
Ein Debattenbeitrag von Hakan Turan über den tödlichen Anschlag von Mannheim. Wie sollten wir Muslime uns zu dem Vorfall verhalten?
(iz). Meine persönliche Schmerzfrage Nr. 1 lautet im Moment: „Womit haben wir Muslime es verdient, dass die allerdümmsten Terroristen der Welt sich unserer Religion zugehörig fühlen?“ Ich weiß, die Frage ist extrem unpassend. Aber ich stelle sie mir nun mal. Abgesehen von aller generellen Abscheulichkeit von Terror wären folgende Stichworte zu nennen:
1) Es stehen unmittelbar Wahlen in Deutschland bevor.
2) Rechtspopulismus und Islamfeindlichkeit stehen hoch im Kurs und warten nach einer Phase des stagnierenden Aufstiegs auf den nächsten Push nach oben.
3) Deutschland trägt noch immer eine heftige Migrationsdebatte im Kontext der Flüchtlinge aus, zu denen auch afghanische gehören (der Attentäter war ein 25-jähriger Afghane).
4) Der Fokus der Aufmerksamkeit lag auch in Deutschland auf dem Leid der muslimischen Zivilisten in Rafah/Gaza, was die unverhältnismäßige Kriegsführung Netanyahus weltweit unter immensen Druck gebracht hat.
5) Michael Stürzenberger, das Ziel des Anschlags, wurde vom bayrischen Verfassungsschutz als islamfeindlicher Extremist bezeichnet. Jetzt ist sein Status in der gesamten Öffentlichkeit der eines Opfers eines islamistischen Extremisten mit Mordabsicht.
6) Die These von ihm und anderen war stets, dass der Islam aufgrund seines Potenzials zu religiös motivierter Gewalt bekämpft werden muss. Nun wurde er während einer solchen „Aufklärungsarbeit“ tatsächlich selbst zum Opfer (offensichtlich) religiös motivierter Gewalt eines Muslims. Wie aus dem Bilderbuch.
7) Islamische Organisation in Deutschland sind – bis auf das hervorragende Engagement einzelner Personen – im professionellen Management des Themas „islamistischer Extremismus“ völlig überfordert. Sie erkennen nicht, dass sie innerhalb ihrer Gemeinden – auf das Risiko hin sich unbeliebt zu machen, Themen auf die Tagesordnung setzen müssen, die auf den ersten Blick nichts mit diesen zu tun haben – das Thema problematisieren und freiwillig(!) eine Mitverantwortung in religiöser Theorie und Praxis für die Bekämpfung des Extremismus übernehmen sollten. Es reicht nicht, nur das Thema antimuslimischer Rassismus zu benennen und ihn zu bekämpfen. Es ist eine Vergeudung der Möglichkeiten einer muslimischen Gemeinde, sich mit engagierten Stellungnahmen und symbolischen Gesten zufrieden zu geben. Denn dies können auch Einzelpersonen leisten. Kollektive Strukturen können mehr und sollten dies auch tun.
Mannheim oder die Frage nach dem Teror
Zurück zu meiner Frage nach dem Terror: Die Hamas-Führung hatte durch eine gezielte Provokation am 7.10.2023 Israel völkerrechtlich einen Anlass zu einem mittlerweile völlig eskalierten und ungerechten Krieg gegeben. Dessen Hauptleidtragende sind die Palästinenser in Gaza. Das alles war für die Hamas bis ins Detail vorhersehbar.
Ich sagte ja: dümmste Terroristen der Welt. Zu diesem Urteil gehören natürlich, ja zuvörderst auch die Hamas. Neben der Regierung Netanyahu trägt sie die volle Mitverantwortung für das, was danach geschehen ist und geschieht. Machen wir Halt: Vielleicht ist das ja gar nicht Dummheit. Also das Auslösen von Lawinen durch islamistische Terroristen, in dessen Folge zehntausende oder auch Millionen von Muslimen auf die eine oder andere Weise zu leiden haben, wie nie zuvor.
Das will sagen: Ja, die Verhärtung ist symmetrisch auf beiden Seiten solcher Konflikte vorhanden. Aber: Es herrscht in allen Fällen eine extreme Asymmetrie vor, was die strukturellen Handlungsmöglichkeiten, einschließlich militärischer Möglichkeiten betrifft. Abgesehen von aller Abscheulichkeit von Terror: Eine solche Asymmetrie nicht zu erkennen, zeugt entweder von (a) extremer Dummheit (siehe meine Eingangsfrage), oder (b) extrem perfidem Eskalationskalkül. Jetzt, am Ende dieses Textes, halte ich (b) für wahrscheinlicher.
Das war es auch, was man aus mehreren Hamas-Verlautbarungen nach dem 7.10. indirekt entnehmen konnte: Es ging nie darum, dass es den Palästinensern in Gaza durch ihren Angriff am 7.10. besser gehen sollte. Es geht ihnen so schlecht wie wahrscheinlich nie zuvor. Und es ist vielleicht ein ähnliches Denken, das hinter Mannheim steckt: Nicht die Idee, eine Person für ihre Islamfeindlichkeit zu bestrafen, weil sie laut eigenem Islam(un)verständnis bestraft gehört, sondern: Deren Islamfeindlichkeit zum symbolischen Anlass zu nehmen, den gewaltigen Staudamm brechen zu lassen.
