
Zeitzeugen sterben, das Wissen über historische Ereignisse nimmt ab. Das stellt Museen und Gedenkstätten vor Herausforderungen. Eine Podiumsdiskussion zeigt Schwierigkeiten und neue Ideen auf.
Bonn (KNA). Wer das giftgrüne Telefon genau betrachtet, dem läuft es kalt den Rücken herunter: Die Plastikabdeckung der Wählscheibe ist am Rand geschmolzen. Das altmodische Objekt stammt aus dem Haus einer der türkischen Familien, die 1992 im schleswig-holsteinischen Mölln einem Brandanschlag zum Opfer fielen. Heute steht es im Haus der Geschichte in Bonn. In der erweiterten Dauerausstellung soll die jüngere Geschichte breiteren Raum einnehmen, kündigte die Bildungsreferentin der Stiftung Haus der Geschichte, Simone Mergen, am Donnerstagabend bei einer Online-Podiumsdiskussion an.
Opfern eine Stimme geben und ihre Lebensgeschichte thematisieren: Das haben sich Museen und Gedenkstätten schon lange zur Aufgabe gemacht. Wenn Zeitzeugen sterben, wird diese Vermittlungsarbeit schwieriger – aber nicht weniger wichtig. Um diese Herausforderung ging es bei der Diskussion, zu der die Stiftung Haus der Geschichte und die Deutsch-Israelische Gesellschaft eingeladen hatten.
Objekte wie das Telefon seien „Geschichte zum Anfassen, zum Be-greifen“, erklärte der Leiter der Stiftung Gedenkstätten Buchenwald und Mittelbau Dora, Jens-Christian Wagner. Das Ziel, betonte Mergen, sei nicht emotionale Überwältigung, sondern eine kritische Reflexion der Geschichte.
Dass dies eine Gratwanderung ist, wissen die Experten aus eigener Erfahrung. Er sei früher davon ausgegangen, dass die Erschütterung mit der Zeit nachlasse, sagte der Leiter der Gedenkstätte und Museum Sachsenhausen, Axel Drecoll. „Das stimmt aber nicht.“ Manche Dokumente berührten einen auch nach Jahren, manches bleibe schwer erträglich: „Das hört nicht auf.“
Eine andere Schwierigkeit, mit der die Gedenkorte zu kämpfen haben, sind Desinformationen bis hin zur Leugnung des Holocaust. Geschichtsrevisionistische Äußerungen durch eine kleine Minderheit von Besuchern hätten zugenommen, berichteten die Experten. Angesichts mancher menschenfeindlichen Äußerungen „kommt einem das kalte Grauen“, sagte Wagner.
Die allermeisten Besucher verhielten sich respektvoll und zeigten großes Interesse. Auch diese Gruppe ist laut Wagner heute jedoch stärker politisiert als noch vor einigen Jahren: „Sie sagen, wir kommen, gerade weil es Angriffe auf die Erinnerungskultur gibt. Sie wollen solidarisch sein und demonstrieren, dass es eine breite Auseinandersetzung mit der Geschichte braucht.“
Um diese Überzeugung aufrecht zu erhalten, suchen die Verantwortlichen nach neuen Wegen der Erinnerung. Der Vorsitzende der Allgemeinen Rabbinerkonferenz Deutschland, Andreas Nachama, nannte Bezugspunkte zur heutigen Lebenswelt als eine Möglichkeit. Diese könnten beispielsweise durch folgende Fragestellungen entstehen: „Was passiert in einem Land, in dem politisches Handeln nicht durch Parlamente kontrolliert wird, in dem die Polizei nicht kontrolliert wird?“
Beispielsweise Geflüchtete könnten dann die Relevanz der Thematik für ihre eigenen Erfahrungen erkennen, erläuterte Nachama, der bis 2019 Direktor der „Topographie des Terrors“ war. Das bedeute nicht, dass ein Bericht über aktuelle Polizeigewalt neben einem Ausschnitt aus dem „Völkischen Beobachter“ hängen müsse. Es gelte vielmehr, Fragen so aufzubrechen, dass heutige Betrachter – auch junge Menschen – daran anknüpfen könnten. Dafür könnten auch lokale Projekte hilfreich sein, ergänzte Mergen. Sie machten klar: „Das ist hier geschehen, nicht irgendwo weit weg.“
Generell hat das Wissen um historische Zusammenhänge nach Eindruck der Fachleute nachgelassen. Sie selbst müssten aufpassen, dass Gedenkorte nicht auf einzelne „Ikonen“ reduziert würden, sagte Drecoll. Beispiele dafür seien das Eingangstor in Sachsenhausen oder die Schienen in Auschwitz. Viele Menschen wüssten nicht mehr, dass die Mehrheit der im Holocaust getöteten Juden nicht in den Konzentrationslagern, sondern durch Erschießungskommandos im Nirgendwo umgekommen sei. Zudem sei die Würdigung der Opfer nicht die einzige wichtige Form der Erinnerung, sagte Wagner: „Wenn wir aus der Geschichte lernen wollen, dann müssen wir uns viel stärker mit der Funktionsweise der NS-Gesellschaft auseinandersetzen.“