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„Medizin für die Realität“

Ausgabe 322

Foto: A. Aydin

(iz). Ahmet Aydin ist Poet und Essayist. Er betreibt den Blog fluegelwind.com und die Instagram-Seite „westoestlicherPoet“. Daneben referiert er zu Themen wie Rhetorik, Rassismus, Islam, Literatur. Er studierte Deutsche Philologie und Philosophie und steht kurz vor seinem Masterabschluss in „Neuere Deutsche Literatur“. Auch besucht er im Rahmen eines vom Berliner Senat geförderten Projektes Schulen, um dort präventiv gegen Gewalt zu wirken. In diesem Jahr erscheint seine erste Gedichtsammlung: „Der deutsche Diwan. Eine Erschütterung des Seins“.

Islamische Zeitung: Erzählen Sie etwas über Ihre Person, das Sie geprägt hat. 

Ahmet Aydin: Mein Name ist Ahmet Aydin, ich bin 30 Jahre alt und habe Germanistik und Philosophie studiert. Ich bin in Salzgitter aufgewachsen und habe dort zunächst die Realschule besucht. Nach meinem Abschluss habe ich auf ein Gymnasium gewechselt. Während meiner Gymnasialzeit habe ich viel Rassismus erlebt. Es war die Zeit als Sarrazin sein Buch veröffentlichte und rassistische Stereotype die Norm in der Mehrheitsgesellschaft waren. Auf der Realschule habe ich das nicht so mitbekommen, auf dem Gymnasium dafür sehr. Dort wurde – so mein Eindruck – reproduziert, was Massenmedien übermitteln. Das prägt mich bis heute.   

Islamische Zeitung: An welchen Orten schreiben Sie? Wann und wo werden Sie inspiriert?

Ahmet Aydin: Das hängt vom Inhalt des Gedichtes ab. Ich schreibe Gedichte, in denen ich Zwischenmenschliches verarbeite und das geschieht eben nach zwischenmenschlichen Kontakten. Dann gibt es Gedichte, die schreibe ich als Reaktion auf andere Kunst. Ich höre zum Beispiel ein Lied. Ich habe eine Reihe von Gedichten beim Hören eines Albums von Ludovico Einaudi geschrieben. Einaudi hat im Jahr 2011 das Album „In a Timelapse“ veröffentlicht – und ich habe ihn einmal getroffen. Zu diesem Anlass verfasste ich ein Gedicht: Ein Sonnett. Die letzten beiden letzten Verse waren: „Your music helps not to forget my aim / Be patient: otherwise you will feel shame.“ Die Musik hat das in mir ausgelöst. 

Dann entstehen Gedichte auch als Reaktion auf ein Lied mit Text. Ich schreibe daraufhin ein ähnliches Gedicht. Im Osmanischen hatte das einen Namen, man nannte es Nazire, das bedeutet „Ein Ähnliches“ . Als Antwort, Reaktion oder Weiterführung des inspirierenden Gedichtes, aber das Ähnliche ist ein eigenständiges Gedicht. Es war Sitte, wenn man auf ein Gedicht antwortete, das Ursprungsgedicht zu nehmen und darunter die Antwort zu schreiben und das ging teilweise über Jahrhunderte. Auf diese Weise hatte man Gedichte zu einem bestimmten Thema aus verschiedenen Jahrhunderten. Das verbindet die verschiedenen Epochen.

Manchmal merke ich auch, dass ein Gedicht kommt, und wenn ich die Zeit dazu habe, gehe ich raus, um es zu schreiben. Ich werde eine Situation niemals vergessen: Ich saß mit Freunden zusammen und sagte: „Es kommt ein Gedicht. Ich muss weg.“ – „Wohin denn?“, fragten sie und ich antwortete: „In den Harz.“ –  „Jetzt?“ –  „Ja!“ Dann bin ich kurz vor Sonnenuntergang zum Torfhaus gefahren, nur um an diesem Ort zu sein und ihn auf mich wirken zu lassen. Das fertige Gedicht habe ich „Erschütterung des Seins: Goethe im Harz“ genannt. Ich habe Goethe als Projektionsfläche gewählt, um meine Gefühle durch ihn auszudrücken. 

Menschen werden ergriffen und geben nur wider, wie sie ergriffen wurden. Woher das kommt, weiß ich nicht. Ich würde als Muslim sagen, es ist göttlich inspiriert. Ich drücke nur aus, was durch mich kommt. Also es kommt nicht von mir, sondern lediglich durch mich. Das ist auch der Gedanke der deutschen Klassik, des deutschen Idealismus. Goethe ist ein Sinnbild dafür. 

