
IZ-Herausgeber Abu Bakr Rieger auf den Spuren von Evliya Çelebi: Halt in Ulcinj auf dem Weg nach Albanien.
(iz). Die Fahrt von Bosnien, durch Montenegro bis an die albanische Grenze gehört zu den schönsten Strecken in Europa. Wir stehen am Sandstrand von Ulcinj, ganz im Süden des Landes und sehen in der Ferne die Berge.
Die Stadt gehört zu den ungeplanten Entdeckungen auf unserer Reise. Denn hier findet sich neben dem Tourismus, von dem die Region lebt, originäres Leben. Vor dem Markt verkaufen die Fischer ihre Waren. Es gibt eine große Auswahl hübscher Cafés, in denen die Einheimischen in die Morgensonne blinzeln. Die Mehrheit sind Albaner.
Wir kommen ins Gespräch mit einem freundlichen, älteren Herrn, der, wie er uns erzählt, in Kassel lebt. Er ist Rentner und hat 55 Jahre in einer Autofabrik gearbeitet. Wir fragen ihn, ob ihn das Heimweh nach Montenegro geführt hat. „Nein“, erwidert er entgeistert, „seine Heimat sei doch Deutschland!“ Hier kenne er kaum jemanden, seine alten Bekannten seien fast alle tot. Er bleibe hier nur einige Wochen im Jahr, denn seine Frau vermisse nach kurzer Zeit ihre Enkelkinder.
Fotos: Autor
Uns gefällt es hier ausgesprochen gut. Der Ort hat etwas, was ich einen poetischen Widerhall nennen würde. In der liebevoll restaurierten Mezjaa Moschee, direkt unter einem Glockenturm, den die Osmanen gebaut haben, geht die Stimmung bergauf. Es ist der erste Gebetsraum, den ich besuche, dessen Fußboden eine leichte Neigung nach oben hat.
Und es gibt eine Fußbodenheizung, sodass man das Gebäude überhaupt nicht mehr verlassen will. Es ist erstaunlich, wie viele Muslime sich hier mit aller Energie und großem Einsatz für den Erhalt ihres Erbes einsetzen.
Am Hafen besichtigen wir die Moschee der Seemänner. Früher war Ulcinj ein gefürchtetes Piratennest, algerische Piraten unterstützten die Osmanen in der Seeschlacht von Lepanto und durften als Gegenleistung in der Region siedeln. Cervantes, der berühmte Autor des „Don Quijote“, soll hierher einige Jahre als Sklave verschleppet worden sein. Auf dem Weg zur Burg über der Stadt mit ihrer Kirchenmoschee entdecken wir ein Denkmal für den großen Schriftsteller.
Fotos: Autor
Der Burgberg zeugt von der wechselhaften Geschichte der Region, deren Ursprünge weit in die Vergangenheit zurückreichen. Den Grundstein für die Zitadelle legten die Illyrer vor über 2000 Jahren. Jetzt im November streifen wir einsam durch die alten Mauen. In einem Turm werden Fotografien ausgestellt, die das Leben der Menschen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder spiegeln. Die schwarz-weiß Bilder wirken wie Felsen, die sich gegen den Strom der Zeit stellen.
Die Szenen sind so faszinierend, dass wir unsere Reiseroute ändern und das Fotografie-Museum im nahe gelegenen, albanischen Shkodra besuchen. Kann man die Zeit einfangen? Der italienische Maler Petro Marubi und zwei seiner Schüler haben es versucht. Marubi hat 1858 das erste Bild aus Albanien veröffentlicht – eine Sensation, denn vielen Europäern war das Land völlig unbekannt.
Die Sammlung, mit ihren hunderttausenden Bildern, übergab die Familie 1950 – nicht ganz freiwillig – dem albanischen Staat. In dem Museum besichtigen wir eine Auswahl der Werke, die politische Momentaufnahmen, das kulturelle Leben und den Alltag der Leute beschreibt. Ihre Posen künden von Stolz, von Sieg und Niederlagen in einer dramatischen Phase der Geschichte.
Mich fasziniert eine Aufnahme, deren Stimmung an Franz Kafka erinnert. Vor einer verschlossenen Tür, es scheint ein Warteraum sein, sitzen eine Gruppe von Menschen, die auf etwas zu warten scheinen. Mit ernstem Ausdruck ist ihr Blick auf den unsichtbaren Fotografen zugewandt, der ihre vereinzelte Schicksale in einer Gesamtschau vereint. Der Beginn einer neuen Zeit.