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Einbruch der Wirklichkeit

Ausgabe 250

Foto: Fotomovimiento | Lizenz: CC BY-SA

(iz). Auf seinen Lorbeeren hat sich Navid Kermani nicht ausgeruht. Unmittelbar vor und nach seiner Frankfurter Friedenspreisverleihung im Oktober 2015 war er zusammen mit dem spanischen Magnum-Photographen Moises Saman auf der „Balkanroute“ unterwegs. Er wollte sich ein eigenes Bild von den Strapazen der Menschen machen, die zu Hunderttausenden den Schlachtfeldern in ihren nahöstlichen Heimatländern entfliehen, um in Europa, vor allem in Deutschland, Schutz vor Krieg, Hunger und Elend zu suchen.
Kermani hat den Weg der Flüchtlingstrecke in entgegengesetzter Richtung bereist, von Budapest durch die Balkanländer, über die griechische Insel Lesbos, bis hinüber an die türkische Westküste, von wo aus die Schlauchboote zu ihrer gefährlichen, von Schleppern und Schmugglern organisierten Fahrt über die Ägäis starten.
Die Reise des Dichters hat sich gelohnt, zumindest für seine Leser. Entstanden ist ein Meisterstück engagierter, eingreifender und packender Literatur; eine Reportage, die unter die Haut geht und deren Bilder sich ins Gedächtnis einnisten, viel stärker als es flüchtige Film- und Fernsehberichte zu tun vermögen. Kermani belässt es nicht bei bloßer Berichterstattung, er mischt unter seine Beschreibung persönliche Betrachtungen und politische Analysen und vermag so das Gewissen seiner Leser anzusprechen, ohne Belehrungen zu erteilen und Moralpredigten zu halten.
Er geht ganz nah an die Menschen heran, bewahrt aber die Schamgrenze und achtet die Würde jedes einzelnen, mag er noch so sehr von Elend geprägt sein. Aufgrund seiner persischen und afghanischen Sprachkenntnisse gelingt es ihm, ungezwungen, vor allem mit jungen Flüchtlingen aus Afghanistan, Irak und Syrien ins Gespräch zu kommen. Sie machen aus ihren Fluchtgründen keinen Hehl und sprechen beredt von Deutschland als ihrem Sehnsuchtsort.
Navid Kermani beschönigt nichts. Er verteilt Lob und Tadel. Er schont auch die eigenen Glaubensbrüder nicht, unter ihnen die Leiter der Moscheen an der türkischen Küste, die die nackte Not der Asylsuchenden erbarmungslos ausnutzen. Er nennt die Verantwortlichen für die andauernden Kriege im Nahen und Mittleren Osten beim Namen. Nicht nur der Westen ist schuld, sondern auch die arabischen Potentaten, die gern ihre Hände in Unschuld waschen.
Der Autor ordnet die Fluchtbewegungen in die aktuelle Weltpolitik und in das gesamte Weltgeschehen ein. Sein Fazit für Deutschland: „Es herrscht Krieg an den südlichen und östlichen Grenzen unseres Wohlstandsghettos, und jeder einzelne Flüchtling ist dessen Bot. Sie sind der Einbruch der Wirklichkeit in unser Bewusstsein.“ Will sagen: Unser Land hat als Exportnation jahrzehntelang vor allem von den positiven Auswirkungen der Globalisierung profitiert.
Jetzt bekommen wir die andere Seite zu spüren. Krieg und Elend, vor denen wir lange Zeit die Augen verschlossen haben, wenn wir sie nicht mit Waffenlieferungen noch geschürt haben, sind jetzt bei uns angekommen. Wir leben in einer Welt, ob wir wollen oder nicht. Abschottungen, Zäune, Mauern oder Obergrenzen helfen nicht, die Flüchtlinge sind einfach da, so wie die dreizehn Millionen Heimatvertriebenen am Ende des Zweiten Weltkriegs.
Der Reisende, nicht unbedingt rasende Reporter bekundet seinen Respekt, seine Sympathie und seine Unterstützung für das wagemutige Versprechen der deutschen Bundeskanzlerin: „Wir schaffen das!“ Er würdigt den aufopferungsvollen Einsatz der ungezählten freiwilligen Helfer, die er nicht in Deutschland am Werk sieht, sondern entlang fast der gesamten Balkonroute, mit Ausnahme Ungarns. In ihnen sieht er ein Zeichen der Hoffnung, dass der Traum von einem in Frieden, Solidarität und Humanität geeinten Europa noch nicht gestorben ist.
Navid Kermani ist nicht allein gereist. Er wurde begleitet von dem vielfach ausgezeichneten Magnum-Photographen Moises Saman. Seine zwölf in den Text eingefügten Bilder zeigen keine dramatischen Szenen, sondern einzelne Menschen am Rande des Fluchtweges, erschöpfte, geschundene und betrogene Kinder und junge Männer, deren Blick dennoch nach vorn gerichtet ist.
Navid Kermani
Einbruch der Wirklichkeit. Auf dem Flüchtlingstreck durch Europa
Beck-Verlag, München 2016
Taschenbuch, 96 Seiten
ISBN 978-3406692086
Preis: EUR 10,–