Ein Bruder, der auch Germanistik studiert, sagte mal in Bezug auf die inspirierte Poesie: „Ahmet, das trifft auf dich zu.“ Mir ist das bewusst, aber ich sage das nicht oft. Man sagt es eigentlich nicht. Es klingt arrogant, wenn man es ausspricht. 

Islamische Zeitung: Sie haben schon mehrere Künstler und Dichter erwähnt, Goethe, Novalis, Ludovico Einaudi. Wenn Sie Ihre eigenen Texte in ein Netz von anderer Kunst einordnen müsstest, wohin führen die Fäden dann? In welchen Kontexten sehen Sie Ihr Werk? 

Ahmet Aydin: Meine Texte führen uns zur Geistesgeschichte der Menschheit. Ich bin nicht der erste, der diese Gefühle hat, vor mir gab es viele. Aber ich bin ein Mensch, der sie für diese Zeit übersetzt. Wenn man meine Texte anschaut, erkennt man, dass ich als Poet erkenne, wer diese Gefühle auch schon hatte. Goethe zum Beispiel, Novalis, Dante. Auch wenn Dante ein christlicher Dichter ist, der in Muhammed alles sah, nur keinen Propheten, fühle ich mich trotzdem mit ihm verwandt. Denn wenn er mit dem Propheten Muhammed dasselbe verbinden würde wie ich, dann würde er mich verstehen. Aber er geht von anderen Voraussetzungen aus, deswegen kommt er zu anderen Schlüssen. Wenn ich das selbe voraussetzen würde wie er – was ich nicht tue – dann würde ich meine Gefühle vielleicht auch so ausdrücken wie er. Ein Beispiel: Novalis schrieb: „Wenn sie seine Liebe wüssten, / alle Menschen würden Christen.“ Das stimmt, denn Novalis verbindet mit Jesus den Sohn Gottes, der aus Liebe gestorben sei. Das ist das Bild, das er in ihn hineinlegt. Übertragen auf den Propheten Muhammed könnte ich Ähnliches schreiben. Ich lege das Bild eines Menschen, der für die Menscheit Qualen erduldete, nicht aber am Kreuz starb, in Muhammed hinein. Wenn alle Menschen – in Prosa formuliert – jetzt Muhammeds Liebe wüssten, würden sie Muslime sein. Novalis macht es mit Jesus, an den ich selbst auch konsequent glaube. Deswegen kann ich das so frei sagen.

Meine Spuren führen zu diesen Gefühlen und ich weise auf die Personen hin, die früher bereits darüber gesprochen haben. Meine Aufgabe ist es, diese Gefühle für diese Zeit zu übersetzen. 

Der Dichter verewigt Dinge. Wir erinnern uns nicht an den Journalisten aus der Goethezeit; doch der Mensch, der von den Menschen seiner Zeit als weltfremd kritisiert wurde, nämlich Goethe, der ist in die Geschichte eingegangen. Verrückt! Ich erlebe das gleiche. Ich werde oft als welfremd beschrieben, als jemand, der in seiner Poesie-Welt lebt. Ich bin es nicht. Auch Novalis hat das erlebt. Und ich hoffe, dass man sich in hundert Jahren an meine Gedichte erinnern wird und erkennt, dass meine Poesie Medizin ist für die Realität und ihr nicht ignorant gegenüber steht. Es ist eigentlich auch unwichtig, denn wenn ich tot bin, bringt mir das nichts. Doch wenn darüber gesprochen werden sollte, dann hätte sich gezeigt, es war zeitlose Wahrheit, was ich schrieb. Denn nur die Wahrheit hat Bestand. Meine Texte sollen zur Wahrheit führen. Zur Ur-Wahrheit, die jenseits von Zeit und Raum besteht. Wer zeitlos sein möchte, der muss sich an anderen Zeitlosen orientieren. Deswegen führen meine Texte zu Rumi, al-Ghazali, Goethe, Dante, Petrarca und ich weiß nicht zu wem noch. 

Islamische Zeitung: Sie führen einen Künstlernamen, „Farazi“, das ist im Grunde genommen ein Konjunktiv. Warum empfinden Sie diesen Künstlernamen als passend?

