Mit Blick auf die PKK: Derzeit ersetzt die Meinung mangelndes Wissen. Hintergründe von Christian Rogler

Ausgabe 243

Seit einigen Wochen führt die Türkei eine umfassende Antiterror-Offensive, die sich gegen mehrere bewaffnete Organisationen, die in der Vergangenheit durch Anschläge auf türkischem Boden aufgefallen waren, gleichzeitig richtet. Die Türkei als Frontstaat mit einer langen Grenze beendete auf diese Weise ihre bisherige Politik der Zurückhaltung.

(iz). Des einen Terrorist ist des anderen Freiheitskämpfer“, zitierte der Verantwortliche für einen Beitrag der Redaktion von ZDF heute plus ein geflügeltes Wort, das immer wieder durch die politischen Debatten wandert. Es ist durchaus überraschend, so etwas ausgerechnet aus dem Mund eines deutschen Journalisten zu hören, ist es doch sonst eher unüblich, auf ähnlich relativistische Weise das Treiben illegaler, bewaffneter Gruppierungen zu kommentieren.

Selbst die RAF war aus Sicht linksextremer Randfiguren eine Ansammlung von „Freiheitskämpfern“, gegen den „Kapitalismus“, gegen die „faschistische Kontinuität in der Bundesrepublik“, gegen „den Repressionsstaat“ oder was auch immer, und doch wären selbst weit links stehende Publikationen oder gar ARD oder ZDF nie auf die Idee gekommen, ihre Angehörigen oder ihr Umfeld umfassend in Fernsehreportagen zu Wort kommen zu lassen, ihre Ziele in verharmlosender Weise darzulegen oder staatliches Vorgehen gegen sie zu diskreditieren.

Umso mehr überrascht heute, wie wohlwollend deutsche Medien das Treiben der sogenannten „Kurdischen Arbeiterpartei“ (PKK) und der mit ihr verbündeten Partei PYD im Norden Syriens kommentieren, während der türkischen Regierung, die seit mehreren Wochen militärisch gegen die auch in der EU als Terrororganisation eingestufte, marxistisch-leninistische Kurdenorganisation vorgeht, ausschließlich verwerfliche Beweggründe und dunkle Absichten zugesonnen werden.

Seit einigen Wochen führt die Türkei eine umfassende Antiterror-Offensive, die sich gegen mehrere bewaffnete Organisationen, die in der Vergangenheit durch Anschläge auf türkischem Boden aufgefallen waren, gleichzeitig richtet. Neben der „dschihadistischen“ Terrormiliz „Islamischer Staat“ (IS), die im Verdacht steht, für einen Bombenanschlag in Suruç (Provinz Sanlıurfa) verantwortlich zu sein, der 32 Todesopfer forderte, stehen die linksextreme „Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front“ (DHKP/C) und die PKK im Fokus der Offensive, wobei das Vorgehen gegen den IS mit der seit einem Jahr im Irak und in Syrien operierenden, internationalen Koalition unter US-Führung koordiniert wird.

Die Türkei, die als Frontstaat eine mehr als 1.000 Kilometer lange gemeinsame Grenze mit den bürgerkriegsgeschüttelten Nachbarstaaten Syrien und Irak teilt, beendete auf diese Weise ihre bisherige Politik der Zurückhaltung, die nicht zuletzt der Sorge um mögliche Terroranschläge oder eine Ausweitung der Kampfhandlungen auf das eigene Territorium geschuldet war.

Denjenigen, die Ankara seit Ausbruch der Krise stets Zaudern und Untätigkeit vorgeworfen hatten, war diese Flucht nach vorne jedoch auch nicht Recht – auch wenn die Türkei ihr Vorgehen zuvor in umfassender Weise mit den internationalen Partnern, insbesondere den USA, abgestimmt hat und hinsichtlich der Einschätzung aller Terrororganisationen, gegen die sich das militärische Vorgehen der Türkei richtet, kein Dissens zwischen Ankara und den Nato-Partnern beziehungsweise der EU besteht.

Was jedoch in besonderer Weise verstörend wirkt, ist die fast an den Ukrainekonflikt erinnernde Schwarz-Weiß-Malerei in Medien und Politikerstatements, die sich vom Maidankonflikt und seinen Folgeerscheinungen nur dadurch unterscheidet, dass nun auch dort noch kritische Publikationen wie das „Neue Deutschland“ oder Politiker der Linken und der AfD mit den Wölfen heulen und in die Dämonisierung des türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan bei gleichzeitiger Glorifizierung der PKK und deren Gleichsetzung mit „den Kurden“ mit einstimmen. AfD-Kreisverbände machen es dabei nicht unter dem Vorwurf des „Völkermordes an den Kurden“, die CSU verlangt im Einklang mit der Linken den Abzug der Patriot-Abwehrsysteme aus der Südtürkei (die allerdings ohnehin schon seit Monaten geplant war), die Grünen erklären die AKP-Regierung zum Alleinverantwortlichen für das vorerst eingetretene Ende des Friedensprozesses und mittlerweile besteht zwischen „Bild“-Schlagzeilen und IS-Videos kaum noch ein Unterschied, wenn es gegen den „Teufel Erdogan“ geht.

