einer „Diktatur“ sprechen, die gesellschaftlichen Verhältnisse der Türkei nicht außer Acht lassen. Während man Atatürk als Republikgründer romantisiert, obwohl er despotische und undemokratische Facetten hatte, Minderheiten verfolgte und ein autokratisches System etablierte, darf man Erdogan nicht pauschal verteufeln. Und Erdogan wie auch viele hier lebende Türken, die ihn wählen, dürfen nicht bei jeder Kritik entweder beleidigt sein oder wieder eine Verschwörung wittern.
Seine alte Souveränität und Gelassenheit würde Erdogan heute ganz gut tun.