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Frust nach dem IS: Irak wählt in schwerer Krise Parlament

Foto: andriano.cz, Shutterstock

Zerstörte Gebiete, hohe Arbeitslosigkeit, schlechte Infrastruktur: Der Irak ächzt unter den Folgen langer Misswirtschaft. Vor allem die junge Generation hat sich von der Politik längst abgewendet.

Bagdad (dpa). Der 9. Dezember 2017 hätte für den Irak ein Tag des Aufbruchs sein können. Als der damalige Regierungschef Haidar al-Abadi den Sieg über die Terrormiliz Islamischer Staat (IS) verkündete, keimte vorsichtige Hoffnung auf bessere Zeiten auf. Hinter dem Land lagen mehr als drei lange Kriegsjahre mit Zehntausenden Opfern, Flüchtlingswellen und zerstörten Gebieten. Die Regierung ließ den Erfolg mit einer Militärparade in der Hauptstadt Bagdad feiern. Politiker aus der ganzen Welt schickten Glückwünsche.

Fast vier Jahre später fällt die Bilanz ernüchternd aus. Zwar hat sich die Sicherheitslage deutlich verbessert, doch ist die Liste der Krisen, unter denen das Land leidet, noch immer lang. Wenn die Iraker an diesem Sonntag (10.10.) zum zweiten Mal nach dem militärischen Sieg über den IS ein neues Parlament wählen, steht für viele fest, dass sie die Abstimmung boykottieren – zu tief ist vor allem bei den jungen Irakern der Frust über ihre Lage und die regierenden Parteien.

Das Land zwischen Euphrat und Tigris ächzt unter den Folgen jahrzehntelanger Misswirtschaft. Der Wiederaufbau zerstörter Gebiete kommt nur langsam voran. Das Land lebt vor allem vom Export seines Öls und musste wegen niedriger Ölpreise infolge der Corona-Pandemie massive Einbußen hinnehmen. Die Iraker klagen über hohe Arbeitslosigkeit, fehlende Wohnungen und schlechte Infrastruktur. Die Versorgung mit Elektrizität ist ein Paradebeispiel für die Misswirtschaft und allgegenwärtige Korruption: Obwohl reich an Öl, fällt immer wieder der Strom aus, vor allem im Sommer bei 50 Grad, wenn die Klimaanlagen laufen. Auch der Wassermangel nimmt zu.

Hussein Nadschar, politischer Aktivist, zählt zu jenen, die am Sonntag keine Stimme abgeben werden. Seit Jahren zieht der 34-Jährige immer wieder mit Gleichgesinnten zu Protesten gegen die Mächtigen auf die Straße. „Es gibt im Irak eine umfassende und sich verschärfende strukturelle Krise“, sagt Nadschar. „Diese lässt sich nur lösen, wenn wir die herrschende Clique beseitigen.“ Wegen der Krise säßen überall im Land gelangweilte junge Männer in Wasserpfeifencafés herum. „Die Verzweiflung ist groß“, sagt Nadschar. Wahlen, davon ist nicht nur der Aktivist überzeugt, können an der Malaise des Irak nichts ändern.

Die Schuld dafür gibt er einem politischen System, das er nicht für wirklich demokratisch hält. Bestimmt wird es von einer Idee, die die Iraker „Muhasasa“ nennen: Es besagt, dass Macht und Zugriff auf die Ressourcen unter den führenden politischen Blöcken aufgeteilt werden. Damit öffnen sich für die grassierende Korruption Tür und Tor.

An der Spitze der Mächtigen stehen schiitische Parteien, die die Geschicke des Landes seit dem Sturz von Langzeitherrscher Saddam Hussein 2003 maßgeblich bestimmen. Auch diesmal würden diejenigen siegen, die das meiste Geld besäßen, sagt Analyst Fadil Abu Ririf. „Das neue Parlament wird eins der Reichen und Etablierten sein.“

Zu diesen gehört der schiitische Prediger Muktada al-Sadr, dessen Bewegung bereits bei der Wahl 2018 die meisten Sitze gewinnen konnte und auch jetzt als Favorit gilt. Seine Miliz bekämpfte einst mit Gewalt die US-Besatzungstruppen. Heute gibt sich der 47 Jahre alte Sohn eines bekannten Klerikers gemäßigter und tritt in einer Mischung aus Nationalist und Populist auf. Sein Schlagwort lautet: Reformen.

So wie am Montagabend in Sadr City, einem der ärmsten Stadtteile Bagdads und Hochburg der Sadr-Bewegung. „Wir haben uns hier versammelt, um Reformen zu fordern“, ruft die Kandidatin Maha al-Duri vor den Hunderten Zuhörern, fast allesamt Männer, ins Mikrofon, während sich in den hinteren Reihen Kinder um die grünen Fähnchen der Bewegung reißen. „Nur wenn die Sadr-Bewegung die Regierung übernimmt, wird es Notfallmaßnahmen geben.“ Doch sehr viele nehmen Sadr den Reformer nicht ab, weil seine Bewegung seit Jahren zur Regierung zählt.

Gute Wahlchancen hat sie dennoch, weil der Geistliche wie kaum jemand im Irak seine treuen Anhänger in den Armenvierteln mobilisieren kann. Das versucht auch Sadrs schärfster Konkurrent, die Fatah-Koalition, ein Bündnis aus Parteien mit engsten Beziehungen zum Iran. Als einer ihrer Anführer, Kais al-Chasali, am Dienstag bei einer Kundgebung in einem Bagdader Stadion auf die Bühne tritt, singen, klatschen und tanzen seine jungen Anhänger, als verehrten sie einen Fußballstar: „Wir sind Deine Männer, Kais“, skandieren sie. „Kämpf mit uns.“

Al-Chasali, Chef einer der stärksten schiitischen Milizen, will den Einfluss der bewaffneten Gruppen bewahren. Seit langem bekämpft er die im Irak stationierten US-Truppen, deren Abzug er verlangt. „Es ist für jede ehrenwerte Person im Land Pflicht, zur Wahl zu gehen“ mahnt er wie ein Oberlehrer. „Die Herausforderung ist gefährlich und groß.“ Seine Anhänger stimmen immer wieder Sprechgesänge an. „Nein zu Amerika, nein zu Israel“, schallt es durch das kleine Stadion.

Aktivist Nadschar hat bei der Wahl am Sonntag allenfalls Sympathie für die wenigen Kandidaten, die aus der Protestbewegung hervorgegangen sind und sich zur Teilnahme entschieden haben. Er respektiere ihre Entscheidung, sagt er. „Aber ich habe ihnen auch gesagt: Selbst wenn ihr im Parlament seid, habt ihr keinen Einfluss.“