Es ist nicht das erste Mal, dass es eine derartige Einheitsfront von ganz links bis ganz rechts gegen die Türkei, ihre Regierung und ihren gewählten Präsidenten gibt – bei gleichzeitiger Solidarisierung mit einer immerhin auch von Deutschland selbst als Terrororganisation eingestuften Vereinigung. Und es ist nicht das erste Mal, dass entgegen aller Fakten eine höchst zweifelhafte Bewegung, die nachweislich reichlich auf dem Kerbholz hat, im Einklang mit der Propaganda derselben zur legitimen Sachwalterin eines gesamten Volkes gemacht wird, obwohl gerade dieses unter dessen Fanatismus und Extremismus leidet.

Hinsichtlich dieser vorherrschenden öffentlichen Meinung geht es nicht immer nur um bloße Naivität, sondern auch um grobe Vereinfachung oder das Bedürfnis, im postheroischen Zeitalter einen Hauch von Heldentum zu ergattern. Zweifellos mag bei manchen Medienkonsumenten oder sogar Politikern dies eine Rolle spielen. Außerdem ist das Gedächtnis der meisten Deutschen in unserer schnelllebigen Zeit nicht allzu gut.

Man hat nicht nur vergessen, dass nicht zuletzt auch terroristische Aktivitäten der PKK hier in Deutschland mit dazu beigetragen hatten, dass sie 1993 auch hier verboten wurde. Diejenigen, die heute empörungsträchtig und pathetisch Erdogan die Alleinschuld am Ende des Friedensprozesses zuzuschieben versuchen, weil dieser angeblich „den Kurden“ ihre Rechte vorenthalte, scheinen auch vergessen zu haben, wie die Volksgruppenpolitik vor dessen Regierungszeit ausgesehen hatte – unter der im Westen verklärten Ära, als noch nicht die „Islamisierung“ durch Erdogan die „Ideen Atatürks“ in Frage gestellt habe.

Für den perfekt konditionierten Bildleser, aus dessen Sicht für das Vorhandensein freier und demokratischer Verhältnisse in einem Land, das er bestenfalls vom Strandurlaub kennt, offenbar einzig relevant ist, dass Frauen in der Öffentlichkeit zwar Bikinis oder weniger, aber keine Kopftücher tragen dürfen, kann es daher auch kein Maßstab sein, ob früher Kurdenparteien, sobald sie politischen Erfolg hatten, aufgelöst wurden, Militärs auf nicht genehme Wahlergebnisse mit einem Putsch antworteten oder dass zum Teil sogar die Verwendung des Begriffs „kurdisch“ im Zusammenhang mit den damals sogenannten „Bergtürken“ im Osten und Südosten des Landes zu strafrechtlicher Verfolgung führen konnte.

Und es waren nun mal nicht die sogenannten „Islamisten“, die in den Kurdengebieten eine rücksichtslose Politik der Assimilierung betrieben, sondern deren im Westen wohlgelittene Vorgänger der „alten Türkei“.

Verschleppungen, Folterungen und extralegale Hinrichtungen kurdischer Politiker und Aktivisten waren vor allem nach dem Militärputsch von 1980 an der Tagesordnung. Noch bis in die 1990er Jahre hinein gingen sowohl die lange geheim gehaltene Gendarmerie-Sondereinheit JITEM auf der einen und die PKK, die ihren bewaffneten Aufstand gegen den türkischen Staat unter anderem durch Schutzgelderpressung, grenzüberschreitenden Drogenhandel und kriminelle Akte wie Entführungen und Auftragsmorde finanzierte, auf der anderen Seite gegen die Zivilbevölkerung vor.

Eine generelle Unterdrückung von Kurden in der Türkei gab zwar auch damals nicht. So konnten der kurdischen Volksgruppe angehörige Politiker, wie Premierminister und spätere Präsident Turgut Özal, wichtige Posten im Staatsapparat erlangen. Der Kurde Ibrahim Tatlises gehört seit Jahrzehnten zu den beliebtesten Sängern des Landes – bei Türken und bei Kurden gleichermaßen. Allerdings wurden die Gründung politischer Parteien, die Verwendung der kurdischen Sprache und die Pflege kurdischer Kultur in der kemalistischen Ära massiven Restriktionen unterworfen, da diese darin Manifestationen des „Separatismus“ erblickten und einen möglichen Verstoß gegen den Nationalismus, der in der kemalistischen Verfassung sogar ein Grundprinzip darstellt.