Ahmet Aydin: Es gibt den osmanischen Dichter Fuzuli. Den Namen fand ich faszinierend. Wenn man sagte „Ich spreche Fuzuli“, dann hieß das „Ich spreche unnütze Worte, unnötige Worte.“  Ich spreche „Farazi“ heißt dagegen, ich spreche hypothetisch. Es heißt: „Nehmen wir an, dass…“. Warum mache ich das? Weil ich, während jemand mein Gedicht liest oder hört, den Vorschlag mache, die Welt mit meinem Herzen wahrzunehmen. Schreibe ich ein Gedicht über Andalusien, über die Sehnsucht danach, lade ich dazu ein: „Betrachte die Welt einmal mit dem Herzen eines Menschen, dessen Herz vor Sehnsucht nach Andalusien überströmt, fühl einmal mit.“ Das ist mein Vorschlag. Ich lade dich dazu ein. Wir nehmen an, das sei wahr. 

Es kann aber auch sein, dass ich selbst nach dem Schreiben, das Gedicht nicht mehr für wahr halte. In dem Moment jedoch war es für mich Wahrheit, sonst hätte ich es nicht geschrieben. Vielleicht war es auch nur in einem Augenblick meines Lebens die Wahrheit für mich. Es ist nicht meine absolute Wahrheit. Deswegen bin ich Farazi, ich bin der, der hypothetisch spricht. Ich habe nicht den Anspruch, die Wahrheit von morgen zu verkünden. Ich habe den Anspruch, die Wahrheit eines Augenblickes zu verkünden. 

Ich halte das für wichtig. Heutzutage wird viel absolut gesprochen, vor allem Journalisten tun das, sie wollen einem immer die Welt erklären. Die ganze Zeit. Sie erklären uns aber nicht die Welt. Sie erklären uns ihre Welt. Journalisten sind eigentlich auch Poeten. Sie tun nur so, als ob sie uns die Welt erklären würden, aber sie tun es nicht; sie schildern uns nur, wie sie die Welt wahrnehmen und geben dem einen objektiven Anschein. Wenn es anders wäre, würden wir eben die Journalisten der Goethezeit kennen und nicht Goethe selbst. Deswegen sagt Novalis: „Wenn man in Märchen und Gedichten (…) erkennt die wahren Weltgeschichten“. Er meint die zeitlosen Wahrheiten. 

Und eben deshalb bin ich Farazi. Ich tue nicht so, als ob ich weiß, was ich bin. Ich kenne meine Grenzen. Ich sage offen, dass ich so tue, als ob. Wenn man so tut, als ob und sich dessen bewusst ist, beginnt man plötzlich damit, ganz schön echte Sachen zu sagen. 

Islamische Zeitung: Welche Bedeutung hat Publikum für Sie?

Ahmet Aydin: Publikum bedeutet mir viel. Ich denke hier an den Film „Anonymus“, da wird gesagt: „Jeder Mensch, der etwas schreibt, will etwas sagen.“ Hätte ich nichts zu sagen, würde ich etwas Anderes machen als zu schreiben. Ich will etwas bewirken. Aber was? Das variiert. Es gibt Gedichte, da will ich über einen Missstand aufklären, es gibt Gedichte, da will ich ein Gefühl mitteilen. Einmal möchte ich, dass der Leser über diesen Misstand aufgeklärt wird. Wenn ich ein Gefühl mitteilen will, dann hoffe ich, dass die LeserInnen mein Gefühl teilen, wie beim Andalus-Gedicht, dass der Leser entflammt.

Ich habe bei jedem Gedicht immer ein bestimmtes Publikum im Sinn und auch ein Szenario, wie man es rezipieren könnte. Dementsprechend schreibe ich. Manchmal schreibe ich Gedichte, obwohl ich weiß, dass das in dieser Zeit nicht verstanden wird. Ich schreibe Codes für die Zukunft. Ich maße mir an zu sagen, wenn die Menschen ein bisschen weiter sind, dann werden sie es verstehen. Weil ich 10 Schritte voraus gedacht habe. 

Islamische Zeitung: Sie haben auf meine Frage absolut hypothetisch geantwortet. Sie haben darüber gesprochen, was Sie hoffen und sich vorstellen, nicht was tatsächlich passiert.

Ahmet Aydin: (lacht) Das war mir nicht bewusst. Der Austausch befördert Fortschritt, die Diskussion darüber, wie die Wirkung sich ändern würde, wenn ich es so oder so machen würde, sich ausprobieren. Darüber möchte ich irgendwann eine Gedichtsammlung schreiben. Sie soll „Spaziergänge“ heißen. So wie Descartes die Menschen in seinen „Meditationes“ auf Spaziergänge mitnahm, möchte ich die Menschen mit in ein Gedicht nehmen. Es fängt immer damit an, dass ich spaziere. Ein Spaziergang ist lyrisch. Der Alltag, die ganze Welt ist lyrisch und ich möchte ausprobieren, wie sich die Wirkung bei kleinen Abwandlungen verändert. 