Extremisten hoffen auf einen Endkampf
Es ist der Endkampf, den die Extremisten aus Islam, Christentum und Judentum zu provozieren versuchen. Sie selbst schreiben das. Sie glauben das. Und wollen, dass alle dabei mitmachen.
Gerade für die „islamistischen“ Extremisten gilt dabei, dass die Asymmetrien in den strukturellen Verhältnissen einfach umgedeutet werden zu einem kollektiven Sprengsatz, den man nur noch zünden muss, da anderweitig kein „Sieg“ in Aussicht ist: Die großen Menschenmassen in Gaza sind gut nutzbares Schießpulver. Ab einer bestimmten Zahl an vom Gegner getöteten Muslimen wird sich demnach dieses Menschenopfer gelohnt haben, wenn dann endlich die Finalschlacht ausbricht und dann bald das Paradies auf Erden beginnen kann.
Nein, die Hölle ist angebrochen. Die Flammen greifen um sich, sie hören nicht auf irgendwelche Absichten. Hier in Deutschland wiederum versuchen „islamistische“ Extremisten, als die (dummen?) Speerspitzen ihrer (intelligenten?) Hintergrundideologen, die gesellschaftliche Spannung endgültig zum Zerreißen zu bringen.
Aber ich weiß, es gibt in all diesen Fällen immer eine strukturell mächtige „Gegenseite“. Ein Beispiel für die deutsche Situation: Von der Ausgrenzung von Muslimen im Alltag, über politisches tendenzielles Desinteresse an muslimischen Todesopfern in Gaza bis hin zu hartem Rassismus, der bis zur öffentlichen Ermordung von Muslimen in Deutschland führen kann. Marwa al-Sharbinis Ermordungsdatum nähert sich.
Viele Muslime unterliegen – in der Hoffnung, das Problem dingfest zu machen – dem Trugschluss, dass eine solche Offenlegung einer Symmetrie der Extremen auf beiden Seiten das Problem verstehbar, oder zumindest moralisch handhabbar machen könnte: Ihr habt dumme Extremisten, wir haben dumme Extremisten. Das Problem ist: Diese Erkenntnisse lösen das Problem nicht. Sie lösen auch keine Welle von Empathie aus. Denn dazu sind die Zusammenhänge zu abstrakt und unsichtbar.
Es bedarf anderer Wege
Darum bedarf es anderer Wege. Klare und eindeutige Stellungnahmen sind gut. Sie sind zu wenig, angesichts des Staudamms, der immer größere Risse bekommt. Wir müssen als Muslime – zumindest die Älteren, die Verantwortungsträger, die Rationalen – das Unzumutbarste auf uns nehmen. Wir müssen die Betroffenenperspektive verlassen, wie sehr wir auch selbst Betroffene sind.
Wir müssen zu kritischen Vermittlern werden. Die nicht nur analysieren, sondern gangbare Lösungen suchen, die, wie jede gute Therapie, stellenweise schmerzhaft für beide Seiten sind. Aber nicht in Selbstabgrenzung, sondern durch gezielte, reflektierte und überzeugte Zusammenarbeit mit den Vernünftigen der vermeintlich „anderen Seite“.
Anders entsteht kein „wir“, das über die Ghetto-Grenzen hinausgeht. Lasst uns die Asymmetrien ernst nehmen. Lasst uns gegen die Irren vorgehen, die am Bruch des Staudamms arbeiten.
Wenn man Angst hat sich bei der Gemeinde mit bestimmten Themen unbeliebt zu machen und die Greueltäten der Hamas als „Provokation“ bezeichnet hat man als Muslim offenbart, dass man die Botschaft des Qur’an nicht verstanden hat.
Früher war der Islam in der Welt führend in wissenschaftlichen und kulturellen Bereichen (ich denke da z.B. an Al Andalus).
Heute beschäftigen sich selbsternannte Muslime lediglich damit den Qur’an auswendig zu lernen (ohne ihn zu begreifen) und Geschwister für den Hass gegen „Ungläubige“ aufzustacheln. Schülern ist es wichtig einen Gebetsraum zu bekommen. Beten statt lernen. Das meinte der Prophet mit Wissen vermehren?
Als in Mannheim lebender, queerer trans-Mensch sind Muslime in meinem Alltag leider die größte Beddrohung. Anfeindungen kommen immer und ausschließlich von „Bärtigen“. An der Fußgängerampel stehe ich nicht mehr „vorne am Bordstein“ – einmal einen Stoß in den fließenden Verkehr bekommen, aus einer Gruppe Bärtiger heraus, genügt mir. Nachts 1 km nach Hause von der Dicso2 oder dem Klatsch in die Schwetzingerstadt – nur per Frauennachttaxi oder mit der XXL-Dose Pfefferspray in der Hand. Freitag abend zum Burgerking am Plankenkopf – unmöglich. Ins Queere Zentrum gehe ich mittlerweile nicht mehr, der Heimweg durch „Istanbul“ ist lebensgefährlich geworden im Lauf der letzten 15 Monate. Es sind – in meiner Erfahrung – die 15-25 jährigen, die, in Gruppen sich gegenseitig bestärkend, extrem gegen queere Menschen jeder Art agitieren und vor Gewalt nicht mehr zurückschrecken. Das hat ausschliesslich nur mit dem Islam zu tun – von Buddhisten, Hindus, Pastafaris habe ich derlei sozialisierte Gewalt noch nie erlebt – komisch, oder?