Von Grünen bis AfD kämpfen Politiker dieser Tage gegen den „Islamismus“. Was genau das sein soll, weiß keiner so genau. Sicher ist nur, wer unter diesem Kampf oft leidet: ganz normale Muslime.
(iz). Was würden Sie denken, würde ich Ihnen erzählen, dass Nordkoreas Kim Jong-un, SPD-Bundeskanzler Olaf Scholz und der Sozialarbeiter von nebenan Teil einer gemeinsamen sozialistischen Bedrohung sind? Dass Putin, die kolumbianischen Farc-Rebellen und der Deutsche Gewerkschaftsbund insgeheim die kommunistische Unterwanderung unserer Gesellschaft planen?
Sie würden mich vielleicht für einen Verschwörungstheoretiker, auf jeden Fall aber für einen kompletten Spinner halten. Und das völlig zurecht. Was aber, wenn ich Ihnen erzähle, es gibt Menschen, die so etwas behaupten. Und sie gelten als alles andere als inkompetent. Im Gegenteil: Viele haben sich mit solchen Behauptungen das Renommee ausgewiesener Experten erarbeitet. Sie sitzen im Bundestag, Behörden, Talkshows und Chefredaktionen. Ihre Verschwörungstheorien finden sich in Gesetzestexten, Leitartikeln und auf Bestsellerlisten.
Der Unterschied ist nur: Ihre Spinnereien handeln nicht von den unzähligen Gruppierungen, Ideologien und Bewegungen weltweit, die zwar irgendwie ihren Ursprung in den Schriften von Marx und Engels haben, aber längst nichts mehr miteinander zu tun haben. Sie handeln von muslimischen Verbandsfunktionären, Messerstechern in der Fußgängerzone, türkeistämmigem Gemeinderäten, Diktatoren vom Golf und Imamen von nebenan.
Sie alle sollen Teil eines gemeinsamen „islamistischen“ Bedrohungsszenarios sein. Dabei haben sie außer ihrem Muslimischsein meist nur die negativen Fremdzuschreibungen gemein: reaktionär, anti-demokratisch, gewalttätig.
„Islamismus“ war schon immer ein unscharfer Begriff
Die Unschärfe und das damit verbundene Missbrauchspotenzial des Begriffs „Islamismus“ ist nichts Neues. Es ist dem Begriff quasi in die Wiege gelegt. Das Licht der Welt erblickte der „Islamismus“ an europäischen und amerikanischen Unis Mitte der 1970er: Als Sammelbezeichnung für politische Bewegungen und Akteure, die im 20. Jahrhundert überall in der islamischen Welt als Antwort auf die Krisen jener Zeit entstanden waren. Schon Ende der 80er hatte der Begriff seine zahlreichen Vorgänger wie „Radikalismus“, „Fundamentalismus“ oder „Islamisches Erwachen“ weitgehend ersetzt.
Was dem Islamismusbegriff bis heute fehlt, ist eine allgemein akzeptierte Definition: Ein Islamist ist jemand, der den Islam als Grundlage für soziale und politische Veränderungen gebraucht. So lautet ein Minimalkonsens unter den Islamismus-Definitionen. Anders als „islamisch“ beschreibt „islamistisch“ also ein politisches und kein religiöses oder kulturelles Phänomen. Welche Merkmale den „Islamismus“ sonst noch ausmachen? Darüber herrscht auch in der Wissenschaft keine Einigkeit.
An Merkmalen zur Auswahl stehen unter anderem: (Rück)besinnung auf islamische Werte, Streben nach Errichtung einer als islamisch verstanden Gesellschafts- und Werteordnung, Absolutheitsanspruch, Anti-Modernismus, Demokratie-Feindlichkeit und ein patriarchalisches Rollenverständnis und Gewaltbereitschaft.
Aber auch Bewegungen und Gruppierungen werden dem „Islamismus“ zugeordnet, die explizit gewaltfrei sind, sich zur Demokratie bekennen oder progressive Gesellschaftsentwürfe anstreben. Vorstellungen, was einen „Islamisten“ ausmachen, variieren außerdem je nach Zeit, wissenschaftlicher Fachrichtung und Denkschule.
Kurzgefasst: Es ist kompliziert mit dem „Islamismus“. So kompliziert, dass viele Wissenschaftler den Begriff gänzlich ablehnen: Weil er Phänomen und Akteure, die nichts miteinander zu tun haben, in einen Topf wirft, weil er die Grenzen zwischen Religion und Politik verschwimmen lässt, wegen seiner fehlenden analytischen Schärfe und seines Missbrauchspotenzials.