Was GesprächspartnerInnen angeht: Einerseits mag ich es mit jemandem, der sich auskennt, einem Experten, über Poesie zu sprechen, andererseits mag ich es auch über diese Themen leicht zu sprechen. Die Welt ist traurig und bitter. Wir wissen das. Lasst es uns gegenseitig leichter machen, indem wir leicht über ernste Themen sprechen.  

Islamische Zeitung: Woher kommt Ihre Poesie? Was an Ihrer Persönlichkeit bzw. Ihren Erfahrungen macht Sie zum Poeten?

Ahmet Aydin: Ich denke, was einen Menschen zum Dichter macht, ist die Art und Weise, wie er auf die Welt blickt. Dass er sich nicht nur darin erschöpft, in seiner eigenen beschränkten Perspektive die Welt zu betrachten, sondern sich aufschwingt, die Welt durch die Augen verschiedener Menschen zu betrachten. Er nimmt nicht nur seinen eigenen Verstand und beurteilt mit diesem die Welt. Er beurteilt sie mit dem Verstand vieler verschiedener Menschen. Und da er dann die Welt durch die Augen verschiedener Menschen betrachtet, rückt er der Ur-Wahrheit ein Stück näher. 

Mewlana Rumi sagt in seinem Mathnawi sinngemäß „Wer einen Dichter zu Rate zieht, der zieht die universale Vernunft zu Rate, nicht die individuelle Vernunft.“ Ein Dichter, der das nicht erfüllt, ist zu subjektiv und fördert Egoismus statt – wie es eigentlich sein sollte – Menschenliebe. Ich denke, das macht mich zum Dichter. Dass ich versuche, die Welt durch die Augen unterschiedlichster Menschen zu betrachten. Ich betrachte die Welt durch die Augen des Muslims, des Nicht-Muslims, durch die Augen eines Christen, eines Juden, eines Atheisten, eines Buddhisten, eines Türken, eines Deutschen, eines Engländers, eines Franzosen und das drückt für mich die Idee der Menschenliebe aus. Ich hoffe, dass mich das auszeichnet. 

„Wer einen Menschen berührt, der hat die ganze Menschheit berührt.“ Du weißt nicht, was dieser Mensch damit macht, wer weiß, wohin es führt.

Wenn ich mich auf meine eigenen Erfahrungen beschränken müsste, das würde mich daran hindern, Poet zu sein. Ich kann als einzelner Mensch nicht alle Erfahrungen machen, deswegen lese ich von ihnen und höre mir die Lebensgeschichten und Erfahrungen anderer an. Dadurch erhalte ich Einblicke in Realiäten, die ich selbst nicht erlebt habe. Das schärft den Verstand und die Empathie und macht das Individuum universaler. Und mir geht es in der Poesie um Universalität. Ich denke nicht nur mich. Ich denke in mir die Menschheit. Der Dichter gehört der Menschheit. 

Islamische Zeitung: Können sIe uns etwas über Ihre Visionen erzählen? Was möchten Sie mit Ihren Texten bewirken?

Ahmet Aydin: Ich wünsche mir, die Horizonte der Menschen zu öffnen. Sie sollen Etwas lesen und sich die Frage stellen „Was ist das?“ Nationen- und glaubensübergreifend. Nicht-Muslime sollen sich fragen: „Wie kann ein Muslim so denken?“ MuslimInnen sollen denken, wenn ich auf nichtmuslimische Dichter anspiele: „Ich kann von Nichtmuslimen so eine Weisheit lernen?“ Das zeitlose Element verbindet alles: Weisheit. Die Weisheit dort aufzunehmen, wo sie ist. Unabhängig von Nationen und Völkern. Meine größte Hoffnung ist es, dass jemand mehr Sinn darin sieht, morgens aufzustehen. Der eine oder andere, der vielleicht denkt „Warum lebe ich eigentlich?“, dass er oder sie dann denkt: „Es ist zwar sinnlos, trotzdem sollte man weiter machen.“ Auch wenn es die Welt nicht bewegen wird, es wird einen bewegen – und dieser eine repräsentiert die Menschheit. Das ist meine Interpretation des Koranverses: „Wer ein Menschenleben rettet, hat die ganze Menschheit gerettet.“: „Wer einen Menschen berührt, der hat die ganze Menschheit berührt.“ Du weißt nicht, was dieser Mensch damit macht, wer weiß, wohin es führt.