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„Schuld und Sühne“: Das liebende Handeln steht über der Idee, die logisch ist

Ausgabe 327

Foto: Wassily Perow, Wikimedia Commons

(iz). Für dieses Jahr hatte ich mir vorgenommen, vier Romanklassiker von Dostojewski in dieser Reihenfolgen zu lesen: „Notizen aus dem Untergrund“, „Schuld und Sühne“, „Die Brüder Karamasow“ und „Die Dämonen“. Auch wenn ich schon über „Notizen aus dem Untergrund“ geschrieben habe, ist es wichtig, kurz darauf zurückzugreifen, weil es tief mit dem hier behandelten Titel verbunden ist.

Dieses Buch folgt einem pensionierten Beamten, der seine Zeit daheim mit dem Schreiben von Notizen verbringt. Darin hält der Mann des Untergrunds seine Überzeugungen fest, die aus Westeuropa stammten und welche die Faszination der russischen Jugend fesselten: Idealismus, Rationalismus, Empirizismus, Materialismus, Utilitarismus, Positivismus, Sozialismus und – allem zugrundeliegend – Atheismus.

Er ist in der Lage, über diese abstrakten Ideen zu sprechen. Jedoch komplett unfähig, wenn es um den Bereich des Handelns geht. Er agiert untauglich, wenn er mit seinen Kollegen und Freunden zu tun hat. Als er einer jungen Frau verspricht, ihr zu helfen, macht sich seine Inkompetenz bemerkbar. Denn er lässt sie in einer schlimmeren Situation zurück als vor ihrer Bekanntschaft.

In „Schuld und Sühne“ taucht dieser Archetyp (der Intellektuelle) erneut auf, wie auch in folgenden Werken Dostojewskis. Er taucht als junger Universitätsstudent namens Rodion Raskolnikow wieder auf. Er ist hochintelligent, aber vom Pech verfolgt, da er wegen Geldmangels sein Studium nicht fortsetzen kann und hungern muss. Er nutzt seinen Verstand für einen Plan: Wenn er zur örtlichen Pfandleiherin geht, sie tötet, ihr das Geld abnimmt und es zur Finanzierung seines Studiums verwendet, würde sich seine Handlung positiv auf die Gesellschaft auswirken.

Nach der schrecklichen Tat bereut Raskolnikow sie entgegen seiner Ansicht vom „erlaubten Mord“. Er entdeckt, dass der Bereich des Handelns ganz anders als Worte ist. Ähnlich wie Sidi Ali Al-Dschamal aus Fes sagte, hat die Handlung auch bei Dostojewski Vorrecht vor dem Wissen. In einer Verfassung der Verwirrung irrt er unter St. Petersburgs Armen umher, die schrecklich leiden. Dies ist ein Spiegelbild seines Zustandes, denn St. Petersburg war eine große Metropole, die in der Theorie alle großen Dinge der Zivilisation vorantrieb, aber in der Praxis kamen die Massen kaum über die Runden. Dies ist einer von vielen Hinweisen Dostojewskis, dass das Land bald auf eine Revolution zusteuern könnte.

Auf seinen Wanderungen unter den Elenden der Hauptstadt trifft Raskolnikow eine Prostituierte namens Sonia und ist ihr augenblicklich zugeneigt. Der Grund dafür ist, dass sie wie der Mörder die moralischen Grenzen ihrer Gesellschaft überschritten hat. Obwohl sich die beiden ähnlich sind, besteht zwischen ihnen ein großer Unterschied.

Rodion Raskolnikow ermordete die alte Pfandleiherin für sich als Individuum. Sonia prostituiert sich, um ihre verzweifelt arme Familie zu unterstützen. Er hat aus reinem Rationalismus gehandelt, der im Willen zur Macht wurzelt, während Sonia aus purer Liebe handelt, die im Glauben an Gott begründet ist. Hier zeigt Dostojewski, dass Sonias Weg des Irrationalen, derjenige  ist, der nach vorne führt. Nachdem Raskolnikow Sonia begegnet, verliebt er sich in sie aus genau diesem Grund. Durch diese Liebe kann er sich schließlich verändern.

„Schuld und Sühne“ ist in seiner Bedeutung nicht nur auf Europa beschränkt, sondern hat eine universale Anziehungskraft. Ein Beispiel wäre der Völkermord in Ruanda 1994, der durch anthropologische Ideen der Kolonisatoren von der Überlegenheit eines Volkes über ein anderes ausging. Nach dem Genozid konnten beide Seiten nur deshalb weitermachen, weil sie die irrationale Praxis der Versöhnung vollzogen. Das Gleiche könnte man über die irrationale Lösung Südafrikas im Umgang mit seiner schwierigen Apartheid-Vergangenheit sagen: die Wahrheits- und Versöhnungskommission.

Selbst in unserem persönlichen Leben und der familiären Zonen wurden uns Ideen über Beziehungen von Mann und Frau vermittelt: ob Gleichheit von beiden, eine Überlegenheit des Mannes über die Frau oder gar die Vorstellung, dass Gender absurd sei. Alle drei Standpunkte bieten ihre jeweils eigene überzeugende Dialektik an, wie Männer und Frauen in Beziehung treten sollten. Wenn wir diese Ideen jedoch für bare Münze nehmen, können wir in diesem Bereich eine Katastrophe heraufbeschwören.

In allen Bereichen, in denen sich der Einzelne wiederfindet – das Schicksal, das politische Klima, unsere Familie, unsere Ehen, unsere eigenen Leidenschaften, – können wir ihnen mit Hilfe des Rationalen einen Sinn geben. Doch das hat seine Grenzen. Nur wenn wir uns auf die Ganzheit der Liebe einlassen, können wir über sie hinausgehen. Dann wird das Leben an die Stelle der Dialektik treten. Gemäß Sufismus wird Freiheit durch ihr Gegenteil erlangt: Unterwerfung unter den Absoluten.