Eine Krise der globalen Zivilisation

Ausgabe 304

Foto: Tinnakon, Adobe Stock

(IPS). Der Nobelpreisträger Kailash Satyarthi geht davon aus, dass wir ohne Bevorzugung von Kindern eine ganze Generation verlieren könnten. Die Zahl der Kinderarbeiter, Kinderehen, Schulabbrecher und Kindersklaven sei mit der Ausbreitung der COVID-19-Pandemie weltweit gestiegen. Insbesondere ihre Familien hätten bereits unter den Folgen einer Wirtschaftskrise zu leiden, die durch die Coronakrise und Gegenmaßnahmen entstanden ist.

Die am meisten ausgegrenzten und ­verletzlichsten Kinder in der Welt erhielten keine Aufmerksamkeit durch die Regierungen. Es gebe weder einen erkennbaren Willen oder Handlungen, ihnen den nötigen Schutz zukommen zu lassen.

Satyarthi ist zweifellos einer der größten Kinderrechtsaktivisten unserer Zeit. Er ist Gründer von Bachpan Bachao Andolan (Bewegung zur Rettung der Kinder) – Indiens größter NGO für Kinderrechte. Seit über vier Jahrzehnten setzt er sich unermüdlich für den Schutz ihrer Rechte ein. Die Initiative hat fast 100.000 Kinder aus Knechtschaft und der Zwangsarbeit gerettet, sie wieder in die Gesellschaft integriert und bei der Aufnahme einer Ausbildung unterstützt. Sie müssten auch einen gerechten Anteil der Pandemiehilfen erhalten. Es folgen Auszüge aus einem Interview mit IPS.

IPS: Wo steht die Welt heute bei der Gewährleistung von Kinderrechten? In welchen Bereichen haben wir klare Fortschritte gemacht und woran scheitern wir noch?

Kailash Satyarthi: Ich sage sehr offen, dass die am stärksten ausgegrenzten und schutzbedürftigsten Kinder der Welt in der Politik, den Mittelzuweisungen und Ausgaben immer noch keinen Vorrang haben. Ihr Schutz erfordert viel politischen Willen sowie viel Dringlichkeit und Handeln, was es bisher nicht gab.

Aber ich würde zustimmen, dass wir langsam aber sicher Fortschritte gemacht haben und versuchen, unsere Kinder in verschiedenen Bereichen zu schützen. Es gibt eindeutige Hinweise darauf, dass die Zahl der Kinderarbeiter in den letzten 20 Jahren zurückgegangen ist und die Zahl junger Menschen außerhalb der Schulen erheblich abgenommen hat.

Wir haben vergleichbare Fortschritte auf dem Gebiet der Mangelernährung gemacht. Das heißt, es gibt Themenfelder, die optimistisch stimmen. Andererseits brauchen wir eine enorme politische Handlungsbereitschaft, damit wir unsere Kinder bewahren.

IPS: Wie hat die COVID-Pandemie das Leben von Kindern in aller Welt gefährdet?

Kailash Satyarthi: Nun, vor der Pandemie hatten wir verschiedene Probleme bei Sicherheit, Bildung, Gesundheit und Freiheit von Kindern. Und da sie dem am stärksten marginalisierten Sektor der Gesellschaft angehören – sie sind der Nachwuchs unorganisierter Arbeiter, Bauern, indigener Völker sowie Sprößlinge von Flüchtlingsgemeinschaften. Sie litten bereits vorher schon, aber COVID-19 hat diese Ungleichheit und Ungerechtigkeit verschärft. Und wir ­sehen, dass Kinder am schlimmsten ­betroffen sind.

Auch ohne direkte Ansteckung oder Erkrankung sind die indirekten Effekte alarmierend. Und sie müssen adressiert werden. Es ist sehr klar: Wenn wir jetzt nicht schnell handeln, dann riskieren wir den Verlust einer Teilgeneration. Von allen Quellen wird deutlich, dass die Menge der Kinderarbeiter, der Kinderehen, Schulabbrüche, Kindersklaven und Kleinkriminellen zunehmen wird.

Ich denke darüber hinaus, dass wir es hier mit einer Krise der Zivilisation zu tun haben. Wir dachten, wir stünden alle vor der gleichen Herausforderung, und dass die Pandemie ein Gleich­macher wäre. Stattdessen wurde sie zu einem trennenden Element. In den ­Gesellschaften sind recht spaltende ­Elemente am Wirken. Das sollte alle individuellen und besorgten Bürger mit Mitgefühl erfüllen.

IPS: Wäre es denn machbar Wachstumspakete gegen die Krise gezielt für die Entwicklung und den Schutz von Kindern zu nutzen?

Kailash Satyarthi: Das ist nicht nur machbar, sondern notwendig. Wir können weder die Menschheit, noch das Ethos von Gleichheit und Gerechtigkeit schützen, bis wir uns um die Probleme der marginalisiertesten Kinder und Menschen auf der Welt sorgen. Die meisten Industrieländer bieten Mittel, um ihre eigene Wirtschaft, Banken und Firmen aus Schwierigkeiten zu befreien. In den Vereinigten Staaten haben einige sogar die höchsten Börsennotierungen aller Zeiten.

Andererseits besteht die Gefahr, dass über eine Million Kinder sterben. Nicht durch die COVID-19-Pandemie, sondern dank der Wirtschaftskrise, mit der ihre Eltern konfrontiert sind. Das ist Ungerechtigkeit. Wie lässt sich das rechtfertigen? Man braucht ein Stimulationspaket, um die Wirtschaft zu retten, aber auch eines zur Gewährleistung, dass ­unsere Kinder geschützt sind. Dies ist nicht nur eine moralische Frage, sondern ebenso eine hochpraktische.