DIK 2022. Ministerin Faeser im Gespräch mit einer Teilnehmerin. (Pressefoto: © Henning Schacht / Bundesinnenministerium)
Ein Kürzel für Unliebsame?
Gerade aber diese Unschärfe ist es, die den Begriff außerhalb von Universitäten so erfolgreich macht. Während in der Wissenschaft zumindest ein (vermeintlicher) gemeinsamer historischer Ursprung Bedingung für die Zuschreibung „Islamist“ ist, fällt im öffentlichen Diskurs auch diese letzte Hürde weg. In Medien und Politik hat sich „Islamist“ fest etabliert: als Kürzel für unliebsame Muslime aller Art. Als Instrument der Markierung, Problematisierung und Kriminalisierung.
Um bei den Vergleichen zu bleiben: Die populäre Verwendung des Begriffs „Islamismus“ ist in etwa so präzise als fasse man israelische Siedler und jüdische Friedensaktivistinnen unter „Judaismus“ zusammen oder bezeichne Mitglieder von Ku-Klux-Klan, CSU und Caritas als „Agenten des Politischen Christentums“.
Stigma gegen Menschen, die sich nie haben etwas zu Schulden kommen lasssen
Hinzu kommt: Viele „Islamisten“, die uns in Medien und Politik begegnen, sind nicht einmal sonderlich extrem. Häufig trifft die Zuschreibung ausgerechnet Menschen, die sich demokratisch engagieren und eine gewisse öffentliche Sichtbarkeit erlangt haben: Vertreter islamischer Religionsgemeinschaften, Mitglieder religiöser Arbeitskreise, Moscheevorstände, muslimische Medienschaffende und Politiker…
Der Umstand, dass viele der Gescholtenen sich ein leben lang gegen Diskriminierung und Extremismus aller Arten engagiert haben, wird selten zu ihrer Verteidigung angeführt. Im Gegenteil: Gerade ihre Gesetzestreue und ihr demokratisches Engagement – so liest man in CDU-Papieren, Verfassungsschutzberichten und Artikeln der BILD regelmäßig – mache diese „Legalistischen Islamisten“ so gefährlich.
Insbesondere der Verfassungsschutz produziert auf diese Weise seit einigen Jahren „Islamisten“ am Fließband. In dessen Berichten werden tausende Muslime zu Islamisten erklärt, die sich nie etwas haben zu Schulden kommen lassen. Oftmals der einzige Grund: die Mitgliedschaft in (in Deutschland legalen) Organisationen und deren (oftmals fragwürdige) Zuordnung zu einem historischen islamistischen Ursprung. In vielen anderen Fällen sorgen Kontaktschuldvorwürfe dafür, dass bestens integrierte Bürger zur extremistischen Bedrohung erklärt werden.
Aus „Islamisierung“ wurde „Politischer Islam“
Konkurrenz erhält der Begriff „Islamismus“ in den letzten Jahren vom nahezu identischen „Politischen Islam“. Als Alternative zum vorbelasteten „Islamismus“ etablierte sich auch der „Politische Islam“ zuerst an Hochschulen und in Forschungseinrichtungen, bis Politik und Öffentlichkeit den Begriff entdeckten. In Bestsellern, Tageszeitungen und Parteitagsbeschlüssen liest man nun regelmäßig von „Agenten des Politischen Islam“, die dabei wären, westliche Gesellschaften zu infiltrieren und in eine islamische Diktatur verwandeln.
Es sind die alten rechten Verschwörungstheorien von „Islamisierung“ und „Unterwanderung“, die als Warnung vor „Islamismus“ und „Politischem Islam“ im modernen bürgerlichen Gewandt daherkommen. Es ist nur folgerichtig, dass als „islamistisch“ in Medien und Politik in den letzten Jahren immer häufiger Praktiken bezeichnet, die in Wahrheit nichts anderes sind als „islamisch“: Kopftuchtragen, Halal-Essen, Muezzinruf…
Auch das zeigt: Die ausgrenzende Macht des Begriffs „Islamismus“ und der Debatten, die wir mit ihm führen, richten sich nicht nur gegen Gewalttäter und Extremisten, sie richtet sich gegen ganz gewöhnliche Muslime und ihr Recht auf Religionsausübung und Teilhabe in Deutschland.