Gläubige Muslime in der Türkei hatten stets ungleich weniger Probleme mit kurdischen Begehrlichkeiten hinsichtlich größerer Autonomie und Volksgruppenrechte. Ihnen ist der Nationalismus oft eher fremdgeblieben, zumal er im Verdacht stand, das osmanische Erbe nicht ausreichend zu würdigen. Für türkische Muslime ist der Kurde Bediüzzaman Said Nursi einer der bedeutsamsten Islamgelehrten aller Zeiten. Und selbst die First Lady der Türkei, Emine Erdogan, ist Kurdin.

Nach fast 40 Jahren Bürgerkrieg mit 40.000 Toten versuchte die AKP eine kulturell offenere Politik zu betreiben und der Terrororganisation durch Investitionen in Bildung und Infrastruktur den Boden zu entziehen. Die wirtschaftliche Lage besserte sich zunehmend, und nachdem es der Regierung gelungen war, infolge der Ergenekon-Prozesse auch die bis zuletzt noch putschbereite alte Garde im Militär zu entmachten, konnte der damalige Premierminister Erdogan noch freier in der Kurdenpolitik agieren.

Im September 2013 wurde ein Demokratisierungspaket verabschiedet. Es gibt fortan die Möglichkeit, kurdischsprachige Fernsehprogramme zu empfangen, die Sprache ungehindert zu pflegen, es gibt keine Buchstabenverbote mehr. Die Regierung begann sogar mit dem inhaftierten Terroristenführer Abdullah Öcalan zu verhandeln, um den Aufschwung in den Kurdengebieten zu flankieren und durch einen Waffenstillstand zu ergänzen, der auch für Investoren größeres Vertrauen schaffen sollte, dass die PKK ihre Investitionen nicht durch Anschläge gefährden würde. Es darf in Amtsstuben und vor Gerichten Kurdisch gesprochen werden und prokurdische politische Parteien genießen Betätigungsfreiheit, statt wie früher vom Verfassungsgericht aufgelöst zu werden.

Warum aber brach die PKK dann den Waffenstillstand und kehrte zur Gewalt zurück? Der Hauptgrund dürfte der Selbsterhaltungstrieb der Organisation sein. Wer sein Leben lang von der Gewalt, der Erpressung, dem Menschenhandel oder den Entführungen lebte, hat keine zivilen Perspektiven. Auch nicht die als Kinder auf dem Schulweg verschleppten Kämpfer ohne Schulabschluss, die ihr Leben bislang in den Bergen verbracht hatten. Wer in die Schule geht, will nicht mehr für die Terroristen zur Waffe greifen. Gleichzeitig hat die Trittbrettfahrerei des syrischen PKK-Ablegers PYD neue Hoffnungen genährt, den Traum von einem vereinten „Kurdistan“ unter marxistisch-leninistischen Vorzeichen zu verwirklichen – und der holzschnittartige Narrativ westlicher Medien, wonach „die Kurden“ unter der Führung der „säkularen Hoffnungsträger“ den „von der Türkei unterstützten“ IS bekämpfen, hat sie dabei auch noch zusätzlich angestachelt. Dass die gewählte Administration der irakischen Kurdenregion (KRG) unter Mahmoud Barzani die Terroristen der PKK und PYD lieber heute als morgen außer Sichtweite hätte und die PYD in ihren syrischen Machtbereichen sogar Radiostationen der KRG verbieten lässt, stört die heimischen PKK-Apologeten nicht.

Auch, dass oppositionelle Kurdenpolitiker in Syrien eine Fernsteuerung von PKK durch die Regierung Assads und den Iran vermuten, mit dem Ziel, die Türkei zu destabilisieren, beeindruckt die heimischen Terroristenversteher wenig. Und dass die PKK ihre Kader Zölibatsverpflichtungen unterwirft, die notfalls mithilfe von Zwangsabtreibungen oder sogar Ermordungen von Abweichlern durchgesetzt werden, trübt ihr Bild von den „Kämpfern für die Frauenrechte“ und den „emanzipatorischen Fortschritt“ ebenfalls nicht.

Und so bleibt Erdogan das einigende Feindbild, das von der extremen Linken, die zweifellos aus ideologischer Nähe heraus einen Triumph der PKK wünscht, über die „bürgerlichen“ Parteien, die ihren rechten Rand bei der Stange halten wollen, bis hin zu AfD und NPD reicht, wo der Name des türkischen Präsidenten einen antiislamischen Kläffreflex auslöst oder die Türken als „völkischer Feind Nummer eins“ gesehen werden. Sozusagen eine homogene Volksgemeinschaft, vereint durch das antitürkische und antimuslimische Ressentiment. Man müsste schon sehr naiv sein, zu glauben, dass diese Leute das Schicksal der Kurden auch nur ansatzweise interessiert.

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